MLWerke | 10. Kapitel | Inhalt | 12. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 322-363.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Elftes Kapitel: Die Anfänge der Internationalen


1. Die Gründung

|322| Einige Wochen nach Lassalles Tode, am 28. September 1864, wurde in London, auf einem großen Meeting in St. Martins Hall, die Internationale Arbeiterassoziation gegründet.

Sie war nicht das Werk eines einzelnen, kein »kleiner Körper mit einem großen Kopfe«, keine heimatlose Verschwörerbande; sie war weder das nichtige Schattenbild noch das ungeheure Schrecknis, wie in holdem Wechsel die von bösem Gewissen gepeitschte Phantasie de kapitalistischen Herolde behauptete. Sie war vielmehr eine Durchgangsform des proletarischen Emanzipationskampfes, und ihr geschichtliches Wesen bedingte sowohl, daß sie notwendig, als auch daß sie vergänglich war.

Die kapitalistische Produktionsweise als der Widerspruch in sich selbst, erzeugt die modernen Staaten und zerstört sie zugleich. Sie treibt die nationalen Gegensätze auf die Spitze, aber sie schafft auch alle Nationen nach ihrem Bilde um. Auf ihrem Boden ist dieser Gegensatz unlöslich, und an ihm scheiterte immer jene Verbrüderung der Völker, von der die bürgerliche Revolution soviel zu singen und zu sagen wußte. Indem die große Industrie Freiheit und Frieden zwischen den Nationen predigte, machte sie aus diesem Erdball ein Kriegslager, wie es keine frühere Periode der Geschichte gesehen hat.

Jedoch mit der kapitalistischen Produktionsweise fällt auch ihr innerer Widerspruch. Wohl kann sich der proletarische Emanzipationskampf nur auf nationalem Boden entwickeln; da sich der kapitalistische Produktionsprozeß innerhalb nationaler Schranken vollzieht, so steht jedes Proletariat zunächst seiner Bourgeoisie gegenüber. Aber das Proletariat unterliegt nicht dem unerbittlichen Konkurrenzkampf, der allen internationalen Freiheits- und Friedensträumen der Bourgeoisie ein so jähe und rasches Ende bereitet. Sobald die Arbeiter erkennen - und diese Erkenntnis fällt schon mit dem ersten Erwachen ihres Klassenbewußtseins zusammen -, daß sie die Konkurrenz in ihren eigenen Reihen aufheben |323|* müssen, um der Übermacht des Kapitals überhaupt einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen, so ist nur noch ein Schritt zu der tieferen Erkenntnis, daß auch die Konkurrenz zwischen den Arbeiterklassen der verschiedenen Länder aufhören müsse, vielmehr ihr gemeinsames Zusammenwirken notwendig sei, um die internationale Herrschaft der Bourgeoisie zu brechen.

Demgemäß machte sich in der modernen Arbeiterbewegung die internationale Tendenz schon sehr früh geltend. Was der Verstand der Bourgeoisie, der durch ihr Profitinteresse verbarrikadiert ist, nur als unpatriotische Gesinnung, als einen Mangel an Bildung und Verstand aufzufassen vermochte, das war nichts anderes als eine Lebensbedingung des proletarischen Emanzipationskampfes. Allein wenn dieser Kampf auch den Zwiespalt zwischen nationaler und internationaler Tendenz, worin die Bourgeoisie sich ewig windet, lösen kann und muß, so gebietet er hier sowenig wie sonst irgendwo über eine Zauberrute, die seinen und steilen Aufstieg in eine ebene und glatte Bahn wandeln kann. Die moderne Arbeiterklasse kämpft unter Bedingungen, die ihr von der geschichtlichen Entwicklung gestellt sind, die nicht in einem gewaltigen Ansturm überrannt, sondern nur dadurch überwunden werden können, daß sie verstanden werden im Sinne des Hegelschen Worts: Verstehen heißt überwinden.

Erschwert wurde dies Verständnis in hohem Grade dadurch, daß die Anfänge der europäischen Arbeiterbewegung, in denen sich alsbald ihre internationale Richtung aussprach, mannigfach zusammenfielen und sich durchkreuzten mit der Gründung großer Nationalstaaten, eben durch die kapitalistische Produktionsweise. Wenige Wochen, nachdem das »Kommunistische Manifest« die vereinigte Aktion des Proletariats in allen zivilisierten Ländern als eine unerläßliche Voraussetzung seiner Emanzipation verkündet hatte, brach die Revolution von 1848 aus, die in England und Frankreich zwar schon Bourgeoisie und Proletariat als feindliche Mächte gegeneinander stellte, aber in Deutschland und Italien erst nationale Unabhängigkeitskämpfe entfachte. Allerdings hat damals das Proletariat, soweit es sich schon handelnd betätigte, vollkommen richtig erkannt, daß diese Unabhängigkeitskämpfe, wenn auch keineswegs sein letztes Ziel, so doch eine Station auf dem Wege zu diesem Ziele waren; es hat den nationalen Bewegungen in Deutschland und Italien die tapfersten Kämpfer gestellt, und nirgends sind diese Bewegungen besser beraten gewesen als in der »Neuen Rheinischen Zeitung«, die von den Verfassern des »Kommunistischen Manifestes« herausgegeben wurde. Aber der nationale Kampf drängte naturgemäß den |324| internationalen Gedanken zurück, zumal als sich die Bourgeoisie in Deutschland und Italien unter reaktionäre Bajonette zu flüchten begann. In Italien organisierten sich Hilfsvereine der Arbeiter unter dem nichts weniger als sozialistischen, aber wenigstens republikanischen Banner Mazzinis, und in dem entwickelteren Deutschland, dessen Arbeitern schon seit den Tagen Weitlings die internationalen Zusammenhänge ihrer Sache nicht fremd waren, kam es eben um der nationalen Frage willen zu einem zehnjährigen Bruderkriege.

Anders lagen die Dinge in Frankreich und England, wo die nationale Einheit längst gesichert war, als die proletarische Bewegung begann. Hier war schon in vormärzlicher Zeit der internationale Gedanke sehr lebendig: Paris galt als Hauptstadt der europäischen Revolution, und London war die Metropole des Weltmarkts. Jedoch trat er auch hier mehr oder minder zurück nach den proletarischen Niederlagen.

Der furchtbare Aderlaß der Junischlacht lähmte die französische Arbeiterklasse, und der eiserne Druck des bonapartistischen Despotismus hinderte ihre gewerkschaftliche wie ihre politische Organisation. Sie fiel in das vormärzliche Sektenwesen zurück, aus dessen Wirrwarr zwei Richtungen deutlicher hervortraten, in denen sich gewissermaßen das revolutionäre und das sozialistische Element schied. Die eine Richtung knüpfte an Blanqui an, der kein eigentlich sozialistisches Programm hatte, sondern die politische Gewalt durch den kühnen Handstreich einer entschlossenen Minderheit erobern wollte. Die andere Richtung - und sie war die ungleich stärkere - stand unter dem geistigen Einfluß Proudhons, der mit seinen Tauschbanken zur Herstellung eines unentgeltlichen Kredits und ähnlichen doktrinären Experimenten von der politischen Bewegung ablenkte; von dieser Bewegung hatte Marx schon im »Achtzehnten Brumaire« gesagt, daß sie darauf verzichte, die alte Welt mit ihren eignen großen Gesamtmitteln umzuwälzen, vielmehr hinter dem Rücken der Gesellschaft, auf Privatweise, innerhalb ihrer beschränkten Existenzbedingungen ihre Erlösung zu vollbringen suche.

Eine in manchen Beziehung ähnliche Entwicklung vollzog sich nach dem Scheitern des Chartismus in der englischen Arbeiterklasse. Der große Utopist Owen lebte zwar noch in hohen Jahren, aber seine Schule versandete in religiösem Freidenkertum. Daneben entstand der Christliche Sozialismus der Kingsley und Maurice, der - sowenig er mit seinen kontinentalen Zerrbildern in einen Topf geworfen werden durfte - mit seinen Bildungs- und Genossenschaftsbestrebungen doch auch von dem politischen Kampf nichts wissen wollte. Aber selbst die gewerkschaftlichen Verbände der Trade Unions, die England vor Frankreich voraushatte |325|*, verharrten in politischer Gleichgültigkeit und beschränkten sich auf die Befriedigung ihrer nächstliegenden Bedürfnisse, die ihnen durch die fieberhafte Industrietätigkeit der fünfziger Jahre und durch die englische Vorherrschaft auf dem Weltmarkt erleichtert wurde.

Trotz alledem war aber auf englischem Boden die internationale Arbeiterbewegung erst sehr allmählich eingeschlafen. Ihre letzten Spuren lassen sich bis in das Ende der fünfziger Jahre verfolgen. Die Fraternal Democrats hatten ihr Dasein bis in die Tage des Krimkrieges fortgeschleppt, und auch nach ihrem völligen Einschlafen war ein Internationales Komitee und danach eine Internationale Assoziation entstanden, um die sich namentlich Ernest Jones bemüht hatte. Große Bedeutung hatten sie freilich nicht gewonnen, aber sie zeigten doch, daß der internationale Gedanke nie völlig erloschen war, sondern in schwachen Funken fortlebte, die durch kräftigere Windstöße leicht wieder zu hellen Flammen angefacht werden konnten.

Als solche Windstöße wirkten nacheinander die Handelskrise von 1857, der Krieg von 1859 und namentlich der Bürgerkrieg, der seit 1860 zwischen den Nord- und den Südstaaten der nordamerikanischen Union entbrannt war. Hatte die Handelskrise von 1857 der bonapartistischen Herrlichkeit in Frankreich den ersten nachhaltigen Stoß gegeben, so war der Versuch, diesen Stoß durch ein glückliches Abenteuer der auswärtigen Politik zu parieren, keineswegs gelungen. Die Kugel, die der Dezembermann ins Rollen gebracht hatte, war ihm längst aus den Händen geglitten. Die italienische Einheitsbewegung wuchs ihm über den Kopf, und die französische Bourgeoisie ließ sich mit dem mageren Lorbeer der Schlachten von Magenta und Solferino nicht abspeisen. Um ihren wachsenden Übermut zu dämpfen, lag der Gedanke nahe, der Arbeiterklasse einen größeren Spielraum zu gewähren; die Existenzmöglichkeit des zweiten Kaiserreichs bestand ja recht eigentlich in der gelungenen Lösung der Aufgabe, Bourgeoisie und Proletariat gegenseitig in Schach zu halten.

Natürlich dachte Bonaparte nicht an politische Zugeständnisse, wohl aber an gewerkschaftliche. Proudhon, der in den französischen Arbeiterkreisen den verhältnismäßig größten Einfluß hatte, war ein Gegner des Kaiserreichs, obgleich manche seiner paradoxen Einfälle den Anschein des Gegenteils erwecken mochten, aber er war auch ein Gegner der Streiks. Hier aber schien die französischen Arbeiter der Schuh am meisten zu drücken. Trotz der Abmahnungen Proudhons und der strengen Koalitionsverbote wurden von 1853 bis 1866 nicht weniger als 3.909 Arbeiter wegen Beteiligung an 749 Koalitionen strafrechtlich verurteilt. |326| Der nachgemachte Cäsar begann damit, die Verurteilten zu begnadigen. Dann unterstützte er die Entsendung von französischen Arbeitern auf die Londoner Weltausstellung von 1862, und zwar, wie sich nicht bestreiten läßt, in viel gründlicherer Weise, als der deutsche Nationalverein denselben sinnreichen Gedanken zu gleicher Zeit verwirklichte. Die Delegierten sollten von ihren gewerblichen Fachgenossen gewählt werden; es wurden in Paris 50 Wahlbüros für 150 Fächer gebildet, die im ganzen 200 Vertreter nach London sandten; die Kosten bestritt - neben einer freiwilligen Subskription - die kaiserliche und die städtische Kasse mit je 20.000 Franken. Bei ihrer Rückkehr durften die Delegierten ausführliche Berichte, die meist schon weit über das fachliche Gebiet hinausgriffen, durch den Druck verbreiten. Unter den damaligen Verhältnissen war es eine Haupt- und Staatsaktion, die dem ahnungsvollen Engel von Pariser Polizeipräfekten den Stoßseufzer entlockte, ehe sich der Kaiser auf solche Scherze einließe, sollte er lieber gleich die Koalitionsverbote aufheben.

In der Tat bekundeten die Arbeiter ihrem eigennützigen Gönner nicht den Dank, den er beanspruchte, sondern nur den Dank, den er verdiente. Bei den Wahlen von 1863 wurden in Paris für die Kandidaten der Regierung nur 82.000, für die Kandidaten der Opposition aber 153.000 Stimmen abgegeben, während bei den Wahlen von 1857 die Regierung noch 111.000, die Opposition aber erst 96.000 Wähler gemustert hatte. Man nahm allgemein an, daß die Abwandlung nur zum geringeren Teile durch die Abschwenkung der Bourgeoisie, hauptsächlich aber durch die veränderte Stellung der Arbeiterklasse zu erklären sei, die gerade jetzt, wo der falsche Bonaparte mit ihrem Interesse kokettierte, ihre Unabhängigkeit bekunden wollte, wenn sie zunächst auch nur unter der Fahne des bürgerlichen Radikalismus marschierte. Diese Annahme wurde bestätigt, als für einige Nachwahlen, die 1864 in Paris stattfanden, sechzig Arbeiter den Ziseleur Tolain als ihren Kandidaten aufstellten und ein Manifest erließen, worin sie das Wiedererwachen des Sozialismus ankündigten. Freilich hätten, hieß es darin, die Sozialisten aus den Erfahrungen der Vergangenheit gelernt. Im Jahre 1848 seien die Arbeiter noch nicht zu einem klaren Programm gelangt; mehr aus Instinkt als Überlegung hätten sie dieser oder jener sozialen Theorie gehuldigt. Nun hielten sie sich fern von utopischen Übertreibungen und suchten nach sozialen Reformen. An solchen Reformen forderte Tolain Preß- und Vereinsfreiheit, Aufhebung der Koalitionsverbote, obligatorischen und unentgeltlichen Unterricht sowie Abschaffung des Kultusbudgets.

|327| Jedoch brachte es Tolain nur auf einige hundert Stimmen. Proudhon war wohl mit dem Inhalt des Manifestes einverstanden, aber er verwarf die Wahlbeteiligung, da ihm die Abgabe weißer Zettel ein schärferer Protest gegen das Kaiserreich zu sein schien; den Blanquisten war das Manifest zu gemäßigt, und die Bourgeoisie in ihrer liberalen und radikalen Schattierung, mit einzelnen Ausnahmen, fiel mit Hohn und Spott über das selbständige Auftreten der Arbeiter her, obgleich das Wahlprogramm Tolains ihnen noch gar keinen Anlaß zur Beunruhigung bot. Es war eine ganz ähnliche Erscheinung, wie sie sich gleichzeitig in Deutschland zeigte. Hierdurch ermutigt, wagte Bonaparte wieder einen Schritt vorwärts; im Mai 1864 wurde durch ein Gesetz zwar noch nicht das Verbot der Fachvereine aufgehoben, was erst vier Jahre später geschah; wohl aber wurden die Paragraphen des Code pénal beseitigt, die Koalitionen der Arbeiter für Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen untersagten.

