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August Bebel - "Die Frau und der Sozialismus" - 62. Auflage, Berlin/DDR, 1973, S. 407-413.

1. Korrektur.
Erstellt am 31.1.1999.

Vierter Abschnitt
Die Sozialisierung der Gesellschaft

Zwanzigstes Kapitel
Die soziale Revolution

1. Die Umgestaltung der Gesellschaft

|407| Die Flut steigt und unterspült das Fundament, auf dem unser Staats- und Gesellschaftsbau ruht. Alle Welt fühlt, daß die Fundamente wanken und nur noch kräftige Stützen retten können. Aber das erfordert große Opfer, welche die herrschenden Klassen bringen müßten. Da liegt aber das Hindernis. Jeder Vorschlag, dessen Verwirklichung ernsthaft die materiellen Interessen der herrschenden Klassen schädigt und ihre bevorrechtete Stellung in Frage zu stellen droht, wird von ihnen grimmig bekämpft und als eine auf den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebung gebrandmarkt. Die kranke Welt ist aber nicht zu kurieren, ohne daß die Privilegien und Vorrechte der herrschenden Klassen in Frage gestellt und schließlich beseitigt werden.

"Der Kampf um die Befreiung der arbeitenden Klassen ist kein Kampf um Vorrechte, sondern ein Kampf um gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Beseitigung aller Vorrechte", heißt es im sozialdemokratischen Programm. Daraus ergibt sich, daß mit halben Maßregeln und kleinen Konzessionen nichts getan ist.

Die herrschenden Klassen betrachten aber ihre bevorrechtete Stellung als eine durchaus naturgemäße und selbstverständliche, an deren Berechtigung und Fortbestand man nicht zweifeln dürfe, und so ist es wieder selbstverständlich, daß sie jeden Versuch, ihre Vorrechtstellung zu erschüttern, zurückweisen und bekämpfen. Selbst Vorschläge und Gesetze, die weder an den Grundlagen der bestehenden Gesellschaftsordnung noch an ihrer Vorrechtstellung etwas ändern, bringen sie in die größte Aufregung, sobald nur ihr Geldbeutel in Anspruch genommen wird oder in Anspruch genommen werden könnte. In den Parlamenten werden ganze Berge Papier mit Reden bedruckt, bis endlich der kreißende Berg ein Mäuslein gebiert. Den selbstverständlich- |408| sten Forderungen des Arbeitsschutzes begegnet man mit einem Widerstand, als hinge davon die Existenz der Gesellschaft ab. Und werden nach unendlichen Kämpfen ihnen einige Konzessionen abgerungen, dann gebärden sie sich, als hätten sie einen großen Teil ihres Vermögens geopfert. Denselben hartnäckigen Widerstand zeigen sie, handelt es sich darum, die unterdrückten Klassen als formell gleichberechtigt anzuerkennen und, zum Beispiel in Fragen des Arbeitsvertrags, als Gleichberechtigte mit ihnen zu verhandeln.

Dieser Widerstand bei den einfachsten Dingen und den selbstverständlichsten Forderungen bestätigt den alten Erfahrungssatz, daß keine herrschende Klasse durch Gründe zu überzeugen ist, wenn sie nicht die Gewalt der Umstände zur Einsicht und zur Nachgiebigkeit zwingt. Die Gewalt der Umstände liegt aber in dem steigenden Maße von Einsicht, das bei den Unterdrückten durch die Entwicklung unserer Verhältnisse erzeugt wird. Die Klassengegensätze werden immer schärfer, sichtbarer und fühlbarer. Es kommt den unterdrückten und ausgebeuteten Klassen die Erkenntnis von der Unhaltbarkeit des Bestehenden; ihre Empörung wächst und mit ihr das gebieterische Verlangen nach Umgestaltung und Vermenschlichung der Zustände. Indem diese Erkenntnis immer weitere Kreise ergreift, erobert sie schließlich die ungeheuere Mehrheit der Gesellschaft, die bei dieser Umgestaltung auf das direkteste interessiert ist. In demselben Maße aber, wie bei der Masse die Einsicht von der Unhaltbarkeit des Bestehenden und die Erkenntnis von der Notwendigkeit seiner Umgestaltung von Grund aus steigt, sinkt die Widerstandsfähigkeit der herrschenden Klasse, deren Macht auf der Unwissenheit und Einsichtslosigkeit der unterdrückten und ausgebeuteten Massen beruht. Diese Wechselwirkung ist evident, und daher muß alles, was sie fördert, willkommen sein. Den großkapitalistischen Fortschritten auf der einen Seite hält die zunehmende Erkenntnis von dem Widerspruch, in dem sich die bestehende Gesellschaftsordnung mit dem Wohle der ungeheuren Volksmehrheit befindet, die Waage. Kostet auch die Lösung und Aufhebung der gesellschaftlichen Gegensätze große Opfer und viele Anstrengungen, die Lösung wird gefunden, sobald die Gegensätze den Höhepunkt ihrer Entwicklung erreicht haben, dem sie rapid zueilen.

