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August Bebel - "Die Frau und der Sozialismus" - 62. Auflage, Berlin/DDR, 1973, S. 488-498.

1. Korrektur.
Erstellt am 31.1.1999.

Fünfundzwanzigstes Kapitel
Das sozialistische Erziehungswesen

|488| Der verstorbene Abgeordnete Dr. Lasker hielt in den siebziger Jahren in Berlin einen Vortrag, in dem er zu dem Schlusse gelangte, ein gleiches Bildungsniveau für alle Glieder der Gesellschaft sei möglich. Dr. Lasker war aber ein Antisozialist, ein starrer Anhänger des Privateigentums und des Kapitalismus, die Bildungsfrage ist aber heute im eminenten Sinne eine Geldfrage. Unter solchen Verhältnissen ist ein gleiches Bildungsniveau für alle unmöglich. Einzelne können unter verhältnismäßig günstigen Umständen durch Überwindung vieler Schwierigkeiten und durch Anwendung großer Energie, die nicht viele besitzen, sich eine höhere Bildung aneignen. Die Masse nie, solange sie in sozialer Unterdrückung und Abhängigkeit lebt.(1)

In der neuen Gesellschaft sind die Existenzbedingungen für alle gleich. Die Bedürfnisse und die Neigungen sind verschieden und. werden, weil in der Natur des Menschen begründet, verschieden bleiben, aber jeder kann sich nach Maßgabe der für alle gleichen Daseinsbedingungen entwickeln. Die uniforme Gleichheit, die man dem Sozialismus andichtet, ist wie so vieles ein Unsinn. Erstrebte er sie, er handelte unvernünftig, denn er käme mit der Natur des menschlichen Wesens selbst in Widerspruch und müßte darauf verzichten, die Ge- |489| sellschaft nach seinen Prinzipien sich entwickeln zu sehen.(2) Ja, gelänge es dem Sozialismus, die Gesellschaft zu überrumpeln und in unnatürliche Verhältnisse zu pressen, in kurzer Zeit würden diese neuen Verhältnisse, die sich als Fesseln fühlbar machten, gesprengt, und der Sozialismus wäre für immer gerichtet. Die Gesellschaft entwickelt sich nach den ihr immanenten Gesetzen, und sie handelt danach.(3)

Eine der Hauptaufgaben der neuen Gesellschaft muß sein, die Nachkommenschaft entsprechend zu erziehen. Jedes Kind, das geboren wird, ist ein der Gesellschaft willkommener Zuwachs; sie erblickt darin die Möglichkeit ihres Fortbestandes, ihre eigene Fortentwicklung; sie empfindet also auch die Verpflichtung, für das neue Lebewesen nach Kräften einzutreten. Der erste Gegenstand ihrer Sorge ist demnach die Gebärende, die Mutter. Bequeme Wohnung, angenehme Umgebung, Einrichtungen aller Art, wie sie diesem Stadium der Mutterschaft entsprechen, aufmerksame Pflege für sie und das Kind sind erste Bedingungen. Die Mutterbrust dem Kinde zu erhalten, solange als |490| es möglich und notwendig erscheint, ist selbstverständlich. Moleschott, Sonderegger, alle Hygieniker und Ärzte sind darin einig, daß nichts die Nahrung der Mutter voll ersetzt.

Diejenigen, die wie Eugen Richter sich darüber entrüsten, daß die junge Mutter an einen Niederkunftsort kommt, an dem sie von allem umgeben ist, was heute nur der Reichtum ermöglicht - und dieser vermag nicht zu leisten, was eigens eingerichtete Anstalten zu leisten vermögen -, seien daran erinnert, daß gegenwärtig mindestens vier Fünftel der Menschen unter den primitivsten Verhältnissen und Zuständen geboren werden, die ein Hohn für unsere Kultur und Zivilisation sind. Und von dem letzten Fünftel unserer Mütter ist wieder nur eine Minderheit in der Lage, einigermaßen die Pflege und Annehmlichkeiten zu genießen, die in diesem Zustand einer Frau zukommen sollen. Tatsächlich gibt es in Städten mit vortrefflichen Einrichtungen für die Gebärenden auch schon heute nicht wenig Frauen, die, sobald sie ihre Stunde nahen fühlen, sich in jene Anstalten begeben und ihre Niederkunft erwarten. Die Kosten in diesen Anstalten sind aber so hohe, daß nur wenig Frauen davon Gebrauch machen können; andere schreckt allerdings das Vorurteil zurück. Wir haben also auch hier wieder ein Beispiel, wie überall die bürgerliche Welt die Keime für die Zukunftsgestaltungen in ihrem Schoße trägt.