In England waren zwar schon seit dem Jahre 1825 die Koalitionsverbote aufgehoben, aber die Existenz der Trade Unions war deshalb noch keineswegs weder rechtlich noch tatsächlich gesichert, und der Masse ihrer Mitglieder fehlte das politische Wahlrecht, das ihnen ermöglicht hätte, die gesetzlichen Hindernisse zu beseitigen, die ihnen den Kampf um eine höhere Lebenshaltung erschwerten. Das Aufkommen des kontinentalen Kapitalismus, das eine Unzahl von Existenzen entwurzelte, züchtete ihnen eine gefährliche Schmutzkonkurrenz heran: bei jedem Anlauf zur Erhöhung der Arbeitslöhne oder zur Verkürzung der Arbeitszeit drohten die Kapitalisten mit der Einfuhr französischer, belgischer, deutscher oder anderer ausländischer Arbeiter. Aufrüttelnd wirkte dann besonders der amerikanische Bürgerkrieg. Er rief eine Baumwollenkrisis hervor, die über die Arbeiter der englischen Textilindustrie das größte Elend brachte.

So wurden die Trade Unions aus ihrem beschaulichen Dasein erweckt. Es entstand ein Neuer Unionismus, der namentlich durch einige erfahrene Beamte der größten Trade Unions vertreten wurde: Allan von den Maschinenbauern, Applegarth von den Zimmerern, Lucraft von den Schreinern, Cremer von den Maurern, Odger von den Schuhmachern und andere. Diese Männer erkannten die Notwendigkeit des politischen Kampfes auch für die Gewerkschaften. Sie richteten ihr Augenmerk auf eine Wahlreform; sie waren die treibenden Kräfte bei einem Monstermeeting, das unter dem Vorsitze des radikalen Politikers Bright in St. James Hall stattfand und stürmischen Protest gegen den Plan Palmerstons erhob, zugunsten der südlichen Sklavenstaaten in der amerikanischen |328|* Bürgerkrieg einzugreifen, und als Garibaldi im Frühling 1864 einen Besuch in London abstattete, bereiteten sie ihm einen festlichen Empfang.

Das politische Wiedererwachen der englischen und der französischen Arbeiterklasse rief den internationalen Gedanken wieder wach. Schon bei der Weltausstellung von 1862 fand ein »Verbrüderungsfest« zwischen den französischen Delegierten und englischen Arbeitern statt. Enger geknüpft wurde das Band durch den polnischen Aufstand von 1863. Die polnische Sache war unter den revolutionären Elementen der westeuropäischen Kulturvölker von jeher äußerst populär; die Unterdrückung und Zerstückelung Polens machte die drei Ostmächte zu einer reaktionären Macht, die Wiederherstellung Polens war ein Stoß ins Herz der russischen Hegemonie über Europa. Schon von den Fraternal Democrats waren die Gedenktage der polnischen Revolution von 1830 regelmäßig gefeiert worden; unter begeisterten Kundgebungen für die polnische Nation, doch auch immer schon in dem Sinne, daß die Wiederherstellung eines freien und demokratischen Polens eine notwendige Vorbedingung der proletarischen Emanzipation sei. So auch 1863. Auf den Londoner Polenmeetings, zu denen französische Arbeiter ihre Vertreter gesandt hatten, klang die soziale Note scharf hervor, und sie war auch der Grundton einer Adresse, die ein Ausschuß englischer Arbeiter unter dem Vorsitz Odgers an die französischen Arbeiter richtete, um ihnen für ihre Teilnahme an den Polenmeetings zu danken. Die Adresse betonte namentlich, daß die Schmutzkonkurrenz, die das englische Kapital durch die Einfuhr ausländischer Arbeiter dem englischen Proletariat mache, nur möglich sei, weil es an einer systematischen Verbindung zwischen den arbeitenden Klassen aller Länder fehle.

Sie wurde von Professor Beesly, einem um die Arbeitersache vielfach verdienten Gelehrten, der an der Londoner Universität Geschichte vortrug, ins Französische übersetzt und rief eine lebhafte Bewegung in den Pariser Werkstätten hervor, die in dem Entschluß gipfelte, die Antwort durch eine Deputation persönlich nach London zu schicken. Zu deren Empfang berief der englische Ausschuß für den 28. September 1864 nach St. Martins Hall ein Meeting, das unter dem Vorsitz Beeslys tagte und bis zum Ersticken überfüllt war. Tolain verlas die französische Antwortadresse, die vom polnischen Aufstande anhob: »Wiederum ist Polen vom Blute seiner Kinder erstickt worden, und wir sind machtlose Zuschauer geblieben«, um dann zu fordern, daß die Stimme des Volkes in allen großen politischen und sozialen Fragen gehört werden müsse. Die despotische Macht des Kapitals müsse gebrochen werden. Durch die |329| Teilung der Arbeit sei der Mensch zum mechanischen Werkzeug geworden, und der Freihandel ohne Solidarität der Arbeiter müsse eine industrielle Leibeigenschaft herbeiführen, die unbarmherziger und verhängnisvoller sei, als die in den Tagen der großen Revolution zerbrochene Leibeigenschaft. Die Arbeiter aller Länder müßten sich vereinigen, um einem verhängnisvollen System eine unüberwindliche Schranke entgegenzusetzen.

Nach einer lebhaften Debatte, in der Eccarius für die Deutschen sprach, beschloß das Meeting auf den Antrag des Trade-Unionisten Wheeler, ein Komitee niederzusetzen mit der Vollmacht, seine Zahl zu vermehren und die Statuten für eine internationale Vereinigung zu entwerfen, die vorläufig gelten sollten, bis im nächsten Jahre ein internationaler Kongreß in Belgien endgültig darüber entschiede. Das Komitee wurde gewählt: es bestand aus zahlreichen Trade-Unionisten und ausländischen Vertretern der Arbeitersache, darunter für die Deutschen - ihn nennt der Zeitungsbericht an letzter Stelle - Karl Marx.

2. »Inauguraladresse« und »Statuten«

Marx hatte bis dahin keinen tätigen Anteil an der Bewegung genommen. Er war von dem Franzosen Le Lubez aufgefordert worden, sich für die deutschen Arbeiter zu beteiligen und namentlich einen deutschen Arbeiter als Sprecher zu stellen. Er schlug Eccarius vor, während er selbst dem Meeting nur als stumme Figur auf der Plattform beiwohnte.

Marx dachte von seiner wissenschaftlichen Arbeit hoch genug, um sie aller Vereinsspielerei voranzustellen, die von vornherein aussichtslos erschien, aber er schob sie gern zurück, wo nützliche Arbeit für das Proletariat zu verrichten war. Diesmal erkannte er, daß »wirkliche Mächte« im Spiel waren. Er schrieb an Weydemeyer und ähnlich an andere Freunde: »Das neulich errichtete Internationale Arbeiterkomitee ist nicht ohne Bedeutung. Seine englischen Mitglieder bestehen meist aus den Chefs der hiesigen Trade Unions, also den wirklichen Arbeiterkönigen von London, denselben Leuten, die dem Garibaldi den Riesenempfang bereiteten und die durch das Monstremeeting in St. James Hall (unter Brights Vorsitz) Palmerston verhinderten, den Krieg an die Vereinigten Staaten zu erklären, wie er auf dem Punkte stand es zu tun. Von seiten der Franzosen sind die Mitglieder unbedeutend, aber sie |330| sind die direkten Organe der leitenden Arbeiter in Paris. Ebenso besteht Verbindung mit den italienischen Vereinen, die kürzlich ihren Kongreß in Neapel hielten. Obgleich ich jahrelang systematisch alle Teilnahme an allen ›Organisationen‹ ablehnte, so akzeptierte ich diesmal, weil es sich um eine Geschichte handelt, wo es möglich ist, bedeutend zu wirken.« Marx erkannte, daß »offenbar ein Wiederaufleben der arbeitenden Klassen stattfände«, und ihnen die neuen Wege zu bahnen, hielt er für seine oberste Pflicht.

Dabei fügte es sich glücklich, daß ihm die geistige Leitung durch äußere Umstände von selbst zufiel. Das gewählte Komitee ergänzte sich durch Hinzuziehung neuer Kräfte; es bestand aus etwa 50 Mitgliedern, zur Hälfte englischen Arbeitern. Danach war am stärksten Deutschland durch etwa 10 Mitglieder vertreten, die wie Marx, Eccarius, Leßner, Lochner, Pfänder schon dem Bunde der Kommunisten angehört hatten. Frankreich hatte 9, Italien 6, Polen und die Schweiz je 2 Vertreter. Nach seiner Konstituierung setzte das Komitee ein Unterkomitee nieder, das Programm und Statuten entwerfen sollte.

In dieses Unterkomitee wurde auch Marx gewählt, doch war er durch Krankheit oder wegen zu später Benachrichtigung wiederholt verhindert, den Beratungen beizuwohnen. Derweil hatten sich der Major Wolf, der Privatsekretär Mazzinis, der Engländer Weston und der Franzose Le Lubez vergebens mit der Lösung der Aufgabe befaßt, die dem Unterkomitee gestellt war. So populär Mazzini damals unter den englischen Arbeitern war, so verstand er sich doch viel zuwenig auf die moderne Arbeiterbewegung, um mit seinem Entwurf geschulten Trade-Unionisten zu imponieren. Der proletarische Klassenkampf war ihm unverständlich und deshalb verhaßt. Sein Programm verstieg sich höchstens zu einiger sozialistischer Phraseologie, über die das Proletariat im Anfange der sechziger Jahre längst hinaus war. Ebenso waren seine Statuten aus dem Geiste einer vergangenen Zeit geboren; in der streng zentralistischen Weise politischer Verschwörungsgesellschaften abgefaßt, verstießen sie wie gegen die Lebensbedingungen der Trade Unions im besonderen, so im allgemeinen gegen Lebensbedingungen eines internationalen Arbeiterbundes, der keine neue Bewegung schaffen, sondern nur die in verschiedenen Ländern schon vorhandene, aber verzettelte Klasssenbewegung des Proletariats verbinden sollte. Ebensowenig kamen die Entwürfe, die Le Lubez und Weston vorlegten, über ein allgemeines Phrasengeklingel hinaus.

So war die Sache gründlich verfahren, als Marx sie in die Hand nahm. Er war entschlossen, daß wo möglich »not one single line [Mehring |331| übersetzt: nicht eine einzige Zeile] von dem Zeug stehnbleiben sollte«, und um sich ganz davon zu emanzipieren, entwarf er - was auf dem Meeting in St. Martins Hall nicht vorgesehen war - eine Adresse an die arbeitenden Klassen, eine Art Rückblick auf ihre Schicksale seit 1848, um danach die Statuten um so klarer und kürzer zu fassen. Das Unterkomitee nahm seine Vorschläge sofort an, nur daß es in die Einleitung der Statuten einige Phrasen von »Recht, Pflicht, Wahrheit, Moral und Gerechtigkeit« einschaltete, die Marx jedoch, wie er an Engels schrieb, so unterzubringen wußte, daß sie keinen Schaden anrichten konnten. Dann nahm auch das Generalkomitee »Adresse« wie »Statuten« einstimmig und mit großer Begeisterung an.

Von der »Inauguraladresse« hat Beesly später einmal gesagt, sie sei wahrscheinlich die gewaltigste und schlagendste Darlegung der Arbeitersache gegen die Mittelklasse, die je in ein Dutzend kleiner Seiten zusammengepreßt worden sei. Die »Adresse« begann damit, die große Tatsache festzustellen, daß sich die Not der Arbeiterklasse in den Jahren von 1848 bis 1864 nicht gemindert habe, obgleich gerade dieser Zeitraum in den Jahrbüchern der Geschichte beispiellos dastehe durch die Entwicklung seiner Industrie und das Wachstum seines Handels. Sie führte den Beweis dadurch, daß sie urkundlich gegenüberstellte einerseits die fürchterliche Statistik der amtlichen Blaubücher über das Elend des englischen Proletariats, andererseits die Ziffern, die der Schatzkanzler Gladstone in seinen Budgetreden beigebracht hatte für die berauschende, aber ganz und gar auf die besitzenden Klassen beschränkte Vermehrung von Macht und Reichtum, die in jenem Zeitraum vor sich gegangen sei. Die »Adresse« deckte diesen schreienden Gegensatz an den englischen Zuständen auf, weil England an der Spitze der europäischen Industrie und des europäischen Handels stehe, aber sie fügte hinzu, daß er mit anderer Lokalfärbung und auf etwas kleinerer Stufenleiter in allen Ländern des Festlandes bestehe, wo die große Industrie sich entwickle.

Überall beschränke sich die berauschende Vermehrung von Macht und Reichtum auf die besitzenden Klassen, es sei denn, daß eine kleine Anzahl von Arbeitern, wie in England, einen etwas erhöhten, aber durch die allgemeine Preissteigerung wieder ausgeglichenen Arbeitslohn erhalten hätte. »Überall sank die große Masse der arbeitenden Klassen in immer tieferes Elend, mindestens in demselben Maße, wie die oberen Klassen auf der sozialen Leiter stiegen. In allen Ländern Europas steht es jetzt als Wahrheit fest, unleugbar für jeden unbefangenen Forscher, und nur bestritten von denen, die ein Interesse |332| daran haben, anderen trügerische Hoffnungen zu erwecken, daß weder die Vervollkommnung der Maschinen noch die Verwertung der Wissenschaft für den Ackerbau oder die Industrie, weder die Hilfsmittel und Kunstgriffe des Verkehrs noch neue Kolonien oder Auswanderung, weder die Eroberung neuer Märkte noch der Freihandel oder alle diese Dinge zusammengenommen das Elend der gewerbtätigen Massen zu beseitigen vermögen, daß vielmehr auf der falschen Grundlage des Bestehenden jede frische Entwicklung der schöpferischen Kraft der Arbeit nur dahin zielt, die sozialen Gegensätze zu vertiefen und den sozialen Konflikt zu verschärfen. Hungertod erhob sich in der Hauptstadt des britischen Königreichs beinahe auf den Rang einer sozialen Institution während dieser berauschenden Periode ökonomischen Fortschritts. Dieser Zeitraum ist in den Jahrbüchern der Geschichte gekennzeichnet durch die beschleunigte Wiederkehr, den erweiterten Umfang und die tödlichen Wirkungen der sozialen Pest, die man Handels- und Industriekrisen nennt.«[1]

Die »Adresse« warf dann einen Blick auf die Niederlage der Arbeiterbewegung in den fünfziger Jahren und fand, daß diese Zeit auch ihre entschädigenden Charakterzüge habe. Besonders zwei große Tatsachen wurden hervorgehoben. Zuerst der gesetzliche Zehnstundentag mit seinen für das englische Proletariat so heilsamen Folgen. Der Kampf für die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit war ein direkter Eingriff in den großen Kampf zwischen der blinden Regel der Gesetze über Angebot und Nachfrage, die die politische Ökonomie der Bourgeoisie ausmachen, und der durch soziale Fürsorge geregelten Produktion, die die Arbeiterklasse vertritt. »Und deshalb war die Zehnstundenbill nicht nur ein großer praktischer Erfolg, sondern auch der Sieg eines Prinzips; zum ersten Male erlag die politische Ökonomie der Bourgeoisie der politischen Ökonomie der Arbeiterklasse.«[2]

Einen noch größeren Sieg erfocht die politische Ökonomie des Proletariats durch die Kooperativbewegung, die auf dem Prinzip der Kooperation beruhenden, durch wenige unverzagte, wenn auch ununterstützte Hände ins Leben gerufenen Fabriken. Der Wert dieser großen sozialen Versuche könne nicht hoch genug angeschlagen werden. »Durch die Tat, statt der Gründe, haben sie bewiesen, daß Produktion in großem Maßstab und in Übereinstimmung mit den Geboten modernster Wissenschaft stattfinden kann ohne die Existenz einer Klasse von Unternehmern, die einer Klasse von Arbeitern zu tun gibt, daß die Arbeitsmittel, um Früchte zu tragen, nicht als Werkzeuge ausbeutender Herrschaft über die Arbeitenden selbst monopolisiert zu werden brauchen, |333| daß Lohnarbeit wie Sklavenarbeit wie Leibeigenschaft nur eine untergeordnete und vorübergehende Form ist, die, dem Untergange geweiht, verschwinden muß vor der genossenschaftlichen Arbeit, die ihre schwere Aufgabe mit williger Hand, leichtem Sinn und fröhlichem Herzen erfüllt.«[3] Gleichwohl vermag Kooperativarbeit, auf gelegentliche Versuche beschränkt, das kapitalistische Monopol nicht zu brechen. »Vielleicht haben gerade aus diesem Grunde Aristokraten von anscheinend edler Denkungsart, menschenfreundliche Schönredner der Bourgeoisie und selbst geschäftskluge Nationalökonomen ganz urplötzlich mit widerlichen Komplimenten eben dem Kooperativarbeitssystem gehuldigt, das sie vergebens im Keime zu ersticken versucht, als die Utopie des Träumers verhöhnt oder als Verrücktheit des Sozialisten gebrandmarkt hatten.«[4] Erst die Entwicklung der Kooperativarbeit zu nationalen Dimensionen könne die Massen retten. Dagegen würden die Herren des Grundbesitzes und des Kapitals stets ihre politischen Vorrechte aufbieten, um ihre ökonomischen Monopole zu verewigen. Deshalb sei es die große Pflicht der arbeitenden Klassen, politische Macht zu erobern.