Die Maßregeln, die in den einzelnen Entwicklungsphasen zu ergreifen sind, hängen von den jeweiligen Umständen ab. Es ist unmög- |409| lich, vorauszusagen, welche Maßregeln die Umstände im Einzelfall notwendig machen werden. Keine Regierung, kein Minister, und sei es der mächtigste, weiß im voraus, was im nächsten Jahre die Umstände ihn nötigen zu tun. Das kann erst recht nicht gesagt werden von Maßregeln, die von Umständen beeinflußt werden, deren Eintritt sich der sicheren Berechnung und Voraussage entzieht. Die Frage nach den Mitteln ist die Frage nach der Taktik in einem Kampfe. Die Taktik richtet sich aber nach dem Gegner und weiter nach den Hilfsmitteln, die beiden Teilen zu Gebote stehen. Ein Mittel, das heute vorzüglich ist, kann morgen verderblich sein, weil die Umstände, die gestern seine Anwendung rechtfertigten, sich änderten. Mit dem Ziele im Auge, hängen die Mittel zur Erreichung desselben von Zeit und Umständen ab; nötig ist nur, daß man die wirksamsten und einschneidendsten ergreift, die Zeit und Umstände ermöglichen zu ergreifen. Man kann also, läßt man sich auf die Ausmalung von Zukunftsgestaltungen ein, nur hypothetisch verfahren; man muß Voraussetzungen unterstellen, die man als eingetroffen annimmt.

Von diesem Gesichtspunkt ausgehend unterstellen wir, daß in einem gegebenen Zeitpunkt alle geschilderten Übel so auf die Spitze getrieben sind, daß sie der großen Mehrheit der Bevölkerung so sichtbar und fühlbar werden, daß sie ihr unerträglich erscheinen und daß ein allgemeines, unwiderstehliches Verlangen nach gründlicher Umgestaltung sie ergreift, wobei sie die rascheste Hilfe als die zweckmäßigste ansieht.

Alle gesellschaftlichen Übel haben ohne Ausnahme ihre Quelle in der sozialen Ordnung der Dinge, die gegenwärtig, wie gezeigt, auf dem Kapitalismus, auf der kapitalistischen Produktionsweise beruht, kraft deren die Kapitalistenklasse die Eigentümerin aller Arbeitsmittel - Grund und Boden, Gruben und Bergwerke, Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel - ist und dadurch die Ausbeutung und Unterdrückung der großen Volksmehrheit betreibt, was wachsende Unsicherheit der Existenz, des Druckes und der Erniedrigung der ausgebeuteten Klassen im Gefolge hat. Demgemäß wäre also der kürzeste und rascheste Schritt, durch eine allgemeine Expropriation dieses kapitalistische Eigentum in gesellschaftliches Eigentum (Gemeineigentum) zu verwandeln. Die Warenproduktion wird in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion verwandelt. Der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit |410| der gesellschaftlichen Arbeit, bisher eine Quelle des Elends und der Unterdrückung der ausgebeuteten Klassen, werden jetzt zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und der harmonischen Ausbildung aller.

2. Die Expropriation der Expropriateure

Die Umwandlung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum schafft der Gesellschaft die neue Grundlage. Jetzt werden die Lebens- und Arbeitsbedingungen für beide Geschlechter in Industrie, Ackerbau, Verkehr, Erziehung, Ehe, im wissenschaftlichen, künstlerischen und geselligen Leben von Grund aus andere. Die menschliche Existenz erhält einen neuen Inhalt. Allmählich verliert auch die staatliche Organisation ihren Boden, und es verschwindet der Staat; er hebt sich gewissermaßen selbst auf.