Die Mutterschaft der meisten vornehmen Frauen bekommt übrigens einen eigentümlichen Beigeschmack durch die Tatsache, daß sie die Mutterpflichten so rasch als möglich an eine - proletarische Amme übertragen. Wie bekannt, ist zum Beispiel die wendische Lausitz (der Spreewald) die Gegend, aus der die Frauen der Berliner Bourgeoisie, die ihre Neugeborenen nicht selbst stillen wollen oder nicht zu stillen vermögen, ihre Ammen beziehen. Die Ammenzüchterei, die darin besteht, daß die Landmädchen sich schwängern lassen, um nach der Geburt ihrer Kinder sich als Amme an eine wohlhabende Berliner Familie vermieten zu können, wird gewerbsmäßig betrieben. Mädchen, die drei und vier uneheliche Kinder gebären, um sich als Amme verdingen zu können, sind keine Seltenheit, und je nachdem sie bei diesem Geschäft verdienen, erscheinen sie den jungen Männern des Spreewaldes als Frau begehrenswert. Vom Standpunkt der bürgerlichen Moral ist dieses eine verwerfliche Handlungsweise, aber vom Standpunkt des Familieninteresses der Bourgeoisie erscheint sie löblich und wünschenswert.

|491| Sobald das Kind größer geworden ist, harren seiner die Altersgenossen zu gemeinsamem Spiele unter gemeinsamer Obhut. Alles, was nach dem Stande der Einsicht und des Bedürfnisses für seine geistige und körperliche Entwicklung geleistet werden kann, ist vorhanden. Jeder, der Kinder beobachtet hat, weiß, daß dieselben am leichtesten in Gesellschaft ihresgleichen erzogen werden; ihr Geselligkeits- und Nachahmungstrieb ist sehr lebhaft. Insbesondere nehmen die Kleineren gern die Erwachseneren als Vorbild und Beispiel und folgen diesen mehr als den Eltern. Diese Eigenschaften können mit Vorteil für die Erziehung ausgenutzt werden.(4) Den Spielsälen und Kindergärten folgt die spielende Einführung in die Anfänge des Wissens und der verschiedenen gewerblichen Tätigkeiten. Es folgt angemessene geistige und körperliche Arbeit, verbunden mit gymnastischen Übungen und freier Bewegung auf dem Spiel- und Turnplatz, auf der Eisbahn, im Schwimmbad; Übungsmärsche, Ringkämpfe und Exerzitien für beide Geschlechter folgen und ergänzen sich. Es soll ein gesundes, abgehärtetes, körperlich und geistig normal entwickeltes Geschlecht herangebildet werden. Die Einführung in die verschiedenen praktischen Tätigkeiten, die Gartenkultur, den Ackerbau, das Fabrikwesen, die Technik des Produktionsprozesses folgt Schritt für Schritt. Die geistige Ausbildung in den verschiedensten Wissensgebieten wird nicht vernachlässigt.