Diese Pflicht schienen die Arbeiter begriffen zu haben, wie ihr gleichzeitiges Wiederaufleben in England, Frankreich, Deutschland und Italien, ihr gleichzeitiges Streben nach einer politischen Reorganisation der Arbeiterpartei bewiese. »Ein Element des Erfolges besitzen sie - Zahlen. Aber Zahlen wiegen nur schwer in der Waage, wenn sie durch ein Bündnis vereinigt und einem bewußten Ziel entgegengeführt werden.«[5] Die Erfahrung der Vergangenheit lehre, daß Mißachtung der Brüderlichkeit, die zwischen den Arbeitern der verschiedenen Länder bestehen und sie anspornen sollte, in allen Kämpfen für ihre Emanzipation fest beieinander zu stehen, sich durch eine allgemeine Vereitelung ihrer zusammenhanglosen Anstrengungen räche. Diese Erwägung habe das Meeting in St. Martins Hall zur Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation veranlaßt.

Und noch eine Überzeugung habe dies Meeting beherrscht. Erheische die Emanzipation der arbeitenden Klassen ihren brüderlichen Beistand, wie könnten sie dieses große Ziel erreichen mit einer auswärtigen Politik der Regierungen, die frevelhafte Pläne verfolge, mit nationalen Vorurteilen spiele und in Raubzügen Blut und Gut des Volkes vergeude? Nicht die Weisheit der herrschenden Klassen, sondern der heldenmütige Widerstand des Proletariats gegen ihre verbrecherische Torheit habe den Westen Europas vor einem infamen Kreuzzug für die Verewigung und Fortpflanzung der Sklaverei auf dem jenseitigen Ufer des Atlantischen Ozeans bewahrt. Der schamlose Beifall, die nur scheinbare |334| Sympathie oder die blöde Gleichgültigkeit, womit die höheren Klassen zugesehen hätten, wie Rußland die Bergfeste des Kaukasus erbeutete und das heldenmütige Polen ermordete, wiesen die arbeitenden Klassen auf ihre Pflicht, in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Streiche ihrer Regierungen zu überwachen, ihnen mit allen Mitteln entgegenwirken, wenn möglich; wenn es aber unmöglich sei, ihnen zuvorzukommen, sich in gleichzeitigen Demonstrationen zu vereinigen, und die einfachen Gesetze von Moral und Recht, die die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze für den Verkehr der Nationen geltend zu machen. Der Kampf für eine solche auswärtige Politik sei eingeschlossen in den allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse. Die »Adresse« schloß wie einst das »Kommunistische Manifest«: Proletarier aller Länder, vereinigt euch!

Die »Statuten« begannen mit Erwägungsgründen [6], die sich in folgende Sätze zusammenfassen lassen: Die Emanzipation der Arbeiterklasse muß durch die Arbeiter selbst erobert werden; der Kampf für sie ist kein Kampf für neue Klassenvorrechte, sondern für die Vernichtung aller Klassenherrschaft. Der ökonomischen Unterwerfung des Arbeiters unter den Aneigner der Arbeitsmittel, das heißt der Lebensquellen, liegt die Knechtschaft in allen ihren Formen zugrunde: dem sozialen Elend, der geistigen Verkümmerung und der politischen Abhängigkeit. Die ökonomische Emanzipation der Arbeiterklasse ist daher das große Ziel, dem jede politische Bewegung als Mittel dienen muß. Alle nach diesem Ziele strebenden Versuche sind bisher gescheitert aus Mangel an Einigkeit zwischen den verschiedenen Arbeitsgruppen jedes Landes und zwischen den Arbeiterklassen der verschiedenen Länder. Die Emanzipation der Arbeiter ist weder eine lokale noch eine nationale, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe; sie umfaßt alle Länder, in denen die moderne Gesellschaft besteht; sie kann nur vollbracht werden durch das planmäßige Zusammenwirken dieser Länder. An diese klaren und scharfen Sätze waren dann jene moralischen Gemeinplätze über Gerechtigkeit und Wahrheit, Pflichten und Rechte gehängt, die Marx nur mit Widerstreben in seinem Text aufnahm.

Die Organisation des Bundes gipfelte in einem Generalrat, der zusammengesetzt sein sollte aus Arbeitern der verschiedenen, in der Assoziation vertretenen Länder. Bis zum ersten Kongreß übernahm das in St. Martins Hall gewählte Komitee die Befugnisse des Generalrats. Sie bestanden darin, die internationale Vermittlung zwischen den Arbeiterorganisationen der verschiedenen Länder zu übernehmen, die Arbeiter |335| jedes Landes fortdauernd über die Bewegungen ihrer Klasse in anderen Ländern zu unterrichten, statistische Untersuchungen über die Lage der arbeitenden Klassen anzustellen, Fragen von allgemeinem Interesse in allen Arbeitergesellschaften beraten zu lassen, im Falle internationaler Streitigkeiten eine gleichmäßige und gleichzeitige Aktion der verbundenen Organisationen zu veranlassen, periodische Berichte zu veröffentlichen und ähnlichen Aufgaben. Der Generalrat wurde vom Kongreß gewählt, der jährlich einmal zusammentrat. Der Kongreß bestimmte den Sitz des Generalrats sowie Ort und Zeit des nächsten Kongresses. Doch war der Generalrat befugt, die Zahl seiner Mitglieder zu vervollständigen und im Notfalle den Ort des Kongresses zu wechseln, nicht aber die Zeit seines Zusammentritts hinauszuschieben. Die Arbeitergesellschaften der einzelnen Länder, die sich der Internationalen anschlossen, behielten ihre gesonderte Organisation unangetastet bei. Keiner unabhängigen Lokalgesellschaft war verwehrt, unmittelbar mit dem Generalrat zu verkehren, doch wurde es als eine für die wirksame Tätigkeit des Generalrats notwendige Vorbedingung bezeichnet, daß die gesonderten Arbeitergesellschaften der einzelnen Länder sich soweit möglich zu nationalen, in Zentralorganen vertretenen Körperschaften vereinigten.

So falsch es ist zu sagen, daß die Internationale die Erfindung eines »großen Kopfes« gewesen sei, so war es gleichwohl ihr Glück, daß sie bei ihrem Entstehen einen großen Kopf fand, der ihr lange Irrwege ersparte, indem er ihr den richtigen Weg wies. Mehr tat Marx nicht und mehr wollte er auch nicht tun. Die unvergleichliche Meisterschaft der »Adresse« wie der »Statuten« bestand eben darin, daß sie durchweg an die augenblickliche Lage der Dinge anknüpften und gleichwohl, wie Liebknecht einmal treffend sagte, die letzten Konsequenzen des Kommunismus enthielten, nicht minder als das »Kommunistische Manifest«.

Von diesem unterschieden sie sich nicht nur durch die Form; »es bedarf Zeit«, schrieb Marx an Engels, »bis die wiedererwachte Bewegung die alte Kühnheit der Sprache wieder erlaubt. Nötig fortiter in re, suaviter in modo [Mehring übersetzt: stark in der Sache, mild in der Form].« Sie hatte überhaupt eine andere Aufgabe. Es kam nunmehr darauf an, die gesamte streitbare Arbeiterschaft Europas und Amerikas zu einem großen Heereskörper zu verschmelzen, ein Programm aufzustellen, das nach einem Worte von Engels, den englischen Trade Unions, den französischen, belgischen, italienischen, spanischen Proudhonisten, den deutschen Lassalleanern die Türe nicht verschloß. Für den schließlichen Sieg des wissenschaftlichen Sozialismus, wie er im »Kommunistischen Manifest« |336|* aufgestellt war, verließ sich Marx einzig und allein auf die intellektuelle Entwicklung der Arbeiterklasse, wie sie aus ihrer vereinigten Aktion hervorgehen mußte.

Früh genug wurde seine Erwartung auf eine harte Probe gestellt; kaum hatte er die Werbearbeit für die Internationale begonnen, als er in einen schweren Zusammenstoß mit derjenigen europäischen Arbeiterklasse geriet, der die Grundsätze der Internationalen am ehesten einleuchteten.

3. Die Absage an Schweitzer

Es ist eine alte aber weder schöne noch wahre Überlieferung, daß die deutschen Lassalleaner den Eintritt in die Internationale verweigert und sich überhaupt feindlich zu ihr gestellt hätten.

Zunächst ist nicht abzusehen, welchen Grund sie dazu gehabt haben sollten. Ihre straffe Organisation, auf die sie allerdings hohen Wert legten, wurde durch die »Statuten« der Internationalen nicht im entferntesten angetastet, und die »Inauguraladresse« konnten sie von A bis Z unterschreiben; mit besonderer Genugtuung sogar den Abschnitt über die Kooperativarbeit, die nur durch ihre Ausdehnung zu nationalen Dimensionen und ihre Förderung durch Staatsmittel die Massen retten könne.

In der Tat haben sich die deutschen Lassalleaner von vornherein durchaus freundlich zur Internationalen gestellt, obgleich sie zur Zeit ihrer Entstehung genug mit sich selbst zu tun hatten. Nach dem Tode Lassalles und auf dessen testamentarische Empfehlungen war Bernhard Becker zum Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins gewählt worden, erwies sich jedoch so unfähig, daß ein heilloser Wirrwarr entstand. Was den Verein noch zusammenhielt, war das Vereinsorgan, der »Social-Demokrat«, der seit Ende des Jahres 1864 unter der geistigen Leistung J. B. von Schweitzers erschien. Dieser ebenso energische wie fähige Mann hatte sich aufs eifrigste um die Mitarbeit von Marx und Engels beworben, hatte Liebknecht, wozu ihn niemand zwang, in die Redaktion aufgenommen und gleich in der zweiten und dritten Nummer seines Blattes die »Inauguraladresse« abgedruckt.

Nun hatte allerdings Moses Heß, der aus Paris für das Blatt korrespondierte, die Unabhängigkeit Tolains verdächtigt, indem er ihn einen Freund des Palais Royal nannte, wo Jerôme Bonaparte den roten Demagogen spielte, aber Schweitzer hatte den Brief erst nach ausdrücklicher |337|* Genehmigung Liebknechts veröffentlicht. Als sich Marx darüber beschwerte, ging Schweitzer noch weiter und ordnete an, daß Liebknecht alles selbst zu redigieren habe, was sich auf die Internationale bezöge; ja am 15. Februar 1865 schrieb er an Marx, er werde eine Resolution vorschlagen, worin der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein sein volles Einverständnis mit den Grundsätzen der Internationalen erklären und die Beschickung ihrer Kongresse versprechen solle, auf seinen formellen Anschluß aber lediglich aus Rücksicht auf die deutschen Bundesgesetze verzichten werde, die die Verbindung verschiedener Vereine verboten. Auf dieses Angebot hat Schweitzer keine Antwort mehr erhalten; vielmehr sagten sich Marx und Engels durch eine öffentliche Erklärung von der Mitarbeit für den »Social-Demokraten« los.

Daraus geht schon zur Genüge hervor, daß der peinliche Bruch in keiner Weise mit Zwistigkeiten wegen der Internationalen zu tun hatte. Was ihn veranlaßte, sagten Marx und Engels ganz offen in ihrer Erklärung. Sie hätten keinen Augenblick die schwierige Stellung des »Social-Demokraten« verkannt und keine für den Meridian von Berlin unpassenden Ansprüche erhoben. Aber sie hätten wiederholt gefordert, daß dem Ministerium und der feudal-absolutistischen Partei gegenüber eine wenigstens ebenso kühne Sprache geführt werde wie gegenüber den Fortschrittlern. Die von dem »Social-Demokraten« befolgte Taktik schlösse ihre weitere Betätigung an dem Blatte aus. Was sie einst in der »Deutschen-Brüsseler-Zeitung« über den königlich preußischen Regierungssozialismus und die Stellung der Arbeiterpartei zu solchem Blendwerk entwickelt hätten, in einer Antwort an den »Rheinischen Beobachter«, der eine »Allianz« des »Proletariats« mit der »Regierung« gegen die »liberale Bourgeoisie« vorgeschlagen habe, das unterschrieben sie auch jetzt Wort für Wort.

Mit einer solchen »Allianz« oder einem »preußischen Regierungssozialismus« hatte die Taktik des »Social-Demokraten« nichts zu tun. Nachdem sich die Hoffnung Lassalles, die deutsche Arbeiterklasse in einem mächtigen Anlauf aufzurütteln, als trügerisch erwiesen hatte, war der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein mit seinen paar tausend Mitgliedern eingeklemmt zwischen zwei Gegnern, deren jeder stark genug war, ihn zu erdrücken. So wie die Dinge damals lagen, hatte die junge Arbeiterpartei von dem stumpfsinnigen Haß der Bourgeoisie gar nichts, von dem verschlagenen Diplomaten Bismarck aber wenigstens so viel zu erwarten, daß er seine großpreußische Politik nicht ohne gewisse Zugeständnisse an die Volksmassen durchführen konnte. Weder über den Wert noch über den Zweck solcher Zugeständnisse hat sich Schweitzer |338| je einer Einbildung hingegeben, aber zu einer Zeit, wo der deutschen Arbeiterklasse die gesetzlichen Vorbedingungen ihrer Organisation so gut wie ganz fehlten, wo sie ein wirksames Wahlrecht überhaupt nicht besaß und Preß-, Vereins- und Versammlungsfreiheit der bürokratischen Willkür preisgegeben waren, war ein Vorwärtskommen nicht so möglich, daß der »Social-Demokrat« auf beide Gegner gleich heftig einschlug, sondern nur so, daß er einen gegen den andern ausspielte. Unerläßliche Vorbedingung einer solchen Politik war nur, daß die Unabhängigkeit der jungen Arbeiterpartei nach allen Seiten gewahrt und das Bewußtsein dieser Unabhängigkeit in den Arbeitermassen immer wach erhalten wurde.

