17. Kapitel | Inhalt | 19. Kapitel

August Bebel - "Die Frau und der Sozialismus" - 62. Auflage, Berlin/DDR, 1973, S. 378-388.

1. Korrektur.
Erstellt am 31.1.1999.

Achtzehntes Kapitel
Krisen und Konkurrenz

1. Ursachen und Wirkungen der Krisen

|379| Die Krise entsteht, weil kein Maßstab vorhanden ist, an dem sich das wirkliche Bedürfnis nach einer Ware jederzeit messen und übersehen läßt. Es gibt in der bürgerlichen Gesellschaft keine Macht, welche die gesamte Produktion zu regulieren vermag. Einmal ist die Zahl der Abnehmer für eine Ware eine weit zerstreute, und die Kauffähigkeit der Abnehmer, von welchen die Masse des Verbrauchs abhängt, ist von einer Menge von Ursachen beeinflußt, die der einzelne Produzent zu kontrollieren nicht in der Lage ist. Sodann sind neben jedem einzelnen Produzenten viele andere vorhanden, deren Produktionsfähigkeit der einzelne nicht kennt. Jeder bemüht sich nun mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln - durch billigeren Preis, Reklame, Gewährung langer Kredite, Sendung von Reisenden und selbst durch versteckte und hinterlistige Herabsetzung der Produkte seiner Konkurrenten, ein Mittel, das namentlich in kritischer Zeit floriert -, alle seine Konkurrenten aus dem Felde zu schlagen. Die gesamte Produktion ist also auf das subjektive Ermessen des einzelnen angewiesen. Jeder Unternehmer muß ein bestimmtes Quantum Ware absetzen, damit er bestehen kann; er will aber ein weit größeres Quantum verkaufen, davon hängt nicht nur sein größeres Einkommen ab, davon hängt auch die Wahrscheinlichkeit ab, über seine Konkurrenten zu triumphieren und für sich das Feld zu behaupten. Eine Weile ist der Absatz gesichert, sogar gesteigert; dieses verleitet zu größerer Ausdehnung der Unternehmen und zu massenweiserer Produktion. Die günstigeren Zeitverhältnisse verleiten aber nicht nur einen, sondern alle Unternehmer zu gleichen Anstrengungen. Die Produktion steigt weit über den Bedarf. Plötzlich stellt sich Überfüllung des Marktee mit Waren heraus. Der Absatz stockt, die Preise fallen, die Produktion wird eingeschränkt. Einschränkung der Produktion in einem Zweige |380| bedingt Verminderung der Arbeiter, Erniedrigung der Arbeitslöhne, Einschränkung der Konsumtion seitens der Betroffenen. Eine Stockung der Produktion und des Absatzes in anderen Zweigen ist die notwendige Folge. Kleinhandwerker aller Art, Händler, Wirte, Bäcker, Fleischer usw., deren Kunden hauptsächlich die Arbeiter sind, verlieren den lohnenden Absatz für ihre Waren und geraten ebenfalls in Not.

Wie eine solche Krise wirkt, zeigte die Statistik der Arbeitslosen, die Ende Januar 1902 die Berliner Gewerkschaften vornahmen. Es wurden in Berlin und Vororten über 70.000 gänzlich Arbeitslose und an 60.000 teilweise Arbeitslose gezählt. Am 13. Februar 1909 haben die Berliner Gewerkschaften eine neue Arbeitslosenzählung veranstaltet, die 106.722 (92.655 Männer und, 14.067 Frauen) Arbeitslose ergab.(1) In England wurden im September 1908 750.000 Arbeitslose gezählt. Das sind Arbeiter, die arbeiten wollten, aber in dieser besten aller Welten keine Arbeit fanden. Man kann sich die traurigen sozialen Verhältnisse dieser Menschen vorstellen!