Im Erziehungssystem wird derselbe Reinigungs- und Verbesserungsprozeß wie im Produktionssystem vorgenommen werden. Eine Menge veralteter, überflüssiger, die geistige und körperliche Entwicklung hemmender Methoden und Lehrgegenstände fällt. Die Kenntnis natürlicher Dinge, dem Verstand angepaßt, werden den Lernbetrieb mehr anfeuern als ein Erziehungssystem, bei dem ein Lehrgegenstand sich mit dem anderen im Widerspruch befindet und seine Wirkung aufhebt, zum Beispiel wenn auf der einen Seite Religion auf Grund der Bibel gelehrt wird, auf der anderen Seite Naturwissenschaften und Naturgeschichte. Dem hohen Kulturstand der neuen Gesellschaft entsprechend, ist die Ausstattung der Lehrräume, der Erziehungseinrichtungen und der Bildungsmittel beschaffen. Bildungs- und Lehrmittel, Kleidung, Unterhalt stellt die Gesellschaft; kein Zögling wird |492| gegen den anderen benachteiligt.(5) Das ist wieder ein Kapitel, über das unsere bürgerlichen "Ordnungsmänner" entrüstet sind.(6) Die Schule solle zur Kaserne gemacht, den Eltern soll jeder Einfluß auf ihre Kinder genommen sein, rufen die Gegner. Von alledem ist gar keine Rede. Da in der künftigen Gesellschaft die Eltern ein unendlich größeres Maß freier Zeit zur Verfügung haben, als dieses gegenwärtig bei der sehr großen Mehrzahl der Fall ist - es sei erinnert an die zehn- und mehrstündige Arbeitszeit der meisten Arbeiter, der Post-, Bahn-, Gefängnis- und Polizeibeamten usw., an die Inanspruchnahme der Gewerbetreibenden, der Kleinbauern, der Kaufleute, der Militärs, vieler Ärzte usw. -, so können sie sich ihren Kindern in einem Maße widmen, wie es heute unmöglich ist. Außerdem haben die Eltern die Ordnung des Erziehungswesens in der Hand, denn sie bestimmen die Maßregeln und Einrichtungen, die getrogen und eingeführt werden sollen. Wir leben alsdann in einer durch und durch demokratischen Gesellschaft. Die Erziehungsausschüsse, die bestehen, sind aus den Eltern - Männern und Frauen - und aus den Erziehern zusammengesetzt. Glaubt man, daß diese wider ihre Gefühle und Interessen handeln? Das geschieht in der heutigen Gesellschaft, in der der Staat seine Erziehungsinteressen gegen den Willen der meisten Eltern durchführt.

Unsere Widersacher tun, als gehöre es zu den größten Annehmlichkeiten der Eltern, den ganzen Tag die Kinder um sich zu haben, um sie zu erziehen. In der Wirklichkeit ist es anders. Welche Schwierigkeiten und Mühe die Erziehung eines Kindes verursacht, wissen diejenigen Eltern am besten zu beurteilen, die in dieser Lage sind oder waren. Mehrere Kinder erleichtern zwar die Erziehung, aber sie verursachen so viel Arbeit und Mühe, daß namentlich die Mutter, welche die Hauptlast mit ihnen hat, froh ist, wenn die Schulzeit herankommt, damit sie für einen Teil des Tages dieselben aus dem Hause bekommt. Auch können die allermeisten Eltern ihre Kinder nur sehr ungenü- |493| gend erziehen. Der sehr großen Mehrzahl fehlt die Zeit dazu; die Väter haben ihren Geschäften, die Mütter den Haushaltungsarbeiten nachzugehen, wenn sie nicht selbst zur Erwerbsarbeit gehen müssen. Haben sie aber selbst zur Erziehung die Zeit, so fehlt ihnen in unzähligen Fällen die Fähigkeit dazu. Wieviel Eltern sind denn imstande, den Bildungsgang ihrer Kinder in der Schule zu verfolgen und ihnen an die Hand zu gehen? Sehr wenige. Die Mutter, die es in einer Anzahl Fällen am ehesten könnte, hat selten die Fähigkeit, weil sie dazu nicht genügend vorgebildet ist. Auch wechseln die Lehrmethoden und der Lehrstoff so häufig, daß die Eltern demselben fremd gegenüberstehen.