Das aber hat Schweitzer mit gleichem Bemühen wie Erfolg getan, und man wird in dem « Social-Demokraten« vergebens auch nur nach einer Silbe suchen, die nach einer »Allianz« mit der Regierung gegen die Fortschrittspartei geschmeckt hätte. Verfolgt man die damalige öffentliche Tätigkeit Schweitzers im Zusammenhange mit der allgemeinen politischen Entwicklung, so wird man auf manche Fehler stoßen, wie Schweitzer übrigens selbst zugegeben hat, aber im wesentlichen auf eine kluge und konsequente Politik, die durchaus nur auf die Interessen der Arbeiterklasse abzielte und unmöglich von Bismarck oder welchem Reaktionär sonst immer diktiert sein konnte.

Vor Marx und Engels hatte Schweitzer, wenn auch sonst nichts, so doch die genaue Kenntnis der preußischen Zustände voraus. Sie sahen diese Zustände immer nur erst durch eine gefärbte Brille, und Liebknecht versagte in der aufklärenden und vermittelnden Tätigkeit, die ihm nach Lage der Dinge zugefallen wäre. Er war im Jahre 1862 nach Deutschland zurückgekehrt, auf den Ruf des roten Republikaners Braß, der ebenfalls aus dem Exil heimgekehrt war, um die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« zu begründen. Kaum aber war Liebknecht in die Redaktion eingetreten, als sich herausstellte, daß Braß das Blatt an das Ministerium Bismarck verkauft hatte. Liebknecht schied sofort aus; allein diese erste Erfahrung auf deutschem Boden war dennoch ein sehr unglücklicher Zufall für ihn. Nicht etwa nur in dem äußerlichen Sinne, daß er nun wieder auf der Straße lag wie in den langen Jahren des Exils. Darum kümmerte er sich am wenigsten: die Interessen seiner Sache standen ihm immer über den Interessen seiner Person. Aber sein Erlebnis mit Braß hinderte seine unbefangene Orientierung über die neuen Zustände, die er in Deutschland vorfand.

Liebknecht war wesentlich noch der alte Achtundvierziger, als er auf deutschen Boden zurückkehrte. Der alte Achtundvierziger im Sinne der |339| »Neuen Rheinischen Zeitung«, in der die sozialistische Theorie und selbst der proletarische Klassenkampf noch sehr zurücktraten hinter dem revolutionären Kampf der Nation gegen die Herrschaft rückständiger Klassen. Die sozialistische Theorie, so gut er ihre Grundgedanken verstand, ist in ihrem gelehrten Gerüste niemals die Sache Liebknechts gewesen; was er in den Jahren des Exils von Marx gelernt hatte, war besonders die Neigung, die weiten Gefilde der internationalen Politik nach revolutionären Keimen abzuleuchten. Dabei kam für Marx und Engels, die als geborene Rheinländer allzu verächtlich über alles ostelbische Wesen dachten, der preußische Staat schon sehr zu kurz, und nun vollends für Liebknecht, der, ein geborener Süddeutscher, in den Bewegungsjahren nur auf badischem und schweizerischem Boden, den Ursitzen der Kantönlipolitik, tätig gewesen war. Preußen war ihm immer noch der vormärzliche Vasallenstaat des Zarentums, der sich mit den verächtlichen Mitteln der Korruption gegen den geschichtlichen Fortschritt sträube und vor allem über den Haufen gerannt werden müsse, ehe an moderne Klassenkämpfe in Deutschland zu denken sei. Liebknecht erkannte nicht, wie sehr die ökonomische Entwicklung der fünfziger Jahre auch den preußischen Staat umgewandelt und Zustände in ihm geschaffen hatte, unter deren Einwirkung die Loslösung der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Demokratie eine geschichtliche Notwendigkeit geworden war.

So war ein dauerndes Einvernehmen zwischen Liebknecht und Schweitzer unmöglich, und in Liebknechts Augen schlug es dem Fasse den Boden aus, als Schweitzer fünf Artikel über das Ministerium Bismarck veröffentlichte, die an sich zwar eine meisterhafte Parallele zwischen der großpreußischen und der proletarisch-revolutionären Politik in der deutschen Einheitsfrage zogen, aber an dem »Fehler« litten, die gefährliche Wucht der großpreußischen Politik so beredt zu schildern, daß diese fast verherrlicht zu werden schien. Dagegen beging Marx den »Fehler«, in einem Schreiben vom 13. Februar an Schweitzer auszuführen, daß von der preußischen Regierung wohl allerlei frivole Spielereien mit Produktivgenossenschaften, aber keine Aufhebung der Koalitionsverbote zu erwarten sei, die den Bürokratismus und die Polizeiherrschaft durchbräche. Marx vergaß dabei nur zu sehr, was er einst so beredt gegen Proudhon ausgeführt hatte, daß die Regierungen nicht die wirtschaftlichen Verhältnisse kommandieren, sondern die wirtschaftlichen Verhältnisse umgekehrt die Regierungen. Wenige Jahre noch, und das Ministerium Bismarck mußte, gern oder ungern, die Koalitionsverbote aufheben. In seiner Antwort vom 15. Februar - demselben |340| Briefe, worin Schweitzer den Anschluß des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins an die Internationale zu befördern versprach und nochmals betonte, Liebknecht habe alles, was sich auf die Internationale bezöge, selbständig zu redigieren - bemerkte Schweitzer, er werde jede theoretische Aufklärung, die ihm Marx gewähre, gern entgegennehmen, aber um die praktischen Fragen momentaner Taktik richtig zu entscheiden, müsse man im Mittelpunkte der Bewegung stehen und die Verhältnisse genau kennen. Daraufhin vollzogen Marx und Engels den Bruch.

Völlig erklärt werden diese Irrungen und Wirrungen doch nur durch das verhängnisvolle Treiben der Gräfin Hatzfeldt. Die alte Freundin Lassalles hat sich damals aufs schwerste versündigt an dem Andenken des Mannes, der einst ihr Leben vor dem Tode der Infamie geschützt hatte. Sie wollte aus der Schöpfung Lassalles eine autoritätsgläubige Sekte machen, die auf die Worte des Meisters schwor, nicht einmal so, wie dieser sie gesprochen hatte, sondern wie die Gräfin Hatzfeldt sie auslegte. Den Unfug, den sie trieb, ersieht man aus einem Briefe, den Engels am 10. März an Weydemeyer richtete. Es heißt darin nach einigen Worten über die Gründung des »Social-Demokraten«: »Nun aber entstand in dem Blättchen einerseits ein unerträglicher Lassalle-Kultus, während wir inzwischen positiv erfuhren (die alte Hatzfeldt erzählte es dem Liebknecht und forderte ihn auf, in diesem Sinne zu wirken), daß Lassalle viel tiefer mit Bismarck drin war, als wir je gewußt hatten. Es existierte eine förmliche Allianz zwischen beiden, die so weit gekommen war, daß Lassalle nach Schleswig-Holstein gehn sollte und da für die Annexation der Herzogtümer an Preußen auftreten, während Bism[arck] weniger bestimmte Zusagen wegen Einführung einer Art allgemeinen Stimmrechts und bestimmtere wegen Koalitionsrecht und sozialer Konzessionen, Staatsunterstützung für Arbeiterassoziationen usw. gemacht hatte. Gedeckt war der dumme Lassalle dem Bism[arck] gegenüber durch gar nichts, au contraire [von Mehring übersetzt: im Gegenteil], er wäre sans façon [von Mehring übersetzt: ohne Umstände] ins Loch geworfen worden, sobald er unbequem wurde. Die Herren vom ›Social-Demokrat‹ wußten das und fuhren trotz alledem mit dem Kultus Lassalles heftiger und heftiger fort. Dazu aber kam, daß die Kerle sich durch Drohungen von seiten Wageners (von der ›Kreuzzeitung‹) einschüchtern ließen, Bismarck die Cour zu schneiden, mit ihm zu kokettieren, etc., etc. ... Wir ließen inliegende Erklärung drucken und traten ab, wobei auch Liebknecht abtrat.« Es ist schwer verständlich, daß Marx und Engels und Liebknecht, die alle Lassalle gekannt hatten |341| und alle den »Social-Demokrat« lasen, an die Märchen der Gräfin Hatzfeldt glaubten, aber wenn sie einmal daran glaubten, so war es nur zu verständlich, wenn sie sich von der Bewegung abwandten, die Lassalle eingeleitet hatte.

Eine praktische Wirkung auf diese Bewegung hatte ihre Absage jedoch nicht. Selbst alte Mitglieder des Kommunistenverbandes wie Röser, der einst vor den Kölner Assisen so beredt die Grundsätze des »Kommunistischen Manifestes« verfochten hatte, erklärten sich für die Taktik Schweitzers.

4. Die erste Konferenz in London

Wenn so die Lassalleaner von vornherein aus dem neuen Bunde ausschieden, so ging auch die Werbearbeit unter den englischen Gewerkschaften und den französischen Proudhonisten zunächst nur langsam vor sich.

Es war doch erst ein kleiner Kreis von Gewerkschaftsführern, der die Notwendigkeit des politischen Kampfes begriffen hatte, und auch er sah in der Internationalen mehr nur ein Mittel für seine gewerkschaftlichen Zwecke. Aber wenn diese Männer wenigstens ein großes Maß praktischer Erfahrung in allen Organisationsfragen besaßen, so fehlte es den französischen Proudhonisten hierin nicht weniger als an einer klaren Einsicht in das geschichtliche Wesen der Arbeiterbewegung. Es war eben eine gewaltige Aufgabe, die sich der neue Bund gestellt hatte, und sie zu lösen, bedurfte es eines gewaltigen Fleißes wie einer gewaltigen Kraft.

Marx hat beides aufgeboten, den Fleiß wie die Kraft, obgleich er damals immer wieder von schmerzhaften Krankheiten geplagt wurde und darauf brannte, sein wissenschaftliches Hauptwerk zu einem gewissen Abschluß zu bringen. Er seufzte wohl einmal: »Das Schlimme bei solcher Agitation ist, daß man sehr bothered [Mehring übersetzt: gestört] wird, sobald man sich dran beteiligt« oder er meinte, die Internationale, und was drum und dran hänge, laste »wie ein Inkubus« auf ihm, und er wäre froh, sie abschütteln zu können. Aber das ginge nun einmal nicht; wer A gesagt habe, müsse auch B sagen, und im Grunde wäre Marx nicht er selbst gewesen, wenn ihn das Tragen dieser Last nicht doch froher und glücklicher gemacht hätte, als ihn ihr Abschütteln irgend hätte machen können.

Es stellte sich alsbald heraus, daß er das eigentliche »Haupt« der |342| ganzen Bewegung war. Nicht als ob er sich irgendwie vorgedrängt hätte; er hatte eine grenzenlose Verachtung für alle wohlfeile Popularität, und von der Demokratenmanier, öffentlich sich wichtig zu machen und nichts zu tun, wollte er sich dadurch unterscheiden, daß er hinter den Kulissen arbeitete und öffentlich verschwände. Aber keiner von allen, die in dem kleinen Bunde tätig waren, besaß auch nur entfernt die seltenen Eigenschaften, die für seine so umfassende Agitation notwendig waren: den klaren und tiefen Einblick in die Gesetze der geschichtlichen Entwicklung, die Energie, das Notwendige zu wollen, und die Geduld, sich mit dem Möglichen zu bescheiden, die langmütige Nachsicht mit dem ehrlichen Irrtum und die herrische Unerbittlichkeit gegen verstockte Unwissenheit. Auf ungleich weiterem Gebiete, als einst in dem revolutionären Köln, konnte Marx jetzt seine unvergleichliche Tätigkeit üben, die Menschen zu beherrschen, indem er sie lehrte und leitete.

»Enorm viel Zeit« kosteten ihm von vornherein die persönlichen Häkeleien und Streitigkeiten, die von den Anfängen solcher Bewegungen unzertrennlich zu sein pflegen; die italienischen und namentlich die französischen Mitglieder machten viel unnütze Schwierigkeiten. In Paris bestand seit den Revolutionsjahren eine tiefe Abneigung zwischen »Kopf- und Handarbeitern«; die Proletarier konnten den nur allzu häufigen Verrat der Literaten nicht vergessen, und die Literaten verketzerten jede Arbeiterbewegung, die nichts von ihnen wissen wollte. Aber auch innerhalb der Arbeiterklasse selbst wucherte unter dem Druck des bonapartistischen Militärdespotismus der Verdacht bonapartistischer Mogeleien, zumal da jedes Mittel der Verständigung durch Vereine oder Zeitungen fehlte. Das Brodeln dieser »Franzosensuppe« hat dem Generalrat manchen kostbaren Abend und manche weitläufige Resolution gekostet.

Erfreulicher und fruchtbarer für Marx waren die Arbeiten, womit er an den englischen Zweig der Internationalen anknüpfte. Wie die englischen Arbeiter das Eintreten der englischen Regierung für die rebellischen Südstaaten der Union bekämpft hatten, so war es ihr gutes Recht, Abraham Lincoln zu seiner Wiederwahl als Präsidenten zu beglückwünschen. Marx entwarf die Adresse an den »einfachen Sohn der Arbeiterklasse, dem die Aufgabe zugefallen sei, sein Land durch de erhabenen Kampf für die Befreiung einer geknechteten Rasse zu führen« [7]; solange die weißen Arbeiter der Union nicht begriffen hätten, daß die Sklaverei ihre Republik schände, solange sie sich vor dem Neger, der verkauft wurde, ohne um seine Einwilligung gefragt zu werden, mit dem hohen Vorrecht des weißen Arbeiters gebrüstet hätten, sich |343| selbst verkaufen und den Herrn auswählen zu dürfen, solange seien sie unfähig gewesen, die wahre Freiheit zu erlangen oder den Emanzipationskampf ihrer europäischen Brüder zu unterstützen. Aber diese Schranke habe das rote Blutmeer des Bürgerkrieges hinweggeschwemmt. Die Adresse war mit offenbarer Lust und Liebe zur Sache entworfen, obgleich Marx, der wie Lessing von den eigenen Arbeiten in wegwerfendem Tone zu sprechen liebte, an Engels schrieb, er habe das Zeug aufzusetzen gehabt (was viel schwerer sei als eine inhaltliche Arbeit), damit sich die Phraseologie, auf die sich solche Schreiberei beschränke, wenigstens von der demokratischen Vulgärphraseologie unterscheide. Lincoln empfand den Unterschied sehr wohl; er antwortete in sehr freundlichem und herzlichem Tone, zur Verwunderung der Londoner Presse, denn Glückwunschadressen von bürgerlich-demokratischer Seite fertigte der »old man« mit ein paar formellen Komplimenten ab.