Nun liefert eine Industrie der anderen ihr Rohmaterial, eine hängt von der anderen ab, folglich muß eine unter den Schlägen der anderen leiden und büßen. Der Kreis der Beteiligten und Betroffenen erweitert sich. Eine Menge Verpflichtungen, die in der Hoffnung auf eine längere Dauer des bestehenden Zustandes eingegangen wurden, können nicht erfüllt werden und steigern die Krise, die von Monat zu Monat gewaltiger wird. Eine Masse aufgespeicherter Waren, Werkzeuge, Maschinen wird nahezu wertlos. Die Waren werden vielfach zu Schleuderpreisen losgeschlagen. Diese Verschleuderung ruiniert oft nicht nur die Besitzer dieser Waren, sondern auch Dutzende andere, die durch diese Verschleuderung nun ihrerseits gezwungen werden, ihre Waren ebenfalls unter dem Kostenpreis herzugeben. Aber auch während der Krise werden die Produktionsmethoden beständig verbessert, in der Absicht, der gesteigerten Konkurrenz zu begegnen; dieses Mittel birgt aber wieder die Ursache zu neuen Krisen in sich. Nachdem die Krise jahrelang dauerte, die Überproduktion durch Verschleuderung der Produkte, Einschränkung der Produktion und Vernichtung kleinerer Unternehmer allmählich beseitigt ist, fängt die Gesellschaft an, sich wieder langsam zu erholen. Der Bedarf steigt, damit aber |381| auch sofort die Produktion. Anfangs langsam und vorsichtig, doch mit der Dauer des günstigeren Zustandes beginnt das alte Treiben bald von neuem. Man will wieder einholen, was man verlor, und hofft sich zu bergen, bevor eine neue Krise hereinbricht. Aber da alle Unternehmer denselben Gedanken hegen, jeder die Produktionsmittel verbessert, um dem anderen "über" zu kommen, so wird die Katastrophe aufs neue in beschleunigterer Weise hervorgerufen, mit noch verhängnisvollerer Wirkung. Zahllose Existenzen werden wie Fangbälle in die Höhe geworfen und sinken, und aus dieser beständigen Wechselwirkung entsteht jener schauderhafte Zustand, den wir in jeder Krise erleben. Die Krisen häufen sich in dem Maße, wie die Massenproduktion und der Konkurrenzkampf nicht bloß zwischen den einzelnen, sondern zwischen ganzen Nationen sich steigert. Der Kampf um die Kundschaft im kleinen und die Absatzgebiete im großen wird immer heftiger und endet schließlich mit enormen Verlusten. Waren und Vorräte sind dabei in ungeheuren Mengen aufgestapelt, aber die Masse der Menschen, die konsumieren möchte, aber nicht kaufen kann, leidet Hunger und Not.

Die Jahre 1901 und 1907/08 haben die Richtigkeit der gegebenen Darstellung wieder einmal erwiesen. Nach Jahren geschäftlicher Depression, während der aber die großkapitalistische Entwicklung unausgesetzt Fortschritte machte, begann die aufsteigende Bewegung, nicht wenig stimuliert durch die Umwandlungen und Neuanschaffungen, die Militär- und Marinewesen erforderten. Während dieser Periode begannen eine Unzahl neuer gewerblicher Unternehmungen der verschiedensten Art aus dem Boden zu wachsen, eine große Anzahl anderer wurde vergrößert und erweitert, um sie auf diejenige Höhe zu bringen, die der Stand der Technik erlaubte, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. In demselben Maße wuchs aber auch die Zahl der Unternehmungen, die aus den Händen einzelnen Kapitalisten in den Besitz von kapitalistischen Genossenschaften (Aktiengesellschaften) übergingen, eine Umwandlung, mit der stets eine mehr oder weniger bedeutende Vergrößerung des Betriebs verbunden ist. Es sind viele Tausende von Millionen Mark, welche die neugegründeten Aktiengesellschaften repräsentieren. Andrerseits sind die Kapitalisten aller Länder bestrebt, nationale und internationale Vereinbarungen zu gründen. Kartelle, Ringe, Trusts schießen wie Pilze aus dem Boden, durch welche die Preise festgesetzt und die Produktion auf Grund |382| genauer statistischer Aufnahmen reguliert werden soll, um die Überproduktion und den Preisdruck zu vermeiden. Es ist eine großartige Monopolisierung ganzer Industriezweige eingetreten, zum Vorteil der Unternehmer und auf Kosten der Arbeiter und der Konsumenten, wie sie ähnlich nie dagewesen ist. Viele glaubten, das Kapital sei dadurch in den Besitz des Mittels gelangt, das ihm die Beherrschung des Marktes nach allen Seiten ermögliche, zum Schaden des Publikums und zum Nutzen für sich. Aber der äußere Schein täuscht. Die Gesetze der kapitalistischen Produktion erweisen sich stets stärker als die pfiffigsten Vertreter des Systems, die seine Regulierung in Händen zu haben glaubten. Die Krise kam trotzdem, und es zeigte sich einmal wieder, daß die klügsten Berechnungen sich als Täuschung erweisen und die bürgerliche Gesellschaft ihrem Schicksal nicht entgeht.