Ferner sind die häuslichen Einrichtungen der weitaus größten Zahl der Kinder so dürftige, daß sie weder die nötige Bequemlichkeit noch die Ordnung, noch die Ruhe finden, ihre Schularbeiten zu Hause zu verrichten oder angemessene Unterstützung finden. Oft fehlt dazu alles Notwendige. Die Wohnung ist mangelhaft und überfüllt, alle bewegen sich auf dem engsten Raume; das Mobiliar ist dürftig und bietet dem Kinde, das arbeiten will, nicht die geringste Bequemlichkeit. Nicht selten fehlen Licht, Luft und Wärme; die Lehr- und Arbeitsmaterialien sind, wenn überhaupt vorhanden, von der schlechtesten Qualität; häufig wühlt auch der Hunger in den Eingeweiden der Kleinen und raubt ihnen Sinn und Lust für ihre Tätigkeit. Außerdem werden viele Hunderttausende von Kindern zu allen möglichen häuslichen und gewerblichen Arbeiten herangezogen, die ihnen die Jugend vergällen und sie zur Erledigung ihrer so geringen Bildungsaufgaben unfähig machen. Auch haben oft die Kinder den Widerstand beschränkter Eltern zu überwinden, wenn sie sich die Zeit für ihre Schulaufgaben oder für das Spiel nehmen wollen. Kurz, der Hemmnisse sind so unendlich viele, daß man sich nur wundern muß, daß die Jugend noch so gut erzogen ist. Ein Beweis für die Gesundheit der Menschennatur und den ihr innewohnenden Drang nach Fortschritt und Vervollkommnung.

Die bürgerliche Gesellschaft erkennt selbst einen Teil dieser Übel an, indem sie dadurch die Jugenderziehung erleichtert, daß sie die Unentgeltlichkeit des Schulunterrichtes einführt und hier und da auch die Lehrmittel unentgeltlich gewährt, zwei Dinge, die noch Mitte der achtziger Jahre der damalige sächsische Kultusminister gegenüber den sozialistischen Landtagsabgeordneten als "sozialdemokratische For- |494| derungen" bezeichnete. In Frankreich, in dem nach langer Vernachlässigung die Volkserziehung um so größere Fortschritte machte, ist man, wenigstens in Paris, noch weitergegangen und gewährt die gemeinsame Speisung der Kinder auf Gemeindekosten. Die Armen erhalten das Essen unentgeltlich, und die Kinder bessersituierter Eltern haben dafür einen geringen Betrag an die Gemeindekasse zu bezahlen. Das ist also bereits eine kommunistische Einrichtung, die sich zur Zufriedenheit der Eltern und Kinder aufs beste bewährte.

Für die Unzulänglichkeit des heutigen Schulwesens - es kann öfter nicht die mäßigen Aufgaben, die es sich gestellt, erfüllen - spricht weiter, daß Tausende und aber Tausende von Kindern infolge mangelhafter Nahrung unfähig sind, ihren Schulpflichten zu genügen. Es vergeht kein Winter, in dem in unseren Städten nicht Tausende von Kindern vorhanden sind, die, ohne ein Frühstück genossen zu haben, in die Schule kommen. Die Ernährung von Hunderttausenden anderen ist ungenügend. Für alle diese Kinder wäre die öffentliche Verpflegung wie die Bekleidung eine große Wohltat; sie werden in einem Gemeinwesen, das sie durch ordentliche Verpflegung und Bekleidung lehrt, was es heißt, ein Mensch zu sein, kein "Zuchthaus" erblicken. Die bürgerliche Gesellschaft kann dieses Elend nicht leugnen, und so vereinigen sich mitleidige Seelen zur Gründung von Frühstücks- und Suppenanstalten, um auf dem Wege der Wohltätigkeit einigermaßen zu erfüllen, was Pflicht der Gesellschaft wäre. Auch greifen neuerdings eine Anzahl Gemeinden ein und gewähren armen Kindern die nötigste Verpflegung aus Gemeindemitteln. Alles das ist unzulänglich und wird als Wohltat gewährt, was ein Recht sein sollte.(7)