»Inhaltlich« war dann freilich noch viel wichtiger eine Abhandlung über »Lohn, Preis und Profit« [8], die Marx am 26. Juni 1865 im Generalrat der Internationalen vortrug, um die von einzelnen Mitgliedern vertretene Ansicht zu widerlegen, daß ein allgemeines Steigen des Lohnes den Arbeitern nichts nutzen könne und deshalb die Trade Unions schädlich wirkten. Diese Ansicht ging von dem Irrtum aus, daß der Arbeitslohn den Wert der Waren bestimme, und daß, wenn die Kapitalisten heute 5 Schilling Lohn statt 4 zahlten, sie morgen, infolge der gestiegenen Nachfrage, ihre Waren für 5 Schilling statt 4 verkaufen würden. Marx meinte, so fad das nun sei und sich nur an die äußerlichste Oberfläche der Erscheinung halte, so sei es doch nicht leicht, alle die ökonomischen Fragen, die damit zusammenhingen, Ignoranten auseinanderzusetzen; ein Kurs in politischer Ökonomie lasse sich nicht in eine Stunde zusammendrängen. Indessen gelang es ihm vortrefflich, und die Trade Unions dankten ihm einen wesentlichen Dienst.

Vor allem war es aber die aufspringende Bewegung um die englische Wahlreform, der die Internationale ihre ersten namhaften Erfolge verdankte. Schon am 1. Mai 1865 meldete Marx an Engels: »Die Reform League ist unser Werk. In dem engeren Ausschuß der Zwölf (je sechs Mann von der Mittel- und der Arbeiterklasse) sind alle Arbeiter Mitlieder unseres Generalrats (darunter Eccarius). Alle mittleren Bürgerversuche, die Arbeiter irrezuführen, haben wir vereitelt ... Gelingt diese Reelektrisierung der politischen Bewegung der englischen Arbeiterklasse, so hat unsere Assoziation, ohne irgendwelches Aufheben zu machen, schon mehr für die europäische Arbeiterklasse geleistet, als auf irgendeinem anderen Wege möglich gewesen wäre. Und es ist alle Aussicht |344|* auf Erfolg vorhanden.« Darauf antwortete Engels am 3. Mai: »Die Internationale Assoziation hat sich wirklich in der kurzen Zeit und mit dem wenigen Spektakel ein kolossales Terrain erobert. Es ist aber gut, daß sie jetzt in England beschäftigt wird, statt sich ewig mit den französischen Klüngeleien beschäftigen zu müssen. Da hast Du doch etwas für Deinen Zeitverlust.« Es sollte sich freilich bald herausstellen, daß auch dieser Erfolg seine Kehrseite hatte.

Alles in allem hielt Marx die Lage noch nicht reif genug für einen öffentlichen Kongreß, wie er für das Jahr 1865 in Brüssel vorgesehen war. Er fürchtete von ihm nicht mit Unrecht ein babylonisches Sprachgewirr. Mit vieler Mühe gelang es ihm, namentlich gegen den Widerstand der Franzosen, den öffentlichen Kongreß in eine geschlossene vorläufige Konferenz in London umzuwandeln, zu der nur Vertreter der leitenden Komitees kommen sollten, um den künftigen Kongreß vorzubereiten. Als Gründe führte Marx an die Notwendigkeit einer solchen vorherigen Verständigung, die Wahlbewegung in England und die in Frankreich beginnenden Streiks, endlich ein eben in Belgien erlassenes Fremdengesetz, das die Abhaltung eines Kongresses in Brüssel unmöglich mache.

Diese Konferenz tagte vom 25. bis 29. September 1865. Vom Generalrat waren neben dem Präsidenten Odger, dem Generalsekretär Cremer und einigen anderen englischen Mitgliedern abgesandt Marx und seine beiden Hauptgehilfen in Sachen der Internationalen, Eccarius und Jung, ein schweizerischer Uhrmacher, der in London ansässig war und gleich gut deutsch, englisch und französisch sprach. Aus Frankreich waren Tolain, Fribourg, Limousin gekommen, die alle der Internationalen abtrünnig werden sollten, daneben Schily, Marxens alter Freund schon von 1848 her, und Varlin, der spätere Held und Märtyrer der Pariser Kommune. Aus der Schweiz der Buchbinder Dupleix für die romanischen und Johann Philipp Becker, der ehemalige Bürstenbinder und nunmehrige unermüdliche Agitator, für die deutschen Arbeiter. Aus Belgien César de Paepe, der sich als Setzerlehrling auf das Studium der Medizin geworfen und es bis zum Arzt gebracht hatte.

Die Konferenz beschäftigte sich zunächst mit den Finanzen des Bundes. Es ergab sich, daß für das erste Jahr nicht mehr als etwa 33 Pfund aufgebracht worden waren. Über einen regelmäßigen Mitgliederbeitrag einigte man sich noch nicht, man beschloß, zum Zwecke der Propaganda und für die Kosten des Kongresses 150 Pfund aufzubringen, und zwar von England 80, Frankreich 40, von Deutschland, Belgien und der Schweiz je 10 Pfund. Lebendig geworden ist das Budget freilich nicht, |345| denn »der Nerv der Dinge« ist niemals der Nerv der Internationalen gewesen. Noch nach Jahren meinte Marx mit grimmigem Humor, die Finanzen des Generalrats seien stets wachsende, negative Größen, und nach Jahrzehnten schrieb Engels, statt der vielberufenen »Millionen der Internationalen« habe der Generalrat meist nur über Schulden verfügt; wohl nie sei mit so wenig Geld so viel geleistet worden.

Über die Lage in England berichtete der Generalsekretär Cremer. Man halte auf dem Festlande die Trade Unions für sehr reich, die eine Sache, die ja auch die ihrige sei, unterstützen könnten, aber sie seien an kleinliche Statuten gebunden, die sie in engen Grenzen hielten. Mit Ausnahme einiger weniger Männer wüßten sie auch nichts von Politik, deren Verständnis man ihnen schwer beibringen könne. Immerhin zeige sich ein gewisser Fortschritt. Vor wenigen Jahren würde man Abgesandte der Internationalen gar nicht erst angehört haben; heute nehme man sie freundlich auf, höre sie an und billige ihre Grundsätze. Es sei der erste Fall, daß eine Vereinigung, die irgend etwas mit Politik zu tun habe, sich bei den Trade Unions so habe einführen können.

Aus Frankreich berichteten Fribourg und Tolain, daß die Internationale eine günstige Aufnahme gefunden habe; außer in Paris seien Mitglieder in Rouen, Nantes, Elbeuf, Caen und andern Orten angeworben und eine ansehnliche Zahl von Mitgliedskarten zum Jahresbetrage von 1,25 Franken verkauft worden, doch sei der Erlös für die Einrichtung eines Pariser Zentralbüros und die Reisekosten der Delegierten draufgegangen. Der Generalrat wurde auf den Verkauf der 400 Mitgliedskarten vertröstet, die noch nicht abgesetzt worden seien. Die französischen Delegierten klagten über die Verschiebung des Kongresses als ein großes Hindernis der Entwicklung, auch über die Verängstigung der Arbeiter durch das bonapartistische Polizeiregiment; man begegne fortwährend dem Einwande: Zeigt, daß ihr handeln könnt, und wir wollen uns anschließen.

Recht günstig lauteten die Berichte, die Becker und Dupleix aus der Schweiz erstatteten, obgleich hier die Agitation erst vor sechs Monaten begonnen hatte. In Genf zählte man 400, in Lausanne 150 Mitglieder und ebenso viele in Vevey. Der monatliche Mitgliederbeitrag betrüge 50 Pence, doch würden die Mitglieder auch das Doppelte zahlen; sie seien ganz und gar von der Notwendigkeit durchdrungen, für den Generalrat zu steuern. Geld brächten die Delegierten freilich auch noch nicht mit, sondern nur den Trost, daß sie einen netten Überschuß mitgebracht haben würden, wenn ihre Reisekosten nicht gewesen wären.

|346| In Belgien bestand die Agitation erst einen Monat. Doch berichtete de Paepe, es seien bereits 60 Mitglieder geworben worden, die sich verpflichtet hätten, jährlich mindestens 3 Franken zu zahlen, wovon dem Generalrat der dritte Teil abgeführt werden sollte.

Was den Kongreß anbetraf, so beantragte Marx im Namen des Generalrats, ihn im September oder Oktober 1866 in Genf abzuhalten. Der Ort wurde einstimmig genehmigt, doch der Zeitpunkt auf lebhaftes Andringen der Franzosen bis auf die letzte Woche des Mai vorgeschoben. Die Franzosen verlangten auch, daß wer eine Mitgliedskarte aufweisen könne, Sitz und Stimme auf dem Kongreß beanspruchen dürfe; sie meinten, das sei eine Prinzipienfrage für sie, so sei das allgemeine Stimmrecht zu verstehen. Nur nach heißer Debatte war die Vertretung durch Delegierte durchzusetzen, die namentlich Cremer und Eccarius befürworteten.

Die Tagesordnung des Kongresses war vom Generalrat sehr reichlich vorgesehen: genossenschaftliche Arbeit; Verkürzung der Arbeitszeit; Frauen- und Kinderarbeit; Vergangenheit und Zukunft der Gewerkschaften: Einfluß der stehenden Heere auf die Interessen der arbeitenden Klassen usw. Alles wurde einstimmig angenommen; nur zwei Punkte riefen Meinungsverschiedenheiten hervor.

Der eine dieser Punkte wurde nicht vom Generalrat vorgeschlagen, sondern von den Franzosen. Sie verlangten als besonderen Gegenstand der Tagesordnung: religiöse Ideen und ihr Einfluß auf die soziale, politische und geistige Bewegung. Wie sie daraufkamen und wie Marx sich dazu stellte, ergibt sich vielleicht am kürzesten aus einigen Sätzen seines Nachrufs auf Proudhon, den er wenige Monate früher im »Social-Demokrat« Schweitzers veröffentlicht hatte, beiläufig seinem einzigen Beitrage für dies Blatt: »Seine Angriffe gegen Religion, Kirche usw. besitzen jedoch ein großes lokales Verdienst zu einer Zeit, wo die französischen Sozialisten es passend hielten, dem bürgerlichen Voltairianismus des 18. und der deutschen Gottlosigkeit des 19. Jahrhunderts durch Religiosität überlegen zu sein. Wenn Peter der Große die russische Barbarei durch Barbarei niederschlug, so tat Proudhon sein Bestes, das französische Phrasenwesen durch die Phrase niederzuwerfen.«[9] Auch englische Delegierte warnten vor diesem »Apfel der Zwietracht«, doch setzten die Franzosen ihren Antrag mit 18 gegen 13 Stimmen durch.

Der andere Punkt der Tagesordnung, um den gestritten wurde, war vom Generalrat vorgeschlagen und betraf eine Frage der europäischen Politik, die für Marx besonders wichtig war, nämlich »die Notwendigkeit, den fortschreitenden Einfluß Rußlands in Europa zu hemmen, |347| indem man gemäß dem Selbstbestimmungsrechte der Nationen ein unabhängiges Polen auf demokratischer und sozialistischer Basis wiederherstelle«. Davon wollten namentlich die Franzosen wieder nichts wissen; weshalb politische Fragen mit sozialen vermischen, weshalb in die Ferne schweifen, wo so viele Unterdrückung vor der eigenen Tür zu bekämpfen, weshalb den Einnuß der russischen Regierung hemmen, da der Einfluß der preußischen, österreichischen, französischen und englischen Regierung nicht weniger verhängnisvoll sei? Besonders entschieden sprach auch der belgische Delegierte in diesem Sinne. César de Paepe meinte, die Wiederherstellung Polens könne nur drei Klassen nützen: dem hohen Adel, dem niederen Adel und der Geistlichkeit.

Hier ist nun der Einfluß Proudhons ganz greifbar. Proudhon hatte sich wiederholt gegen die Wiederherstellung Polens ausgesprochen, zuletzt noch zur Zeit des polnischen Aufstandes von 1863, worin er, wie Marx in seinem Nachrufe sagte, zu Ehren des Zaren kretinhaften Zynismus trieb. Umgekehrt hatte derselbe Aufstand die alten Sympathien, die Marx und Engels in den Revolutionsjahren für die polnische Sache bekundet hatten, wieder aufgefrischt: sie wollten ein gemeinsames Manifest daran knüpfen, aus dem freilich nichts geworden ist.

Ihre Sympathie für Polen war keineswegs kritiklos; am 21. April 1863 schrieb Engels an Marx: »Ich muß sagen, für die Polacken von 1772 sich zu begeistern, dazu gehört ein Büffel. Im größten Teil von Europa fiel doch damals der Adel mit Anstand, teilweise mit esprit [Mehring übersetzt: Witz], so sehr auch seine allgemeine Maxime war, daß der Materialismus in dem bestehe, was man esse, trinke, beschlafe, im Spiel gewinne oder für Schuftereien bezahlt erhalte, aber so dumm in der Methode, sich an die Russen zu verkaufen wie die Polacken, war doch sonst kein Adel.« Allein solange an eine Revolution in Rußland selbst noch nicht gedacht werden konnte, bot die Wiederherstellung Polens die einzige Möglichkeit, den zarischen Einfluß auf die europäische Kultur zurückzuschrauben, und dementsprechend sah Marx in der grausamen Unterdrückung des polnischen Aufstandes und dem gleichzeitigen Vordringen des zarischen Despotismus im Kaukasus die wichtigsten europäischen Ereignisse seit dem Jahre 1815. Auf sie hatte er in dem Abschnitt der »Inauguraladresse«, der sich mit der auswärtigen Politik des Proletariats beschäftigte, den stärksten Nachdruck gelegt, und über den Widerstand, den dieser Punkt der Tagesordnung bei Tolain, Fribourg und andern fand, hat er sich noch lange nachher bitter geäußert. Zunächst freilich gelang es ihm, diesen Widerstand mit Hilfe der englischen Delegierten zu brechen; die polnische Frage blieb auf der Tagesordnung.

|348| Die Konferenz tagte morgens in geschlossenen Sitzungen, denen Jung, und abends in halböffentlichen Versammlungen, denen Odger vorsaß. In diesen Versammlungen wurden die Fragen, soweit sie in den geschlossenen Sitzungen geklärt worden waren, in weiteren Arbeiterkreisen besprochen. Die Pariser Delegierten veröffentlichten einen Bericht über die Konferenz und das für den Kongreß aufgestellte Programm, das in der Pariser Presse einen lebhaften Widerhall fand. Mit augenscheinlicher Befriedigung notierte Marx: »Unsre Pariser sind etwas verblüfft, daß der Paragraph über Rußland und Polen, den sie nicht haben wollten, grade am meisten Sensation macht.« Und auf den »enthusiastischen Kommentar«, den dieser Paragraph im besonderen wie das Kongreßprogramm im allgemeinen durch Henri Martin, den bekannten französischen Historiker fand, hat sich Marx noch nach einem Dutzend von Jahren gern berufen.

5. Der deutsche Krieg

Für ihn persönlich hatte die Hingebung, die er der Internationalen widmete, die unerfreuliche Folge, daß die dadurch herbeigeführte Stockung seiner Erwerbsarbeit wieder alle Nöte heraufbeschwor.