Aber der Kapitalismus arbeitet in der gleichen Richtung weiter, denn er kann nicht aus seiner Haut. Durch die Art, wie er tätig sein muß, wirft er alle Gesetze der bürgerlichen Ökonomie über den Haufen. Die freie Konkurrenz - das A und O der bürgerlichen Gesellschaft - soll die Tüchtigsten an die Spitze der Unternehmungen bringen. Die Erfahrung zeigt aber, daß sie in der Regel nur die Gewissenlosesten und Geriebensten an die Spitze bringt. Auch hebt die Aktiengesellschaft alle Individualität auf. Das Kartell, der Trust, der Ring gehen noch weiter, nicht nur der einzelne Unternehmer verschwindet als selbständige Person, auch die Aktiengesellschaft wird dienendes Glied in einer Kette, die ein Kapitalistenausschuß in der Hand hat, dessen Aufgabe es ist, das Publikum zu pressen und zu plündern. Eine Handvoll Monopolisten wirft sich zum Herrn der Gesellschaft auf, diese diktieren ihr die Preise für die Waren und den Arbeitern die Lohn- und Lebensbedingungen.

Diese Entwicklung zeigt, wie überflüssig der Privatunternehmer geworden ist und daß die auf nationaler und internationaler Stufe geleitete Produktion das Ziel ist, auf das die Gesellschaft steuert. Nur mit dem Unterschied, daß schließlich die organisierte Produktion und Distribution (Verteilung) nicht wie heute der Kapitalistenklasse, sondern der Gesamtheit zustatten kommen soll.

Die geschilderte wirtschaftliche Revolution, welche die bürgerliche Gesellschaft mit rapider Eile dem Höhepunkt ihrer Entwicklung zutreibt, wird durch immer neue gewichtige Vorgänge verschärft. Wird Europa mit jedem Jahre mehr in seinen Absatzmärkten und schließlich |383| in seinem eigensten Gebiet durch die rasch wachsende nordamerikanische Konkurrenz bedroht, so erheben sich auch Feinde im Osten, welche die wirtschaftliche Lage der Welt mit der Zeit noch kritischer gestalten.

Die Konkurrenz jagt den Kapitalisten, wie das Kommunistische Manifest es ausdrückt, über die ganze Erdkugel. Er späht nach immer neuen Absatzgebieten, das heißt nach Ländern mit Völkern, bei denen er seine Waren absetzen und neue Bedürfnisse hervorrufen kann. Der Eifer, mit dem in den letzten Jahrzehnten die verschiedenen Staaten nach Kolonien trachteten, insbesondere auch Deutschland, dem es zwar gelang, große Landgebiete zu okkupieren, aber bewohnt von Völkerschaften auf primitivster Kulturstufe, die kein nennenswertes Bedürfnis nach europäischen Waren haben, zeigt die eine Seite dieses Strebens. Die andere geht darauf hinaus, moderne kapitalistische Kultur zu Völkern zu tragen, die bereits auf einer höheren Kulturstufe stehen, aber sich bisher dem Eingang moderner Entwicklung bei sich mehr oder weniger schroff entgegenstellten. So Inder, Japaner und vor allem die Chinesen. Es handelt sich hier um Länder, die mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Erde umfassen, aber auch um solche - wie das die Japaner bereits im Kriege gegen Rußland zeigten -, die, sobald erst einmal bei ihnen die Anregung und das Beispiel gegeben sind, selbst imstande sind, bei sich die kapitalistische Wirtschaftsweise zu entwickeln, und zwar unter Bedingungen, die für die vorgeschrittenen Völker von verhängnisvollen Folgen begleitet sein werden. Die Leistungsfähigkeit der genannten Völker steht außer Zweifel, ebenso aber auch ihre Bedürfnislosigkeit - die vor allem das Klima begünstigt - und das Geschick, mit dem sie, wenn dazu gezwungen, neuen Verhältnissen sich anzupassen wissen. Hier entsteht der alten Welt, die Vereinigten Staaten eingeschlossen, ein wirtschaftlicher Konkurrent, der den Nachweis für die Unhaltbarkeit kapitalistischer Wirtschaftsweise auf dem ganzen Erdenrund beibringen wird.