Im ersten Abschnitt dieser Schrift wurde gezeigt, warum der Staat entstehen mußte. Er ist das Produkt einer gesellschaftlichen Entwicklung aus der primitiven, auf Kommunismus beruhenden Gesellschaft, die in dem Maße aufgelöst wird, wie sich das Privateigentum entwickelt. Mit dem Aufkommen des Privateigentums entstehen innerhalb der Gesellschaft die antagonistischen Interessen. Es entstehen Standes- und Klassengegensätze, die notwendig zu Klassenkämpfen zwischen den verschiedenen Interessengruppen führen und die neue Ordnung in ihrem Bestand bedrohen. Um aber die Gegner der neuen Ordnung niederhalten zu können und die bedrohten Eigentümer zu schützen, bedarf es einer Organisation, die diesen Angriffen wehrt und den Besitz für "rechtmäßig" erklärt und "heilig" spricht. Diese das Eigentum schüttende und es aufrechthaltende Organisation und Gewalt wird der Staat. Durch Gesetze sichert er dem Eigentümer seinen Besitz und tritt dem Angreifer auf die gesetzlich festgelegte Ordnung als Richter und Rächer gegenüber. Ihrem innersten Wesen nach ist also das Interesse einer herrschenden Eigentümerklasse und das der Staatsgewalt stets konservativ. Die Staatsorganisation ändert sich erst, wenn es das Interesse des Eigentums erfordert. Ist so der Staat die notwendige Organisation einer auf Klassenherrschaft beruhenden Gesellschaftsordnung, so verliert er, sobald die Klassengegensätze durch Aufhebung des Privateigentums gefallen sind, seine Existenznotwendigkeit und Existenzmöglichkeit. Der Staat hört mit der Beseitigung |411| des Herrschaftsverhältnisses allmählich ebenso auf, wie die Religion aufhört, wenn der Glaube an übernatürliche Wesen oder an vernunftbegabte, übersinnliche Kräfte nicht mehr vorhanden ist. Worte müssen einen Inhalt besitzen; verlieren sie diesen, dann hören sie auf, Begriffe zu bilden.

Hier wirft vielleicht ein kapitalistisch gesinnter Leser ein, alles gut und schön, aber mit welchem "Rechtsgrund" will die Gesellschaft diese grundstürzenden Umwandlungen rechtfertigen? Der Rechtsgrund ist derselbe, der immer vorhanden war, wenn es sich um ähnliche Veränderungen und Umgestaltungen handelte, das Gemeinwohl. Die Quelle des Rechts ist nicht der Staat, sondern die Gesellschaft, die Staatsgewalt ist nur der Kommis der Gesellschaft, der das Recht zu verwalten und auszumessen hat. Die herrschende Gesellschaft war bisher immer nur eine kleine Minderheit, diese aber handelte im Namen der ganzen Gesellschaft (des Volkes), indem sie sich als "die Gesellschaft" ausgab, wie Ludwig XIV. sich für den Staat. L'état c’est moi (der Staat bin ich). Wenn unsere Zeitungen schreiben: Die Saison beginnt, die Gesellschaft eilt in die Stadt; oder: Die Saison ist zu Ende, die Gesellschaft eilt aufs Land, meinen sie damit nicht das Volk, sondern die obersten Zehntausend, welche "die Gesellschaft" bilden, wie sie den "Staat" bilden. Die Menge ist Plebs, vile multitude, Canaille, Volk. Dieser Sachlage entsprechend ist alles, was der Staat im Namen der Gesellschaft für das "Gemeinwohl" tut, in erster Linie den herrschenden Klassen nützlich und vorteilhaft gewesen. In ihrem Interesse werden die Gesetze gemacht. "Salus rei publicae suprema lex esto" (das Wohl des Gemeinwesens sei das höchste Gesetz) ist bekanntlich ein altrömischer Rechtsgrundsatz. Wer bildete aber das römische Gemeinwesen? Die unterjochten Völker, die Millionen Sklaven? Nein! Die verhältnismäßig geringe Zahl römischer Bürger, in erster Linie der römische Adel, die sich von den Unterjochten ernähren ließen.

Als im Mittelalter Adel und Fürsten das Gemeingut raubten, taten sie es von "Rechts wegen" im "Interesse des Gemeinwohls", und wie gründlich dabei mit der. Gemeineigentum und dem Eigentum der hilflosen Bauern verfahren wurde, das zeigt die Geschichte des Mittelalters bis in die Neuzeit auf jedem ihrer Blätter. Die Agrargeschichte der letzten tausend Jahre ist eine Geschichte ununterbrochenen Raubes am Gemein- und am Bauerneigentum, der seitens des Adels und der Kirche in allen Kulturstaaten Europas praktiziert wurde. |412| Als dann die große französische Revolution das Adels- und Kirchengut expropriierte, tat sie dies "im Namen des Gemeinwohls", und der größte Teil der acht Millionen Grundeigentümer, welche die Stütze des bürgerlichen Frankreich bilden, verdankt dieser Expropriation seine Existenz. Im Namen des "Gemeinwohls" nahm Spanien mehrfach Kircheneigentum in Beschlag, und Italien konfiszierte es gänzlich, beklatscht von den eifrigsten Verfechtern des "heiligen Eigentums". Der englische Adel hat während Jahrhunderten das irische und englische Volk an seinem Eigentum bestohlen und beschenkte sich selbst "gesetzlich" von 1804 bis 1832 "im Interesse des Gemeinwohls" mit nicht weniger als 3.511.710 Acres Gemeindeland. Und als im großen nordamerikanischen Sklavenbefreiungskrieg Millionen Sklaven für frei erklärt wurden, die wohlerworbenes Eigentum ihrer Herren waren, ohne daß man diese entschädigte, geschah es "im Namen des Gemeinwohls". Unsere ganze bürgerliche Entwicklung ist ein ununterbrochener Expropriations- und Konfiskationsprozeß, bei dem der Fabrikant den Handwerker, der Großgrundbesitzer den Bauern, der Großkaufmann den Händler und schließlich ein Kapitalist den anderen, das heißt der Größere den Kleineren, expropriiert und aufsaugt. Hören wir unsere Bourgeoisie, so geschieht das alles zum Besten des "Gemeinwohls", zum "Nutzen der Gesellschaft".