Schon am 31. Juli mußte er an Engels schreiben, daß er seit zwei Monaten rein aufs Pfandhaus lebe. »Ich versichere Dir, ich hätte mir lieber den Daumen abhauen lassen, als diesen Brief an Dieb zu schreiben. Es ist wahrhaft niederschmetternd, sein halbes Leben abhängig zu bleiben. Der einzige Gedanke, der mich dabei aufrechthält, ist der, daß wir zwei ein Kompaniegeschäft treiben, wo ich meine Zeit für den theoretischen und Parteiteil des business gebe. Ich wohne allerdings zu teuer für meine Verhältnisse, und außerdem haben wir dies Jahr besser gelebt als sonst. Aber es ist das einzige Mittel, damit die Kinder, abgesehn von dem vielen, was sie erlitten hatten und wofür sie wenigstens kurze Zeit entschädigt wurden, Beziehungen und Verhältnisse eingehn können, die ihnen eine Zukunft sichern können. Ich glaube, Du selbst wirst der Ansicht sein, daß, selbst bloß kaufmännisch betrachtet, eine reine Proletariereinrichtung hier unpassend wäre, die ganz gut ginge, wenn meine Frau und ich alleine oder wenn die Mädchen Jungen wären«. Engels half sofort, doch für ein paar Jahre begann nun noch einmal die Not mit den gemeinen Sorgen des Lebens.

Einige Monate darauf eröffnete sich für Marx eine neue Erwerbsquelle durch ein ebenso sonderbares wie unerwartetes Angebot, das er |349| durch einen Brief Lothar Buchers vom 5. Oktober 1865 erhielt. Beide Männer hatten in den Jahren, wo Bucher als Flüchtling in London lebte, keine Beziehungen zueinander gehabt, am wenigsten freundliche; auch nachdem Bucher eine selbständige Stellung innerhalb des allgemeinen Emigrantenknäuels einzunehmen begonnen und sich an Urquhart angeschlossen hatte als dessen begeisterter Anhänger, blieb Marx gegen ihn sehr kritisch gestimmt. Dagegen äußerte sich Bucher über die Streitschrift, die Marx gegen Vogt gerichtet hatte, sehr günstig zu Borkheim und wollte sie in der »Allgemeinen Zeitung« besprechen, was jedoch unterblieben ist, sei es, daß Bucher sie nicht geschrieben oder das Augsburger Blatt sie abgelehnt hat. Bucher war dann nach Erlaß der preußischen Amnestie heimgekehrt und hatte sich in Berlin mit Lassalle befreundet; mit diesem kam er 1862 zur Weltausstellung nach London, und nun war er auch durch Lassalle mit Marx persönlich bekannt geworden, der in ihm »ein ganz feines, wenn auch verzwicktes Männchen« fand, dem er nicht zutraute, mit Lassalles »auswärtiger Politik« einverstanden zu sein. Nach Lassalles Tode hatte sich Bucher in die Dienste der preußischen Regierung begeben und danach hatte Marx ihn und Rodbertus in einem Brief an Engels mit dem Kraftwort erledigt: Lumpenpack, all das Gesindel aus Berlin, Mark und Pommern!«

Nun schrieb Bucher an Marx: »Zuerst business! Der ›Staats-Anzeiger‹ wünscht monatlich einen Bericht über die Bewegung des Geldmarkts (und natürlich auch des Warenmarkts, soweit beides nicht zu trennen). Ich wurde gefragt, ob ich jemanden empfehlen könnte, und erwiderte, niemand würde das besser machen als Sie. Ich bin infolgedessen ersucht worden, mich an Sie zu wenden. Es werden Ihnen in betreff der Größe des Artikels keine Grenzen gesetzt, je gründlicher und umfassender, desto besser. In betreff des Inhalts versteht es sich, daß Sie nur Ihrer wissenschaftlichen Überzeugung folgen; jedoch würde die Rücksicht auf den Leserkreis (haute finance), nicht auf die Redaktion, es ratsam machen, daß Sie den innersten Kern nur eben für den Sachverständigen durchscheinen lassen und Polemik vermeiden.« Es folgten noch ein paar geschäftliche Bemerkungen, eine Erinnerung an einen gemeinsamen Ausflug mit Lassalle, dessen Ende ihm noch immer ein »psychologisches Rätsel« sei und die Mitteilung, daß er, wie Marx wisse, zu seiner ersten Liebe, den Akten, zurückgekehrt sei. »Ich war immer mit Lassalle darüber verschiedener Meinung, daß er sich die Entwicklung so schnell dachte. Der Fortschritt wird sich noch oft häuten, ehe er stirbt; wer also während seines Lebens noch innerhalb des Staates wirken will, der muß sich ralliieren um die Regierung.« Der Brief schloß, nach einer Empfehlung |350|* an Frau Marx und Grüßen an die jungen Damen, besonders die ganz kleine, mit der üblichen Floskel: Hochachtungsvoll und ergebenst.

Marx antwortete ablehnend, doch fehlen nähere Angaben darüber, was er schrieb und wie er über den Brief Buchers dachte. Gleich nach dessen Empfang reiste er nach Manchester, wo er die Sache mit Engels besprochen haben wird; in ihrem Briefwechsel wird sie nicht erwähnt, und auch sonst hat sie Marx in den Briefen an seine Freunde, soweit sie bisher bekannt geworden sind, nur einmal flüchtig gestreift. Wohl aber hat er den Brief Buchers vierzehn Jahre später, als nach den Attentaten Hödels und Nobilings die tobende Sozialistenhetze in Berlin losbrach, in das Lager der Hetzer geschleudert, wo er mit der zerstörenden Kraft einer Bombe explodiert ist. Bucher war damals Sekretär des Berliner Kongresses und hatte nach der Versicherung seines offiziösen Biographen den Entwurf des ersten Sozialistengesetzes verfaßt, das nach dem Attentate Hödels dem Reichstage vorgelegt, aber von diesem noch abgelehnt wurde.

Seitdem ist viel darüber geschrieben worden, ob Bismarck durch den Brief Buchers versucht habe, Marx zu kaufen. Es ist richtig, daß Bismarck im Herbst 1865, als der Vertrag von Gastein den drohenden Bruch mit Österreich nur notdürftig verkittet hatte, sicher geneigt war, nach seinem eigenen Jägervergleich »alle Hunde loszulassen, die bellen wollen«. Er war freilich viel zu eingefleischter ostelbischer Junker, um etwa in der Weise eines Disraeli oder auch nur eines Bonaparte mit der Arbeiterfrage zu liebäugeln; es ist bekannt, wie drollige Vorstellungen er sich von Lassalle machte, mit dem er doch mehrfach persönlich verkehrt hatte. Nun hatte er in seiner nächsten Umgebung zwei Personen, die in diesem delikaten Punkte besser Bescheid wußten, eben Lothar Bucher und Hermann Wagener, und Wagener hat sich damals auch eifrig bemüht, die deutsche Arbeiterbewegung zu ködern, und soweit es auf die Gräfin Hatzfeld ankam, hat er sie auch geködert. Aber Wagener war als geistiger Leiter der Junkerpartei und alter Freund Bismarcks schon aus vormärzlicher Zeit ungleich unabhängiger gestellt als Bucher, der ganz auf Bismarcks Wohlwollen angewiesen blieb, da ihn die Bürokratie als unberufenen Eindringling mit scheelen Blicken betrachtete, wie auch der König von wegen 1848 nichts von ihm wissen wollte. Ohnehin war Bucher ein schwacher Charakter, ein »Fisch ohne Gräten«, wie sein Freund Rodbertus ihn zu nennen pflegte.

Hat also Marx durch den Brief Buchers gekauft werden sollen, so ist es sicherlich nicht ohne Vorwissen Bismarcks geschehen. Es fragt sich nur, ob ein solcher Kaufversuch vorgelegen hat. Die Art, wie Marx den Brief Buchers gegen die Sozialistenhetze von 1878 verwertete, war ein |351| ebenso erlaubter wie geschickter Schachzug, aber damit ist noch nicht einmal beweisen, daß Marx den Brief Buchers von Anfang an als Bestechungsversuch aufgefaßt hat, geschweige denn, daß er ein solcher Versuch gewesen ist. Bucher wußte sehr gut, daß Marx, seit seiner Absage an Schweitzer, bei den Lassalleanern einstweilen sehr schlecht angeschrieben war, und zudem war ein Monatsbericht über den internationalen Geld- und Warenmarkt in der langweiligsten aller deutschen Zeitungen kaum das geeignete Mittel, die allgemeine Mißstimmung gegen Bismarcks Politik zu beschwichtigen oder gar die Arbeiter für diese Politik zu gewinnen. So hat Buchers Versicherung, er habe den alten Exilsgenossen dem Kurator des »Staats-Anzeigers« ohne alle politischen Hintergedanken empfohlen, viel für sich, etwa mit der Einschränkung, daß sich der Kurator einen fortschrittlichen Manchestermann von vornherein verbeten haben mag. Nachdem Bucher bei Marx abgeblitzt war, wandte er sich an Dühring, der sich auf die Sache einließ, aber sie bald aufgab, da der Kurator keineswegs die Achtung vor der »wissenschaftlichen Überzeugung« bewies, die ihm Bucher nachgerühmt hatte.

Schlimmer noch, als die wirtschaftliche Bedrängnis, in die Marx durch seine aufreibende Tätigkeit für die Internationale und sein wissenschaftliches Werk geriet, war die wachsende Erschütterung seiner Gesundheit. Am 10. Februar 1866 schrieb ihm Engels: »Du mußt wirklich endlich etwas Vernünftiges tun, um aus diesem Karbunkelkram herauszukommen ... Laß das Nachtsarbeiten einige Zeit sein und führe eine etwas regelmäßigere Lebensweise.« Darauf antwortete Marx am 13. Februar: »Gestern lag ich wieder brach, da ein bösartiger Hund von Karbunkel an linker Lende ausgebrochen. Hätte ich Geld genug, das heißt mehr >- 0, für meine Familie, und wäre mein Buch fertig, so wäre es mir völlig gleichgültig, ob ich heute oder morgen auf den Schindanger geworfen würde, alias verreckte. Unter besagten Umständen geht es aber noch nicht.« Und eine Woche darauf erhielt Engels die Schreckensbotschaft: »Diesmal ging es um die Haut. Meine Familie wußte nicht, wie serieux [Mehring übersetzt: ernst] der cas [Mehring übersetzt: Fall] war. Wenn sich das Zeug noch drei- bis viermal in derselben Form wiederholt, bin ich ein Mann des Todes. Ich bin wundervoll abgefallen und noch verdammt schwach, nicht im Kopf, sondern in Lende und Bein. Die Ärzte haben ganz recht, daß übertriebne Nachtarbeit die Hauptursache dieses Rückfalls. Aber ich kann den Herren nicht die Ursachen mitteilen - was auch ganz zwecklos wäre -, die mich zu dieser Extravaganz zwingen.« Nunmehr erzwang aber Engels, daß Marx sich einige Wochen Erholung gönnte und nach Margate an die See ging.

|352| Hier fand Marx bald seine frohe Laune wieder. In einem lustigen Briefe an seine Tochter Laura schrieb er: »Ich bin recht froh, daß ich in einem Privathause Wohnung genommen habe und nicht in einem Gasthaus, wo man unweigerlich mit Lokalpolitik, Familienskandal und Nachbarklatsch geplagt wird. Und dennoch kann ich nicht singen mit dem Müller von Dee: Ich kümmere mich um niemand, und niemand fragt nach mir. Denn da ist immer noch meine Wirtin, die taub wie ein Zaunpfahl ist, und ihre Tochter, die von chronischer Heiserkeit geplagt wird. Es sind aber sehr nette Leute, aufmerksam und nicht zudringlich. - Ich selbst habe mich in einen wandernden Spazierstock verwandelt, renne den größten Teil des Tages umher, schnappe Luft, gehe um zehn Uhr zu Bette, lese nichts, schreibe noch weniger, und arbeite mich überhaupt in jenen Seelenzustand des Nichts hinein, den der Buddhaismus als den Gipfelpunkt menschlicher Glückseligkeit betrachtet.« Und am Schluß die neckende Bemerkung, die wohl schon auf kommende Dinge deutete: »Dieser verdammte Schlingel Lafargue quält mich mit seinem Proudhonismus und wird wohl nicht eher ruhen, bis ich ihm seinen Kreolenschädel gründlich verkeilt habe.«

In eben diesen Tagen, wo Marx in Margate weilte, entluden sich die ersten Blitze des Kriegsgewitters, das über Deutschland heraufgezogen war. Am 8. April hatte Bismarck mit Italien ein Angriffsbündnis gegen Österreich abgeschlossen, und am Tage darauf richtete er den Antrag an den Bundestag, ein deutsches Parlament auf Grund des allgemeinen Stimmrechts einzuberufen, um eine Bundesreform zu beraten, über die sich die deutschen Regierungen zu einigen hätten. Die Stellung, die Marx und Engels zu diesen Vorgängen einnahmen, zeigte nun doch, daß sie den deutschen Zuständen sehr entfremdet waren. Sie schwankten in ihrem Urteil. Am 10. April schrieb Engels über Bismarcks Antrag wegen eines deutschen Parlaments: »Welch ein Rindvieh muß der Kerl sein zu glauben, das hülfe ihm auch nur ein Atom! ... Wenn es wirklich zum Klappen kommt, so hängt zum ersten Mal in der Geschichte die Entwicklung ab von der Haltung Berlins. Schlagen die Berliner zur rechten Zeit los, so kann die Sache gut werden - aber wer kann sich auf die verlassen?«

Drei Tage später schrieb er wieder, mit einer merkwürdig klaren Voraussicht der Dinge: »Wie es den Anschein hat, wird der deutsche Bürger nach einigem Sträuben darauf [von Mehring eingefügt: nämlich das allgemeine Stimmrecht] eingehn, denn der Bonapartismus ist doch die wahre Religion der modernen Bourgeoisie. Es wird mir immer klarer, daß die Bourgeoisie nicht das Zeug hat, selbst direkt zu herrschen, und |353| daß daher, wo nicht eine Oligarchie wie hier in England es übernehmen kann, Staat und Gesellschaft gegen gute Bezahlung im Interesse der Bourgeoisie zu leiten, eine bonapartistische Halbdiktatur die normale Form ist; die großen materiellen Interessen der Bourgeoisie führt sie durch, selbst gegen die Bourgeoisie, läßt ihr aber keinen Teil an der Herrschaft selbst. Andrerseits ist diese Diktatur selbst wieder gezwungen, diese materiellen Interessen der Bourgeoisie widerwillig zu adoptieren. So haben wir jetzt den Monsieur Bismarck, wie er das Programm des Nationalvereins adoptiert. Das Durchführen ist freilich etwas ganz anderes, allein am deutschen Bürger scheitert B[ismarck] schwerlich.« Woran er aber wirklich scheitern würde, so meinte Engels, sei die österreichische Heeresmacht. Benedek sei jedenfalls ein besserer General als Prinz Friedrich Karl; Österreich könne wohl Preußen, nicht aber Preußen Osterreich aus eigener Kraft zum Frieden zwingen; jeder preußische Erfolg wäre also eine Aufforderung an Bonaparte, sich einzumischen.