Mit Recht werden in unseren Schulen die sogenannten häuslichen Schularbeiten möglichst beschränkt, weil man die Unzulänglichkeit der in der elterlichen Wohnung vollendeten Schularbeiten erkannte. Der Schüler wohlhabender Eltern ist gegen den ärmeren nicht nur durch die äußere Lage bevorzugt, sondern auch dadurch, daß öfter Bonnen oder Hauslehrer zur Verfügung stehen, die ihn unterstützen. Dagegen wird bei dem reichen Schüler Faulheit und Liederlichkeit dadurch be- |495| günstigt, daß der Reichtum der Eltern ihm das Lernen als überflüssig erscheinen lassen, ihm oft die moralisch verwerflichsten Beispiele vor Augen kommen und ihm die Verführung besonders nahetritt. Wer täglich und stündlich hört und sieht, wie Rang, Stand und Reichtum alles bedeuten, erlangt absonderliche Begriffe von den Menschen und seinen Pflichten und von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen.

Streng genommen hat die bürgerliche Gesellschaft keine Ursache, sich über die kommunistische Kindererziehung, welche die Sozialisten erstreben, zu entrüsten, denn sie hat diese für bevorrechtete Kreise teilweise selbst eingeführt, nur in verzerrter Weise. Wir erinnern an die Kadettenhäuser, Militärwaisenhäuser, Alumnate, Seminarien, Priesterschulen usw. In diesen werden viele Tausende von Kindern, zum Teil aus den höchsten Ständen, in der einseitigsten und verkehrtesten Weise und in strengster klösterlicher Klausur erzogen und für bestimmte Berufe ausgebildet. Auch geben viele Angehörige der bessersituierten Klassen, die als Ärzte, Geistliche, Beamte, Fabrikherren, Gutsbesitzer, Großbauern usw. auf dem Lande oder in kleinen Orten wohnen, wo höhere Bildungsanstalten fehlen, ihre Kinder nach den größeren Städten in Pension und bekommen sie während des ganzen Jahres höchstens in den Ferien zu sehen.

Es ist also ein Widerspruch, wenn unsere Widersacher sich über eine kommunistische Kindererziehung und über Entfremdung der Kinder von den Eltern entrüsten, und selbst eine ähnliche Erziehung, nur in verhunzter, falscher und unzulänglicher Weise, für ihre eigenen Kinder eingeführt haben. Auch über die Erziehung der Kinder der wohlhabenden Klassen durch Ammen, Bonnen, Gouvernanten, Hauslehrer ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben, das seltsame Streiflichter auf ihr Familienleben werfen würde. Es würde sich zeigen, daß auch hier vielfach die Heuchelei herrscht und nichts weniger als ein Idealzustand, weder für die Lehrenden noch die Lernenden.

Entsprechend dem total veränderten Erziehungssystem, das die körperliche wie die geistige Entwicklung und Ausbildung der Jugend im Auge hat, muß die Zahl der Lehrkräfte wachsen. Für die Erziehung des Nachwuchses der Gesellschaft sollte in ähnlicher Weise gesorgt werden wie im Militärwesen für die Ausbildung der Soldaten, bei dem ein Unteroffizier auf acht bis zehn Gemeine kommt. Wird künftig eine ähnliche Schülerzahl von einem Lehrer unterrichtet, so ist er- |496| reicht, was erreicht werden muß. Auch wird die Einführung in die mechanischen Tätigkeiten in den aufs vollkommenste eingerichteten Lehrwerkstätten, in die Garten- und Feldarbeiten einen wesentlichen Teil der Jugenderziehung bilden. Man wird das alles mit Abwechslung und ohne Überanstrengung durchzuführen wissen, um möglichst vollkommen ausgebildete Menschen zu erziehen.