Die Napoleoniden "retteten" am 18. Brumaire und 2. Dezember die "Gesellschaft", und die "Gesellschaft" beglückwünschte sie; wenn die Gesellschaft sich künftig selbst rettet, indem sie das Eigentum, das sie geschaffen, wieder in ihre Hände nimmt, begeht sie die geschichtlich denkwürdigste Tat, denn sie handelt nicht, um die einen zugunsten der anderen zu unterdrücken, sondern um allen die Gleichheit der Existenzbedingungen zu gewähren und jedem ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Es ist die sittlich großartigste Maßregel, welche die Gesellschaft jemals ausgeführt hat.

In welchen Formen sich dieser große gesellschaftliche Expropriationsprozeß vollziehen wird, und unter welchen Modalitäten, entzieht sich jeder Voraussage. Wer kann wissen, wie dann die Verhältnisse beschaffen sind.

In seinem vierten sozialen Brief an v. Kirchmann, betitelt "Das Kapital" (1), sagt Rodbertus S. 117: "Eine Ablösung alles Grundkapitaleigentums ist keine Schimäre, sondern national-ökonomisch sehr |413| wohl denkbar. Auch wäre sie sicherlich die radikalste Hilfe für die Gesellschaft, die, wie man kurz sagen darf, an dem Wachsen der Rente - Grund- und Kapitalrente - leidet. Sie wäre daher die einzige Form der Aufhebung des Grund- und Kapitaleigentums, die auch nicht auf Augenblicke den Verkehr und den Fortschritt des nationalen Reichtums unterbräche." Was sagen unsere Agrarier zu dieser Ansicht eines ihrer ehemaligen Parteigenossen?

Wie nach einer solchen Maßregel die Dinge sich wahrscheinlich gestalten werden, kann nicht in bindender Weise dargelegt werden. Kein Mensch vermag zu wissen, wie künftige Generationen ihre sozialen Organisationen im einzelnen gestalten und ihre Bedürfnisse am vollkommensten befriedigen können. In der Gesellschaft befindet sich wie in der Natur alles in beständigem Fluß, das eine kommt, das andere vergeht, Altes, Abgestorbenes wird durch Neues, Lebensfähigeres ersetzt. Erfindungen, Entdeckungen und Verbesserungen der zahlreichsten und verschiedensten Art, deren Tragweite und Bedeutung oft niemand voraussehen kann, werden gemacht, sie treten in Wirksamkeit und revolutionieren und umgestalten je nach ihrer Bedeutung die menschliche Lebensweise, die ganze Gesellschaft.

Es kann sich also bei den folgenden Erörterungen nur um Entwicklung allgemeiner Prinzipien handeln, deren Aufstellung sich nach den gemachten Auseinandersetzungen von selbst ergibt und deren Durchführung sich bis zu einem gewissen Grade übersehen läßt. Die Gesellschaft war schon bisher kein Wesen, das sich von einzelnen leiten und lenken ließ, wenn es auch oft so den Anschein hatte - "man glaubt zu schieben und wird geschoben" -, sondern ein Organismus, der nach bestimmten immanenten Gesetzen sich entwickelt; künftig ist jede Lenkung und Leitung nach dem Willen einzelner erst recht ausgeschlossen. Die Gesellschaft ist alsdann eine Demokratie, die hinter das Geheimnis ihres Wesens gekommen ist, sie hat die Gesetze ihrer eigenen Entwicklung entdeckt und wendet diese jetzt zweckbewußt für ihre Weiterentwicklung an.


Fußnoten von August Bebel

(1) Berlin 1884. <=