Fast genau mit denselben Worten schilderte Marx die damalige Lage in einem Brief an einen neugewonnenen Freund, den Arzt Kugelmann in Hannover, der schon als junger Bursch im Jahre 1848 für Marx und Engels geschwärmt, alle ihre Schriften sorgsam gesammelt, aber erst im Jahre 1862 durch Freiligraths Vermittlung sich an Marx gewandt hatte, dem er schnell ein naher Vertrauter wurde. In allen militärischen Fragen unterwarf sich Marx den Urteilen, die Engels fällte, mit einem Verzicht auf jede Kritik, der ihm sonst am wenigsten eigen war.

Erstaunlicher noch, als seine Überschätzung der österreichischen Macht, war die Auffassung, die Engels von den inneren Zuständen des preußischen Heeres hatte. Erstaunlicher namentlich deshalb, weil er eben in einer vortrefflichen Schrift die Heeresreform, um die der preußische Verfassungskonflikt entbrannt war, mit einer, den bürgerlich-demokratischen Kannegießern weit überlegenen Einsicht dargestellt hatte.[10] Am 25. Mai schrieb er: »Wenn die Österreicher gescheit genug sind nicht anzugreifen, so bricht der Tanz in der preußischen Armee sicher los. So rebellisch, wie die Kerle bei dieser Mobilmachung sind, waren sie nie. Leider erfährt man nur den allergeringsten Teil von dem, was vorgeht, aber das ist schon genug, um zu beweisen, daß mit dieser Armee ein Angriffskrieg unmöglich ist.« Und noch am 11. Juni: »Die Landwehr wird in diesem Krieg den Preußen ebenso gefährlich wie 1806 die Polen, die auch über 1/3 der Armee ausmachten und die ganze Geschichte ... desorganisierten. Nur daß die Landwehr, statt zu debandieren, rebellieren wird nach der Niederlage.« Das wurde drei Wochen vor Königgrätz geschrieben.

|354| Königgrätz zerstreute dann alle Nebel, und schon am Tage nach der Schlacht schrieb Engels: »Was sagst Du zu den Preußen? Die Ausbeutung der ersten Erfolge ist mit enormer Energie geschehen ... Solch eine Entscheidungsschlacht in 8 Stunden abgemacht, ist noch nicht dagewesen; unter andern Umständen hätte sie zwei Tage gedauert. Aber das Zündnadelgewehr ist eine heillose Waffe, und dann schlugen sich die Kerle wirklich mit einer Bravour, die ich an solchen Friedenstruppen nie gesehen habe.« Engels und Marx konnten irren und haben oft geirrt, aber sie haben sich nie gegen die Erkenntnis gesträubt, die ihnen die Ereignisse selbst aufzwangen. Der preußische Sieg war für sie ein harter Bissen, doch würgten sie nicht hilflos daran. Engels, der in dieser Frage die Führung behielt, faßte nun am 25. Juli die Lage so zusammen: »Die Geschichte in Deutschland scheint mir jetzt ziemlich einfach. Von dem Augenblick an, wo Bismarck den kleindeutschen Bourgeoisieplan mit der preußischen Armee und so kolossalem Sukzeß durchführte, hat die Entwicklung in Deutschland diese Richtung so entschieden genommen, daß wir ebenso gut wie andre die vollzogene Tatsache anerkennen müssen, ob sie uns gefallen mag oder nicht ... Die Sache hat das Gute, daß sie die Situation vereinfacht, eine Revolution dadurch erleichtert, daß sie die Krawalle der kleinen Hauptstädte beseitigt und die Entwicklung jedenfalls beschleunigt. Am Ende ist doch ein deutsches Parlament ein ganz andres Ding als eine preußische Kammer. Die ganze Kleinstaaterei wird in die Bewegung hineingerissen, die schlimmsten lokalisierenden Einflüsse hören auf, und die Parteien werden endlich wirklich nationale, statt bloß lokale.« Worauf Marx zwei Tage später mit trockener Gelassenheit erwiderte: »Ich bin ganz Deiner Ansicht, daß man den Dreck nehmen muß, wie er ist. Doch ist es angenehm, während dieser jungen Zeit der ersten Liebe in der Ferne zu sein.«

Gleichzeitig schrieb Engels, nicht in lobendem Sinne, daß »Bruder Liebknecht sich in eine fanatische Österreicherei hineinreite«; offenbar rühre eine »Wutkorrespondenz« aus Leipzig in der »Frankfurter Zeitung« von ihm her; diese fürschtenmörderische Zeitung sei so weit gekommen, daß sie den Preußen ihre schändliche Behandlung des »ehrwürdigen Kurfürsten von Hessen« vorwerfe und für den armen blinden Welfen schwärme. Dagegen erklärte sich Schweitzer in Berlin aus denselben Gründen und mit denselben Worten so wie Marx und Engels in London, wegen welcher »opportunistischen« Politik dieser Unglückliche heute noch die sittliche Empörung der gewichtigen Staatsmänner ertragen muß, die Marx und Engels zwar nicht verstehen, aber anbeten.

6. Der Genfer Kongreß

|355| Wider die Absicht hatte der erste Kongreß der Internationalen noch nicht stattgefunden, als die Schlacht bei Königgrätz über die deutschen Geschicke entschied. Er hatte noch einmal bis in den September des Jahres vertagt werden müssen, obgleich sein zweites Lebensjahr dem neuen Bunde einen ungleich schnelleren Aufstieg beschert hatte als das erste.

Auf dem Festlande begann sich Genf als sein wichtigster Mittelpunkt herauszubilden, wo sowohl die romanische wie die deutsche Sektion mit der Gründung eigener Parteiorgane vorgingen. Das deutsche war der »Vorbote«, eine von dem alten Becker gegründete und geleitete Monatsschrift, deren sechs Jahrgänge noch heute zu den wichtigsten Quellen für die Geschichte der Internationalen gehören. Der »Vorbote« erschien seit dem Januar 1866 und nannte sich »Zentralorgan der Sektionsgruppe deutscher Sprache«, denn auch die deutschen Mitglieder der Internationalen, so viele oder so wenige ihrer waren, hielten sich nach Genf, da die deutschen Vereinsgesetze die Bildung inländischer Sektionen hinderten. Aus ähnlichen Gründen erstreckte die romanische Sektion in Genf ihren Einfluß tief nach Frankreich.

Auch in Belgien hatte sich die Bewegung schon ein eignes Blatt geschaffen, die »Tribune du Peuple«, die Marx als offizielles Organ der Internationalen ebenso anerkannte wie die beiden Genfer Blätter. Nicht jedoch zählte er dazu ein oder ein paar Blättchen, die in Paris erschienen und in ihrer Weise die Arbeitersache vertraten. Die Sache nahm zwar auch in Frankreich einen guten Fortgang, aber mehr wie ein Flug- als wie ein Herdfeuer. Bei dem gänzlichen Mangel an Preß- und Versammlungsfreiheit ließen sich wirkliche Bewegungszentren schwer schaffen, und die zweideutige Duldung der bonapartistischen Polizei wirkte zunächst mehr einschläfernd als erweckend auf die Energie der Arbeiter. Auch der stark vorherrschende Proudhonismus war nicht geeignet, die organisatorische Kraft des Proletariats zu fördern.

Er lärmte besonders in dem »jungen Frankreich«, das flüchtig in Brüssel oder London lebte. Im Februar 1866 machte eine französische Sektion, die sich in London gebildet hatte, dem Generalrat heftige Opposition, weil er die Polenfrage auf das Programm des Genfer Kongresses gesetzt hatte. Im Sinne Proudhons fragte sie, wie man denn denken könne, den russischen Einfluß durch die Wiederherstellung Polens zurückzudämmen, in einem Augenblick, wo die russischen Leibeigenen durch Rußland befreit würden, während die polnischen Adligen und |356| Priester sich stets geweigert hätten, ihren Leibeigenen die Freiheit zu geben? Auch beim Ausbruch des deutschen Krieges erregten die französischen Mitglieder der Internationalen und selbst ihres Generalrats viel unnützen Streit mit ihrem »Proudhonistischen Stirnerianismus«, wie Marx einmal sagt,-, indem sie alle Nationalitäten für veraltet erklärten und ihre Auflösung in kleine »Gruppen« verlangten, die wieder einen »Verein« bilden sollten, aber keinen Staat. »Und zwar soll diese ›Individualisierung‹ der Menschheit und der entsprechende ›mutualisme‹ vor sich gehn, indem die Geschichte in allen andern Ländern aufhört und die ganze Welt wartet, bis die Franzosen reif sind, eine soziale Revolution zu machen. Dann werden sie uns das Experiment vormachen, und die übrige Welt wird, durch die Kraft ihres Beispiels überwältigt, dasselbe tun.« Diesen Spott richtete Marx zumal an seine »sehr guten Freunde« Lafargue und Longuet, die seine Schwiegersöhne werden sollten, aber zunächst als »Proudhongläubige« ihm manche Schererei verursachten.

Das Schwergewicht der Internationalen lag immer noch in den Trade Unions. So sah auch Marx die Dinge an; am 15. Januar 1866 sprach er in einem Brief an Kugelmann seine Genugtuung darüber aus, daß es gelungen sei, diese einzige wirklich große Arbeiterorganisation in die Bewegung zu ziehen; besondere Freude bereitete ihm ein Riesenmeeting, das einige Wochen früher in St. Martins Hall zugunsten der Wahlreform stattgefunden hatte, unter der geistigen Leitung der Internationalen. Als dann das Whigministerium Gladstone im März 1866 eine Wahlreformvorlage eingebracht hatte, die einem Teil seiner eigenen Partei zu radikal war, und durch den Abfall dieser Mitglieder stürzte, um durch das Toryministerium Disraeli abgelöst zu werden, das die Wahlreform auf die lange Bank zu schieben versuchte, nahm die Bewegung stürmische Formen an. Am 7. Juli schrieb Marx an Engels: »Die Londoner Arbeiterdemonstrationen, fabelhaft, verglichen mit dem, was wir seit 1849 in England gesehn, sind rein das Werk der ›International‹. Mr. Lucraft f.i. [Mehring übersetzt: zum Beispiel], der Hauptmann auf dem Trafalgar Square, is one of our council [Mehring übersetzt: ist einer von unserem Rat].« Auf dem Trafalgar Square, wo 20.000 Menschen versammelt waren, berief Lucraft ein Meeting nach White Hall Gardens ein, wo »wir zuzeiten einem unserer Könige den Kopf abgehauen«; gleich darauf kam es im Hyde Park, wo 60.000 Menschen versammelt waren, fast schon zum offenen Aufstande.

Die Verdienste der Internationalen um diese Bewegung, die durch das ganze Land ging, erkannten die Trade Unions völlig an. Eine von sämtlichen |357|* Trades Unions beschickte Konferenz in Sheffield beschloß: »Indem die Konferenz der Internationalen Arbeiterassoziation für ihre Bemühungen, die Arbeiter aller Länder durch ein Band der Brüderlichkeit zu vereinen, volle Anerkennung zollt, empfiehlt sie allen hier vertretenen Gesellschaften auf das eindringlichste, sich dieser Körperschaft anzuschließen, in der Überzeugung, daß dies von der äußersten Wichtigkeit ist für den Fortschritt und das Gedeihen der gesamten Arbeiterklasse.« Nunmehr schlossen sich eine ganze Reihe von Gewerkschaften der Internationalen an, doch war dieser große moralisch-politische nicht in gleichem Maße ein materieller Erfolg. Es blieb den angeschlossenen Gewerkschaften überlassen, nach Belieben oder auch gar keine Beiträge zu zahlen, und wenn sie es taten, geschah es in recht bescheidener Weise. So zahlten jährlich die Schuhmacher mit 5.000 Mitgliedern fünf, die Zimmerer mit 9.000 Mitgliedern zwei, die Maurer mit 3.000 bis 4.000 Mitgliedern gar nur ein Pfund.

Auch erkannte Marx sehr früh, daß sich in dem »Reformmovement« »der verfluchte traditionelle Charakter aller englischen Bewegungen« zeige. Schon vor Gründung der Internationalen hatten die Trade mit den bürgerlichen Radikalen wegen der Wahlreform angeknüpft. Diese Beziehungen wurden nur noch enger, je mehr die Bewegung greifbare Früchte zu reifen versprach; »Abschlagszahlungen«, die früher mit höchster Entrüstung zurückgewiesen worden waren, erschienen als würdige Kampfpreise; Marx vermißte doch den feurigen Geist der alten Chartisten. Er tadelte die Unfähigkeit der Engländer, zwei Dinge auf einmal zu tun; je mehr die Wahlbewegung vorwärtsginge, um so kühler würden die Londoner Führer »in unserem engeren Movement«; »in England hat die Reformbewegung, die von uns ins Leben gerufen wurde, uns beinahe getötet«. Ein starkes Hindernis dieser Entwicklung fiel dadurch fort, daß Marx durch seine Krankheit und den Aufenthalt in Margate am persönlichen Eingreifen verhindert wurde.

Viel Mühe und Sorge machte ihm auch »The Workman's Advocate«, ein Wochenblatt, das die Konferenz von 1865 zum offiziellen Organe der Internationalen erhoben hatte und das sich im Februar 1866 in »The Commonwealth« umtaufte. Marx saß mit im Verwaltungsrat des beständig mit finanziellen Nöten kämpfenden und deshalb auf die Hilfe bürgerlicher Wahlreformer angewiesenen Blattes; er bemühte sich eifrig, bürgerlichen Einflüssen das Gegengewicht zu halten und daneben Eifersüchteleien um die Redaktion zu steuern; zeitweise redigierte Eccarius das Blatt und veröffentlichte in ihm seine bekannte Streitschrift gegen Stuart Mill, an der Marx stark mitgeholfen hat. Schließlich konnte |358| Marx aber doch nicht hindern, daß der »Commonwealth« »einstweilen in ein reines Reformorgan umschlug«, wie es in einem Brief an Kugelmann heißt, »aus halb ökonomischen und halb politischen Gründen«.

Diese Gesamtlage der Dinge erklärt es hinlänglich, daß Marx dem ersten Kongreß der Internationalen mit großen Befürchtungen entgegensah, weil er von ihm »eine europäische Blamage« befürchtete. Da die Pariser auf dem Beschluß der Londoner Konferenz bestanden, wonach der Kongreß Ende Mai stattfinden sollte, so wollte Marx selbst hinübergehen, um sie von der Unmöglichkeit dieses Termins zu überzeugen, doch Engels meinte, die ganze Geschichte sei nicht das Risiko wert, daß Marx in die Fänge der bonapartistischen Polizei geriete, in denen er ungeschützt sein würde; ob der Kongreß was Gutes beschließen werde, sei Nebensache, wenn nur jeder Skandal vermieden werden könne, und das werde doch wohl möglich sein. In gewissem Sinne - wenigstens ihnen selbst gegenüber - werde jede derartige Demonstration eine Blamage sein, ohne daß sie es deshalb vor Europa zu sein brauche.