Die Erziehung muß ferner für beide Geschlechter gleich und gemeinsam sein. Die Trennung derselben rechtfertigt sich nur in den Fällen, wo die Verschiedenheit des Geschlechts sie zur absoluten Notwendigkeit macht. In dieser Art Erziehung sind uns bereits die Vereinigten Staaten weit voraus. Dort ist die Erziehung der beiden Geschlechter von der Primärschule bis zu den Universitäten eine gemeinsame. Nicht nur der Unterricht, sondern auch die Lehrmittel sind unentgeltlich, einschließlich der Gegenstände für die Handarbeit und den Kochunterricht, für den Unterricht in der Chemie und Physik, und die Gegenstände, die der Schüler am Experimentier- und Arbeitstisch nötig hat. Mit den meisten Schulen sind Turnhallen, Badeeinrichtungen, Schwimmbassins, Spielhallen verbunden. In den höheren Schulen wird auch das weibliche Geschlecht im Turnen, Schwimmen, Rudern, Marschieren ausgebildet.(8)

Das sozialistische Erziehungssystem wird noch Höheres leisten. Gehörig geregelt und geordnet und unter ausreichende Kontrolle gestellt, währt es bis zu dem Alter, in dem die Gesellschaft ihre Jugend für mündig erklärt. Nunmehr sind beide Geschlechter im vollsten Maße befähigt, allen Rechten und Pflichten in jeder Richtung zu genügen. Jetzt hat die Gesellschaft die Sicherheit, nur tüchtige, nach allen Seiten entwickelte Glieder erzogen zu haben, Menschen, denen nichts Menschliches fremd ist, die ebenso vertraut mit ihrer eigenen Natur und ihrem eigenen Wesen sind wie mit dem Wesen und dem Zustand der Gesellschaft, in die sie als Vollberechtigte eintreten. So werden die täglich sich mehrenden Auswüchse bei unserer heutigen Jugend, welche die natürliche Folge des in Fäulnis und Zersetzung begriffenen Gesellschaftszustandes sind, verschwinden. Ungebärdigkeit, Disziplinlosigkeit, Immoralität und rohe Genußsucht, wie sie insbesondere bei der Jugend unserer höheren Bildungsanstalten, auf |497| unseren Gymnasien, Polytechniken, Universitäten usw. sich zeigen, Untugenden, die durch die Zerfahrenheit und Unruhe des häuslichen Lebens und die vergiftenden Einflüsse des sozialen Lebens hervorgerufen und gestärkt werden. Ebenso werden die üblen Einwirkungen des Fabriksystems, der Wohnungsmißverhältnisse, der Ungebundenheit und Selbständigkeit der Jugend in einem Alter, in dem der Mensch am meisten der Zügel und der Erziehung zur Selbstzucht und Selbstbeherrschung bedarf, ihr Ende erreichen. Alle diese Übel wird die künftige Gesellschaft, ohne daß sie es nötig hat, zu Zwangsmitteln zu greifen, vermeiden. Die gesellschaftlichen Einrichtungen und die daraus hervorgehende und die Gesellschaft beherrschende geistige Atmosphäre machen sie unmöglich. Wie in der Natur nur Krankheiten und Zerstörung von Organismen eintreten können, wo ein Zersetzungsprozeß vorhanden ist, so auch in der Gesellschaft.

Niemand wird bestreiten wollen, daß unser heutiges Bildungs- und Erziehungswesen an großen und gefährlichen Übelständen krankt, und zwar sind davon mehr die höheren Schulen und Bildungsanstalten betroffen als die niederen. Eine Dorfschule ist ein Muster moralischer Gesundheit gegen ein Gymnasium, eine weibliche Handarbeitsschule für ärmere Kinder ein Muster an Moralität gegenüber einer großen Zahl vornehmer Pensionate. Der Grund ist nicht weit zu suchen. In den oberen Klassen der Gesellschaft ist jedes Streben nach höheren Zielen erstickt, sie haben keine Ideale mehr. Infolge des Mangels an Idealen und höherer zielbewußter Tätigkeit greift die Genußsucht und der Hang zur Ausschweifung mit ihren physischen und moralischen Auswüchsen um sich. Wie kann die Jugend, die in dieser Atmosphäre aufwächst, anders sein? Materieller Lebensgenuß ohne Maß und Grenze ist, was sie sieht und kennenlernt. Warum streben, wenn der Eltern Reichtum das Streben überflüssig erscheinen läßt? Das Bildungsmaximum der großen Mehrzahl der Söhne unserer Bourgeoisie besteht in der Ablegung des Einjährigfreiwilligenexamens. Ist dieses erreicht, so glauben sie den Pelion und Ossa erstiegen zu haben und fühlen sich als Halbgötter. Haben sie ein Reserveoffizierspatent in der Tasche, so kennt ihr Stolz und Hochmut kaum noch eine Grenze. Den Einfluß, den diese in den meisten ihrer Glieder an Charakter und Wissen schwache, aber an Gesinnungstüchtigkeit und Strebertum starke Generation ausübt, kennzeichnet die gegenwärtige Periode als das Reserveoffizierszeitalter. Seine Eigentümlichkeit ist, viel Gesinnung, |498| aber keinen Charakter und wenig Wissen zu haben. Man ist servil nach oben, hochmütig und brutal nach unten.