Einstweilen suchen die verschiedenen konkurrierenden Nationen - in erster Linie die Vereinigten Staaten, England und Deutschland - sich den Rang abzulaufen, und alle Mittel werden angewandt, sich ein möglichst großes Stück der Weltherrschaft zu sichern. Der Kampf um die Herrschaft auf dem Weltmarkt führt zur Weltpolitik, zur Einmischung in alle wichtigen internationalen Vorgänge, und um mit Erfolg hier eingreifen zu können, erlangen insbesondere die mariti- |384| men Rüstungen einen vordem nicht gekannten Umfang, wodurch aber auch aufs neue die Gefahr großer politischer Katastrophen hervorgerufen wird.

So wächst mit dem Umfang des wirtschaftlichen Konkurrenzgebiets auch das politische. Die Widersprüche wachsen auf internationaler Stufenleiter und rufen in allen kapitalistisch entwickelten Staaten die gleichen Erscheinungen und die gleichen Kämpfe hervor. Und nicht allein ist es die Form, in der erzeugt wird, sondern auch die Art, wie das Erzeugte verteilt wird, was diese heillosen Zustände herbeiführt.

2. Der Zwischenhandel und die Verteuerung der Lebensmittel

In der menschlichen Gesellschaft sind alle Individuen mit tausend Fäden aneinander gekettet, um so vielfältiger, je höher der Kulturgrad eines Volkes ist. Treten Störungen ein, so machen diese sich allen Gliedern fühlbar. Störungen in der Produktion wirken auf die Distribution und die Konsumtion ein und umgekehrt.

Das charakteristische Merkmal der kapitalistischen Produktion ist die Konzentrierung der Produktionsmittel in immer größeren Produktionsstätten. In der Distribution macht sich ein entgegengesetzter Zug bemerkbar. Wer durch die vernichtende Konkurrenz als Produzent aus der Reihe der selbständigen Existenzen gestrichen wird, sucht in neun Fällen von zehn sich als Händler zwischen Produzent und Konsument zu drängen, um seine Existenz zu fristen.(2)

Daher die auffällige Zunahme der Zwischenpersonen, der Händler, |385| Krämer, Höker, Geschäftsvermittler, Makler, Agenten, Wirte usw., wie oben statistisch festgestellt wurde. Die meisten dieser Personen, unter welchen die Frauen als selbständige Geschäftsinhaber besonders stark vertreten sind, führen meist ein sorgenvolles Leben und eine kümmerliche Existenz. Viele sind, um sich zu halten, gezwungen, auf die niedrigsten Leidenschaften ihrer Mitmenschen zu spekulieren und ihnen Vorschub zu leisten. Daher die Überhandnahme der Reklame, namentlich in allem, was auf die Befriedigung der Genußsucht gerichtet ist.

Nun läßt sich nicht bestreiten, und von einem höheren Gesichtspunkt betrachtet ist es sehr erfreulich, daß in der modernen Gesellschaft der Drang nach Lebensgenuß sich bemerkbar macht. Die Menschen fangen an zu begreifen, daß, um Mensch zu sein, man menschenwürdig leben müsse, und sie suchen dieses Bedürfnis in Formen zu befriedigen, die ihrem Begriff von Lebensgenuß entsprechen. In ihrer Reichtumsgestaltung ist aber die Gesellschaft viel aristokratischer geworden als in jeder früheren Periode. Zwischen den Reichsten und den Ärmsten ist heute der Abstand größer als je, dagegen ist die Gesellschaft in ihren Ideen und Gesetzen demokratischer geworden.(3) Die Masse verlangt nach größerer Gleichheit, und sie sucht selbst im Verkehrten die Gleichheit, da sie in ihrer Unwissenheit die Wege für die Verwirklichung einer solchen noch nicht kennt, darin, daß sie es den Höherstehenden gleichzutun versucht und jeden erreichbaren Genuß sich verschafft. Alle möglichen Anreizungsmittel müssen dazu dienen, diesen Trieb auszubeuten, und die Folgen sind vielfach bedenkliche. Ein an sich berechtigtes Streben führt in einer Menge Fälle auf Abwege, selbst zum Verbrechen, und die Gesellschaft schreitet in ihrer Weise dagegen ein, ohne das geringste damit zu ändern.