Der Knoten löste sich dadurch, daß die Genfer selbst, da sie mit ihren Vorbereitungen nicht fertig waren, die Vertagung des Kongresses bis in den September beschlossen, womit man überall, außer in Paris, einverstanden war. Marx selbst beabsichtigte nicht, an dem Kongreß persönlich teilzunehmen, da die Arbeit an seinem wissenschaftlichen Werk keine längere Unterbrechung mehr zuließ; ihm erschien, was er dadurch tat, viel wichtiger für die Arbeiterklasse, als was er persönlich auf irgendeinem Kongreß tun könnte. Aber er verwandte doch viel Zeit darauf, einen günstigen Verlauf des Kongresses zu sichern; er entwarf eine Denkschrift für die Londoner Delegierten [11], die er absichtlich auf solche Punkte beschränkte, »die unmittelbare Verständigung und Zusammenwirken der Arbeiter erlauben und den Bedürfnissen des Klassenkampfs und der Organisation der Arbeiter zur Klasse unmittelbar Nahrung und Anstoß geben«. Man kann dieser Denkschrift dasselbe Kompliment machen, wie es Beesly der »Inauguraladresse« gemacht hatte: auf wenigen Seiten sind so gründlich und schlagend wie nur je die nächsten Forderungen des internationalen Proletariats zusammengefaßt. Als Vertreter des Generalrats gingen der Präsident Odger und der Generalsekretär Cremer nach Genf, mit ihnen Eccarius und Jung, auf deren Verständnis sich Marx in erster Reihe verlassen konnte.

Der Kongreß tagte vom 3. bis 8. September unter dem Vorsitze Jungs und in Anwesenheit von 60 Delegierten. Marx fand, daß er »über Erwarten ausgefallen sei«. Nur über die »Herren Pariser« ließ er sich recht bitter aus. »Sie hatten den Kopf voll mit den leersten Proudhonischen |359| Phrasen. Sie schwatzen von Wissenschaft und wissen nichts. Sie verschmähen alle revolutionäre, i. e. aus dem Klassenkampf selbst entspringende Aktion, alle konzentrierte, gesellschaftliche, also auch durch politische Mittel (wie z.B. gesetzliche Abkürzung des Arbeitstags) durchsetzbare Bewegung; unter dem Vorwand der Freiheit und des Antigouvernementalismus oder Antiautoritätsindividualismus - diese Herren, die so ruhig seit sechzehn Jahren den elendesten Despotismus ertragen haben und ertragen! - predigen sie in der Tat die ordinäre bürgerliche Wirtschaft, nur proudhonisch idealisiert!« Und so weiter in noch härteren Wendungen.

Das Urteil ist reichlich scharf, obgleich sich Johann Philipp Becker, der auf dem Kongresse selbst als Hauptbeteiligter anwesend war, einige Jahre später womöglich noch schärfer über das Tohuwabohu ausgelassen hat, das auf ihm geherrscht habe. Nur daß Becker über den Franzosen nicht die Deutschen, und über den Proudhonisten nicht die Schulze-Delitzschianer vergaß. »Welche Höflichkeiten mußten da an die guten Leutchen verschwendet werden, um anständig der Gefahr ihres Beglückungssturmlaufs zu entrinnen!« Anders freilich hieß es in den gleichzeitigen Berichten des »Vorboten« über die Verhandlungen des Kongresses, die mit einiger Kritik gelesen sein wollen.

Die Franzosen waren verhältnismäßig stark vertreten, sie verfügten über etwa ein Drittel der Mandate und ließen es an Beredsamkeit nicht fehlen, aber viel haben sie nicht erreicht. Ihr Antrag, nur Handarbeiter, nicht auch Kopfarbeiter in die Internationale aufzunehmen, fiel zu Boden, ebenso ihr Antrag, die religiösen Fragen ins Programm des Bundes aufzunehmen, womit diese Mißgeburt für immer beseitigt war. Angenommen wurde dagegen ein von ihnen eingebrachter, ziemlich harmloser Antrag auf Studien über den internationalen Kredit, die im Sinne Proudhons auf eine spätere Zentralbank der Internationalen abzielten. Empfindlicher war die Annahme eines von Tolain und Fribourg eingebrachten Antrages, der die Frauenarbeit »als Prinzip der Entartung« verwarf und der Frau ihren Platz in der Familie anwies. Doch stieß er schon bei Varlin und anderen Franzosen selbst auf Widerspruch und wurde nur neben den Anträgen des Generalrats über Frauen- und Kinderarbeit angenommen, die ihn totschlugen. Sonst gelang den Franzosen nur, hier und da einiges proudhonistische Flickwerk in die Beschlüsse einzuschmuggeln, woraus es sich erklärt, daß Marx über diese Schönheitsfehler, durch die seine mühsame Arbeit entstellt wurde, recht verdrießlich war, ohne doch zu verkennen, daß er mit dem ganzen Verlauf des Kongresses wohl zufrieden sein konnte.

|360| Nur in einem Punkte hatte er eine Abweisung erfahren, die ihm empfindlich sein konnte und auch wohl besonders empfindlich war, in der polnischen Frage. Nach den Erfahrungen der Londoner Konferenz war dieser Punkt in der englischen Denkschrift sorgfältig begründet worden. Die europäischen Arbeiter müßten diese Frage aufnehmen, weil die herrschenden Klassen, trotz aller sonstigen Schwärmerei für alle Arten von Nationalitäten, sie unterdrückten, weil Aristokratie und Bourgeoisie die finstere asiatische Macht im Hintergrunde als eine letzte Zuflucht gegen das Vorschreiten der Arbeiterklasse betrachteten. Diese Macht könne nur unschädlich gemacht werden durch die Wiederherstellung Polens auf demokratischer Grundlage. Davon werde es abhängen, ob Deutschland ein Vorposten der Heiligen Allianz oder ein Verbündeter des republikanischen Frankreichs sei. Die Arbeiterbewegung werde beständig aufgehalten, unterbrochen und verzögert, bis diese große europäische Frage gelöst sei. Die Engländer traten energisch für den Antrag ein, aber die Franzosen und ein Teil der romanischen Schweizer widersprachen nicht minder lebhaft; man einigte sich endlich auf den Vorschlag Beckers, der selbst für den Antrag sprach, aber eine offene Spaltung in dieser Frage vermeiden wollte, auf den ausweichenden Beschluß, da die Internationale gegen jede Gewaltherrschaft sei, so sei sie auch bestrebt, den imperialistischen Einfluß Rußlands zu beseitigen und Polen auf sozialdemokratischer Grundlage wiederherzustellen.

Sonst aber siegte die englische Denkschrift auf der ganzen Linie. Die provisorischen Statuten wurden bis auf einige Änderungen bestätigt; die »Inauguraladresse« wurde nicht debattiert, aber seitdem in den Beschlüssen und Kundgebungen der Internationalen stets als offizielles Aktenstück zitiert. Der Generalrat wurde mit dem Sitz in London wiedergewählt; er sollte eine umfassende Statistik über die Lage der internationalen Arbeiterklasse veranstalten und, sooft es seine Mittel erlaubten, einen Bericht über alles erstatten, was die Internationale Arbeiterassoziation interessiere. Um seine Auslagen zu decken, wurde jedem Mitgliede für das nächste Jahr ausnahmsweise eine Extrasteuer von 30 Centimes (24 Pfennig) auferlegt, als regelmäßigen Jahresbeitrag für die Kasse des Generalrats empfahl der Kongreß einen halben oder ganzen Penny (8,5 Pfennig), außer dem Preise für die Mitgliedskarte.

Unter den programmatischen Kundgebungen des Kongresses standen die Beschlüsse über Arbeiterschutzgesetzgebung und Gewerkvereine obenan. Der Kongreß stellte den Grundsatz auf, daß die Arbeiterklasse sich Arbeiterschutzgesetze erkämpfen müsse. »Indem die Arbeiterklasse solche Gesetze durchsetzt, befestigt sie nicht die regierende Macht. Im |361| Gegenteil wandelt sie jene Macht, die jetzt gegen sie gebraucht wird, in ihr eigenes Werkzeug um.«[12] Sie bewirkte durch ein allgemeines Gesetz, was durch isolierte individuelle Anstrengungen bewirken zu wollen, ein nutzloser Versuch sein würde. Der Kongreß empfahl die Beschränkung des Arbeitstages als eine Bedingung, ohne die alle anderen Bestrebungen des Proletariats um seine Emanzipation scheitern müßten. Sie sei nötig, um die körperliche Energie und Gesundheit der Arbeiterklasse wiederherzustellen, um ihr die Möglichkeit geistiger Entwicklung, gesellschaftlichen Umgangs, sozialer und politischer Tätigkeit zu gewähren. Als gesetzliche Grenze des Arbeitstages schlug der Kongreß acht Stunden vor, die in eine bestimmte Tagesperiode gelegt werden müßten, so zwar, daß diese Periode die acht Stunden Arbeit und die Unterbrechungen für Mahlzeiten umfasse. Der Achtstundentag solle gelten für alle volljährigen Leute, Männer wie Frauen, die Volljährigkeit vom Schlusse des 18. Lebensjahres an gerechnet. Nachtarbeit sei gesundheitlich zu verwerfen, unerläßliche Ausnahmen müßten von der Gesetzgebung festgestellt werden. Frauen seien mit aller möglichen Strenge von der Nachtarbeit auszuschließen sowie von aller anderen Arbeit, die für den weiblichen Körper gesundheitsgefährlich oder für das weibliche Geschlecht sittenwidrig sei.

In der Tendenz der modernen Industrie, Kinder und junge Personen beiderlei Geschlechts zur Mitwirkung an der gesellschaftlichen Produktion heranzuziehen, sah der Kongreß einen heilsamen rechtmäßigen Fortschritt, so abscheulich die Form sei, worin er sich unter der Herrschaft des Kapitals verwirkliche. In einem vernünftigen Zustande der Gesellschaft müßte jedes Kind ohne Unterschied vom neunten Lebensjahre an produktiver Arbeiter werden, ebenso wie keine erwachsenen Personen von dem allgemeinen Naturgesetz ausgenommen werden dürften: nämlich zu arbeiten, um essen zu können, und zu arbeiten nicht bloß mit dem Gehirne, sondern mit den Händen. In der gegenwärtigen Gesellschaft empfehle es sich, die Kinder und jugendlichen Personen in drei Klassen zu teilen und verschieden zu behandeln: in Kinder von 9 bis 12, in Kinder von 13 bis 15, in Jünglinge und Mädchen von 16 bis 17 Jahren. Die Arbeitszeit der ersten Klasse in irgendeiner Werkstelle oder häuslichen Arbeit solle sich auf zwei, der zweiten auf vier, der dritten auf sechs Stunden beschränken, wobei der dritten Klasse eine Unterbrechung der Arbeitszeit auf wenigstens eine Stunde für Mahlzeiten und Erholung vorbehalten bleiben müsse, jedoch dürfe die produktive Arbeit von Kindern und jugendlichen Personen nur gestattet werden, wenn sie mit Bildung verbunden werde, worunter drei Dinge |362| zu verstehen seien: geistige Bildung, körperliche Gymnastik und endlich technische Erziehung, die die allgemeinen wissenschaftlichen Grundsätze aller Produktionsprozesse mitteile und zugleich das heranwachsende Geschlecht in den praktischen Gebrauch der elementarsten Werkzeuge einweihe.

Über die Gewerkvereine beschloß der Kongreß, daß ihre Tätigkeit nicht nur rechtmäßig, sondern auch notwendig sei. Sie seien das Mittel, die einzige soziale Gewalt, die das Proletariat besitze, nämlich seine Zahl, der konzentrierten sozialen Gewalt des Kapitals entgegenzusetzen. Solange die kapitalistische Produktionsweise bestände, könnten die Gewerkvereine nicht entbehrt werden, sondern würden vielmehr ihre Tätigkeit durch internationale Verbindung verallgemeinern. Indem sie sich bewußt den unaufhörlichen Übergriffen des Kapitals widersetzten, würden sie unbewußt Schwerpunkte der Organisation für die arbeitende Klasse, ähnlich wie die mittelalterlichen Kommunen zu solchen Schwerpunkten für die bürgerliche Klasse geworden seien. Unaufhörliche Guerillagefechte in dem täglichen Kampfe zwischen Kapital und Arbeit liefernd, würden die Gewerkvereine noch weit wichtiger als organisierte Hebel für die Aufhebung der Lohnarbeit. Bisher hätten die Gewerkvereine zu ausschließlich den unmittelbaren Kampf gegen das Kapital ins Auge gefaßt, in Zukunft dürften sie sich nicht der allgemeinen politischen und sozialen Bewegung ihrer Klasse fernhalten. Sie würden sich am stärksten ausbreiten, wenn die große Masse des Proletariats sich überzeuge, daß ihr Ziel, weit entfernt, begrenzt und selbstsüchtig zu sein, sich vielmehr auf die allgemeine Befreiung der niedergetretenen Millionen richte.

Im Sinne dieser Resolution unternahm Marx bald nach dem Genfer Kongreß noch einen Versuch, von dem er sich viel versprach. Am 13. Oktober 1866 schrieb er an Kugelmann: »Der Londoner Council der english Trade Unions (sein Sekretär ist unser Präsident Odger) konsultiert in diesem Augenblick, ob er sich als englischer Zweig der Internationalen Assoziation erklären soll. Tut er es, so geht die Regierung der Arbeiterklasse hier in einem gewissen Sinne auf uns über, und wir können die Bewegung sehr vorantreiben.« Aber der Gewerkschaftsrat tat es nicht, bei aller Freundschaft für die Internationale beschloß er, seine Selbständigkeit zu wahren, und wenn anders die Historiker der Trade Unions zutreffend unterrichtet sind, hat der Gewerkschaftsrat auch abgelehnt, einen Vertreter der Internationalen an seinen Sitzungen teilnehmen zu lassen, um schnell über alle Arbeitseinstellungen des Festlandes zu berichten.

|363| Schon in den ersten Jahren erfuhr die Internationale, daß ihrer große Erfolge harrten, aber daß diese Erfolge doch ihre bestimmte Grenze hatten. Jedoch vorerst durfte sie sich ihrer Erfolge erfreuen, und mit lebhafter Genugtuung verzeichnete Marx in dem großen Werke, an das er eben die letzte Hand legte, daß gleichzeitig mit dem Genfer Kongreß ein allgemeiner Arbeiter-Kongreß in Baltimore den Achtstundentag als die erste Forderung bezeichnet habe, um die Arbeit aus den Fesseln des Kapitalismus zu befreien.

Er meinte, die Arbeit in weißer Hand könne sich nicht emanzipieren, wo sie in schwarzer Hand gebrandmarkt werde. Aber die erste Frucht des amerikanischen Bürgerkrieges, der die Sklaverei getötet habe, sei die Achtstundenagitation, mit den Siebenmeilenstiefeln der Lokomotive vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean ausschreitend, von Neuengland bis nach Kalifornien.


[1] Karl Marx: Die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassozisation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 9/10. <=

[2] Karl Marx: Die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassozisation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 11. <=

[3] Karl Marx: Die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassozisation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 11/12. <=

[4] Karl Marx: Die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassozisation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 12. <=

[5] Karl Marx: Die Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassozisation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 12. <=

[6] Karl Marx: Provisorische Statuten der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 14-16. <=

[7] Karl Marx: An Abraham Lincoln, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 19. <=

[8] Karl Marx: Lohn, Preis und Profit, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 101-152. <=

[9] Karl Marx: Über P. J. Proudhon, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 31. <=

[10] Friedrich Engels: Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 37-78. <=

[11] Karl Marx: Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 190/199. <=

[12] Karl Marx: Instruktionen für die Delegierten des Provisorischen Zentralrats zu den einzelnen Fragen, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 194. <=


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