Die Töchter der höheren Klassen werden zu einem guten Teil zu Zierpuppen, Modenärrinnen und Salondamen erzogen, die von Genuß zu Genuß jagen und schließlich übersättigt an Langeweile und an allen möglichen eingebildeten und wirklichen Krankheiten leiden. Alt geworden, werden sie frömmelnde Betschwestern, Spiritisten und Gesundbeter, die über die Verderbtheit der Welt die Augen verdrehen und die Aszese predigen. Für die unteren Schichten macht man Versuche, das Bildungsniveau herabzusetzen. Der Proletarier möchte zu klug werden, das Knechtschaftsverhältnis satt bekommen und sich wider seine irdischen Götter empören. Je dümmer die Masse ist, je leichter läßt sie sich beherrschen und regieren. "Der dümmste Arbeiter ist uns der liebste", erklärten wiederholt ostelbische Großgrundbesitzer auf ihren Versammlungen. In diesem einen Satz liegt ein ganzes Programm.

So steht in bezug auf die Bildungs- und Erziehungsfrage die heutige Gesellschaft ebenso ziellos und ratlos da wie in allen anderen sozialen Fragen. Was tut sie? Sie ruft nach dem Stocke und predigt Religion, das heißt Ergebenheit und Zufriedenheit denen, die nur allzu ergeben und zufrieden sind; sie lehrt Enthaltsamkeit dort, wo man sich schon des Notwendigsten enthalten muß, weil man es nicht besitzt. Die in ihrer Roheit sich auflehnen, bringt man in sogenannte Besserungsanstalten, die unter pietistischem Einfluß stehen. Damit ist die pädagogische Weisheit unserer Gesellschaft zu Ende. Die ganze Verderbtheit der Erziehungsmethoden für heruntergekommene Proletarierkinder zeigen die zahlreichen Mißhandlungsfälle, die von den leitenden Persönlichkeiten in den sogenannten Erziehungsheimen begangen werden und zu Strafprozessen gegen dieselben führten. Hier wurde enthüllt, wie ein religiöses Muckertum fanatischster Art mit sadistischer Freude Mißhandlungen haarsträubendster Art sich zuschulden kommen läßt. Und wieviel des Schrecklichen mag der Öffentlichkeit verborgen bleiben!


Fußnoten von August Bebel

(1) "Ein gewisser Grad von Kultur und Wohlstand ist eine notwendige äußere Bedingung und Entwicklung des philosophischen Geistes ... Daher finden wir, daß man nur bei den Nationen anfing zu philosophieren, welche sich zu einer beträchtlichen Stufe des Wohlstandes und der Kultur emporgeschwungen hatten." Tennemann. Note bei Buckle, a.a.O., 1. Band, S. 10. - "Materielle und intellektuelle Interessen gehen Hand in Hand. Eins kann ohne das andere nicht sein. Zwischen beiden findet eine Vereinigung statt wie zwischen Körper und Geist; sie trennen heißt den Tod bringen." v. Thünen, Der isolierte Staat. - "Das beste Leben sowohl für das Individuum im besonderen, als für den Staat im allgemeinen ist dasjenige, in welchem die Tugend auch mit äußeren Gütern so weit ausgestattet ist, daß dadurch eine tätige Teilnahme an schönen und guten Handlungen möglich wird." Aristoteles, Politik. <=