Die zunehmende Menge der Mittelspersonen hat viele Übelstände im Gefolge. Obgleich die Betreffenden meist sich schwer abmühen und in Sorgen arbeiten, sind sie in ihrer Mehrzahl eine Klasse von |386| Parasiten, die unproduktiv tätig ist und ebenso von dem Arbeitsprodukt anderer lebt wie die Unternehmerklasse. Verteuerung der Lebensbedürfnisse ist die unumgängliche Folge des Zwischenhandels. Diese werden in einer Weise verteuert, daß sie oft den doppelten und mehrfachen Preis dessen kosten, was der Erzeuger dafür erhält.(4) Ist aber eine wesentliche Verteuerung der Waren nicht rätlich und nicht möglich, weil dann eine Einschränkung des Verbrauchs eintritt, so werden sie künstlich verschlechtert, man greift zur Verfälschung der Lebensmittel und zu falschem Maß und Gewicht, um den sonst nicht erlangbaren Gewinn zu erhalten. Der Chemiker Chevalier berichtet, daß er unter den verschiedenen Arten von Fälschungen bei Lebensmitteln für Kaffee 32, Wein 30, Schokolade 28, Mehl 24, Branntwein 23, Brot 20, Milch 19, Butter 10, Olivenöl 9, Zucker 6 usw. kenne. Ein Hauptbetrug wird mit dem Verkauf fertig abgewogener Waren in den Kramläden vorgenommen; man liefert oft für ein Kilo nur 900 oder 950 Gramm und sucht so doppelt einzubringen, was man am Preise nachläßt. Am schlimmsten sind Arbeiter und kleine Leute daran, die ihre Waren auf Kredit entnehmen und darum schweigen müssen, auch wo sie den Betrug vor Augen sehen. Großer Mißbrauch mit falschem Gewicht kommt auch im Backwarenverkauf vor. Sehwindel und Betrug sind eben unausbleiblich mit unseren sozialen Zuständen ver- |387| knüpft, und gewisse Staatseinrichtungen, zum Beispiel hohe indirekte Steuern und Zölle, fördern Schwindel und Betrug. Die Gesetze gegen Lebensmittelverfälschungen richten dagegen wenig aus. Der Kampf um die Existenz nötigt die Betrüger, immer raffiniertere Mittel anzuwenden, und eine gründliche und strenge Kontrolle ist sehr selten vorhanden. Auch wird unter dem Vorwand, daß, um Fälschungen zu entdecken, ein umfassender und teurer Verwaltungsapparat notwendig sei - was richtig ist -, worunter auch "das legitime Geschäft leide", jede ernste Kontrolle lahmgelegt. Greifen aber Kontrollmaßregeln wirksam ein, so bewirken sie eine erhebliche Preissteigerung, weil der niedrigere Preis nur durch Fälschung der Ware möglich war.

Um diesen Übelständen im Handel abzuhelfen, unter denen immer und überall die Masse am härtesten leidet, ist man zur Errichtung von Konsumvereinen geschritten. Insbesondere hat in Deutschland das Konsumvereinswesen für Militärpersonen und Beamte eine Bedeutung erlangt, daß zahlreiche Handelsgeschäfte dadurch zugrunde gerichtet wurden. Aber auch die Arbeiterkonsumvereine haben im letzten Jahrzehnt eine großartige Entwicklung erfahren und sind zum Teil auch zur Selbsterzeugung gewisser Verbrauchsgegenstände übergegangen. Die Konsumvereine in Hamburg, Leipzig, Dresden, Stuttgart, Breslau, Wien usw. sind mustergültige Einrichtungen geworden, und der Jahresumsatz der deutschen Konsumvereine beläuft sich auf Hunderte von Millionen Mark. Seit einigen Jahren besteht auch in Hamburg für die deutschen Arbeiterkonsumvereine eine Einkaufszentrale, die die Waren im größten Maßstab ankauft und damit ihre billigste Lieferung an die Einzelvereine ermöglicht. Diese Vereine beweisen also die Überflüssigkeit des zersplitterten Zwischenhandels. Das ist der größte Vorteil, den sie haben, neben dem, daß sie reelle Waren liefern. Die materiellen Vorteile für ihre Mitglieder sind nicht sehr bedeutend, auch genügen die Erleichterungen, die sie bieten, nicht, um denselben eine wesentliche Verbesserung ihrer Lebenslage zu verschaffen. Die Gründung von Konsumvereinen ist aber ein Symptom, daß man in den weitesten Kreisen die Überflüssigkeit des Zwischenhandels erkannt hat. Die Gesellschaft wird schließlich zu einer Organisation gelangen, durch die der Handel überflüssig wird, indem die Produkte ohne andere Zwischenpersonen als diejenigen, die der Transport von einem Ort zum anderen und die Verteilung erfordern und im Dienste der |388| Gesellschaft stehen, in den Besitz der Konsumenten gelangen. Nach dem gemeinsamen Bezug der Lebensmittel liegt allerdings weiter die Forderung nahe, auch eine gemeinsame, im großartigsten Maßstab auszuführende Fertigstellung für den Tisch zu erlangen, was abermals eine gewaltige Ersparnis an Kräften, Raum, Material und Aufwendungen aller Art herbeiführen würde.