(2) Herr Eugen Richter wiederkäut in seinen "Irrlehren" immer wieder die abgedroschene Phrase, die Sozialisten wollten einen "Zwangsstaat" - daß von einem "Staate" schließlich nicht mehr die Rede ist, dürfte dem Leser unseres Buches klargeworden sein -; er mutet also der Gesellschaft zu, daß sie einen "Staat" oder eine Gesellschaftsordnung sich gebe, die wider ihre eigenen Interessen verstößt. Es läßt sich aber ein von dem vorhergehenden fundamental verschiedener Staat oder eine neue Gesellschaftsordnung nicht willkürlich schaffen, das ginge gegen alle Gesetze, nach denen Staat und Gesellschaft sich bilden und entwickeln. Herr Eugen Richter und seine Glaubensgenossen mögen sich trösten; hat der Sozialismus die unsinnigen Bestrebungen, die sie ihm zuschreiben, so geht er ohne ihr Zutun zugrunde.

Ebenso hinfällig sind die Bemerkungen Richters, für einen Sozialzustand, wie ihn die Sozialisten wollten. müßten die Menschen "Engel" sein. Nun gibt’s bekanntlich keine Engel, und wir brauchen auch keine. Einesteils werden die Menschen von den Zuständen, andernteils die Zustände von den Menschen beeinflußt, und das letztere wird immer mehr der Fall sein, je besser die Menschen das Wesen der Gesellschaft, die sie selber bilden, kennen und ihre Erfahrungen zweckbewußt auf ihre Gesellschaftsorganisation anwenden. Das ist Sozialismus. Wir brauchen nicht andere Menschen, aber klügere und umsichtigere als die meisten heute sind, und um sie klüger und einsichtiger zu machen, agitieren wir und veröffentlichen Schriften, wie die vorliegende eine ist. <=

(3) Es ist zu verwundern, daß bei der maßlosen Borniertheit der Gegner des Sozialismus noch keiner behauptete, jeder bekomme in der sozialistischen Gesellschaft eine gleichgroße Portion Nahrung und gleich große Wäsche- und Kleidungsstücke, um das Werk der uniformen Gleichheit zu "krönen". <=

(4) Das hat Fourier glänzend ausgeführt, wenn er auch in der Ausführung seiner Ideen ins Utopische geriet. A Bebel, Charles Fourier, sein Leben und seine Theorien. 3. Auflage. Stuttgart 1907. <=

(5) Condorcet forderte in seinem Erziehungsplan: "Die Erziehung muß eine unentgeltliche, gleiche, allgemeine, leibliche, geistige, industrielle und politische sein und muß auf wirkliche tatsächliche Gleichheit abzwecken." Ebenso Rousseau in seiner "Politischen Ökonomie": "Insonderheit muß die Erziehung eine öffentliche, gleiche und gemeinsame sein, Menschen und Bürger heranbilden." Auch Aristoteles fordert: "Da der Staat nur einen Zweck hat, so muß es für alle seine Mitglieder auch nur eine und dieselbe Erziehung geben, und die Sorge für diese muß eine Staats- und nicht eine Privatangelegenheit sein." <=

(6) So Eugen Richter in seinen "Irrlehren". <=

(7) "Gegenwärtig bestehen in 20 Pariser Stadtteilen Schulkantinen, in denen Mittagskost - Fleisch und Gemüse - gereicht wird. Nur diese ist obligatorisch, doch gewähren mehrere Stadtviertel auch Frühstück und. Vesper." Helene Simon, Schule und Brot. S. 44. Hamburg 1907. Der Initiative der Arbeiterpartei ist es zu danken, daß in England eine Vorlage zur Regelung der Schulspeisung im Jahre 1906 einer Kommission überwiesen ist. <=

(8) Professor Dr. Emil Hausknecht, Amerikanisches Bildungswesen. Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der zweiten Städtischen Realschule zu Berlin. Ostern 1894. Gärtners Verlag. <=