Fußnoten von August Bebel

(1) Die Arbeitslosigkeit und die Arbeitslosenzählung im Winter 1908/09. Berlin 1909, Verlag Buchhandlung Vorwärts. <=

(2) "Der Rückgang des alten Handwerkes ist nicht die alleinige Ursache der unverhältnismäßigen Zunahme des kleinen Detailhandelsbetriebs. Die fortschreitende Industrialisierung und Kommerzialisierung des Landes schafft trotz ihrer Tendenz zum Großbetrieb zunächst immer wieder Boden für kleine Geschäfte. Ebenso sind Erfindungen, die neue Industriezweige schaffen, auch die Ursache, daß für den Absatz dieser Produkte auch neue Kleinbetriebe erstehen. Vor allem aber erklärt sich die starke Zunahme der Detailhandelsbetriebe daraus, daß - wie die Handels- und Gewerbekammer zu Dresden in einem der sächsischen Regierung erstatteten Gutachten (S. 18 der Broschüre 'Konsumgenossenschaften und Mittelstandspolitiker') ausführt -, der Kleinhandel das große Sammelbecken geworden ist für zahlreiche Personen, die daran verzweifeln, auf anderem Wege ihr Auskommen zu finden." Lange, Paul: Detailhandel und Mittelstandspolitik / Paul Lange. - [Electronic ed.]. In: Die neue Zeit : Wochenschrift der deutschen Sozialdemokratie. - 25.1906-1907, 2. Bd.(1907), H. 47, S. 693 - 702 Electronic ed.: Bonn : FES Library, 2008, Das Zitat auf S. 695. Fortsetzung des Artikels in den Heften 48 und 49. <=

(3) Professor Adolf Wagner spricht in der ersten Bearbeitung von Raus "Lehrbuch der politischen Ökonomie" einen ähnlichen Gedanken aus. Er sagt S. 361: "Die soziale Frage ist der zum Bewußtsein gekommene Widerspruch der volkswirtschaftlichen Entwicklung mit dem als Ideal vorschwebenden und im politischen Leben sich verwirklichenden gesellschaftlichen Entwicklungsprinzip der Freiheit und Gleichheit." <=

(4) So teilt Dr. E. Sax in seiner Schrift "Die Hausindustrie in Thüringen" unter anderem mit, daß im Jahre 1869 die Produktion von 2441/2 Millioaen Griffeln 122.000 bis 200.000 Gulden Arbeitslohn für die Arbeiter abgeworfen hatte, der Verkaufspreis steigerte sich aber in letzter Hand auf 1.200.000 Gulden, er betrug mindestens das Sechsfache dessen, was der Produzent erhielt. Im Sommer 1888 wurden für fünf Zentner Schellfische aus erster Hand 5 Mark bezahlt. Der Detailhändler bezahlte dem Großhändler 15 und das Publikum dem letzteren 125 Mark. Auch werden Massen von Lebensmitteln vernichtet, weil die Preise nicht die Transportkosten lohnen. So zum Beispiel werden in Jahren eines überreichlichen Heringsfanges ganze Bootsladungen als Dünger verwendet, während im Binnenland viele Tausende Menschen existieren, die keine Heringe kaufen können. Ähnliches passierte im Jahre 1892 in Kalifornien bei einer überreichen Kartoffelernte. Als im Jahre 1901 die Zuckerpreise tief gesunken waren, machte ein Fachblatt ernsthaft den Vorschlag, einen größeren Teil der Vorräte unter Wasser zu setzen und zu vernichten, um die Preise zu heben. Bekannt ist auch, daß Charles Fourier zu seinem sozietären Gesellschaftssystem angeregt wurde, weil er als Lehrling in einem kaufmännischen Geschäft in Toulon den Auftrag erhielt, eine Schiffsladung Reis ins Meer zu versenken, damit die Preise stiegen. Er sagte sich, eine Gesellschaft, die zu solch barbarischen und widersinnigen Maßregeln greift, muß eine falsche Grundlage haben, und so wurde er Sozialist. <=