MLWerke | 11. Kapitel | Inhalt | 13. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 364-393.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Zwölftes Kapitel: »Das Kapital«


1. Die Geburtswehen

|364| Wenn Marx die Teilnahme an dem Genfer Kongreß ablehnte, weil ihm die Vollendung seines Hauptwerks - er meinte, bisher habe er nur Kleinigkeiten gemacht - für die Arbeiter wichtiger zu sein schien als die Beteiligung an irgendeinem Kongresse, so hatte er im Auge, daß er seit dem 1. Januar 1866 mit der Reinschrift und Stilisierung des ersten Bandes begonnen hatte. Und die Sache ging zunächst flott voran, da es ihm »natürlich Spaß machte, das Kind glatt zu lecken nach so vielen Geburtswehen«.

Diese Geburtswehen hatten ziemlich zweimal so viele Jahre gewährt wie die Physiologie Monate zur Herausgabe eines fertigen Menschenkindes gebraucht. Marx durfte mit Recht sagen, vielleicht niemals sei ein Werk dieser Art unter schwierigeren Verhältnissen geschrieben worden. Immer wieder hatte er sich einen Zeitpunkt festgesetzt, um »in fünf Wochen«, wie 1851, oder »in sechs Wochen«, wie 1859, fertigzuwerden, aber immer wieder scheiterten diese Vorsätze an seiner unerbittlichen Selbstkritik und seiner unvergleichlichen Gewissenhaftigkeit, die ihn zu immer neuen Untersuchungen trieben und auch durch die ungeduldige Mahnung seines treuesten Freundes nicht erschüttert werden konnten.

Ende 1865 war er mit der Arbeit fertig, aber doch nur in der Form eines riesigen Manuskripts, das in seiner nunmehrigen Gestalt von niemand herausgegeben werden konnte, außer von ihm selbst, nicht einmal von Engels. Aus dieser gewaltigen Masse hat Marx vom Januar 1866 bis März 1867 den ersten Band des »Kapitals« in seiner klassischen Fassung herausgearbeitet als ein »artistisches Ganzes«, was seiner fabelhaften Arbeitskraft immer noch das glänzendste Zeugnis ausstellt. Denn diese fünf Vierteljahre waren daneben erfüllt durch beständige und wie im Februar 1866, selbst lebensgefährliche Krankheitszustände, durch eine Aufhäufung von Schulden, die ihm »das Gehirn zusammendrückten«, und nicht zuletzt auch durch die zeitraubenden Vorarbeiten für den Genfer Kongreß der Internationalen.

|365| Im November 1866 ging das erste Bündel Manuskript an Otto Meißner in Hamburg ab, einen Verleger demokratischer Literatur, bei dem Engels schon seine kleine Schrift über die preußische Militärfrage hatte erscheinen lassen. Mitte April 1867 brachte Marx den Rest des Manuskripts selbst nach Hamburg und fand in Meißner einen »netten Kerl«, mit dem nach kurzem Verhandeln alles in Ordnung war. Um die ersten Proben des Druckes abzuwarten, der in Leipzig hergestellt wurde, besuchte Marx seinen Freund Kugelmann in Hannover, wo er in einer liebenswürdigen Familie die gastlichste Aufnahme fand. Er verlebte hier glückliche Wochen, die er selbst zu »den schönsten und freudigsten Oasen in der Lebenswüste« zählte. Ein wenig zu seiner frohen Stimmung trug auch bei, daß ihm, dem in dieser Beziehung ganz Unverwöhnten, die gebildeten Kreise Hannovers mit Achtung und Sympathie entgegenkamen; »wir zwei haben doch«, schrieb er am 24. April an Engels, »eine ganz andere Stellung ... unter dem ›gebildeten‹ Beamtentum, als wir wissen«. Und Engels antwortete am 27. April: »Es ist mir immer so gewesen, als wenn dies verdammte Buch, an dem Du so lange getragen hast, der Grundkern von allem Deinem Pech war und Du nie herauskommen würdest und könntest, solange dies nicht abgeschüttelt. Dies ewig unfertige Ding drückte Dich körperlich, geistig und finanziell zu Boden, und ich kann sehr gut begreifen, daß Du jetzt, nach Abschüttelung dieses Alps, Dir wie ein ganz andrer Kerl vorkommst, besonders da die Welt, sobald Du nur erst wieder einmal hineinkommst, auch nicht so trübselig aussieht wie vorher.« Daran knüpfte Engels die Hoffnung, nun bald vom »hündischen Kommerz« erlöst zu sein. Solange er da drin stecke, sei er zu nichts fähig; besonders seitdem er Prinzipal sei, wäre das viel schlimmer geworden, wegen der größeren Verantwortlichkeit.

Marx antwortete ihm darauf am 7. Mai: »Ich hoffe und glaube zuversichtlich, nach Jahresfrist so weit ein gemachter Mann zu sein, daß ich von Grund aus meine ökonomischen Verhältnisse reformieren und endlich wieder auf eigenen Füßen stehn kann. Ohne Dich hätte ich das Werk nie zu Ende bringen können, und ich versichere Dir, es hat mir immer wie ein Alp auf dem Gewissen gelastet, daß Du Deine famose Kraft hauptsächlich meinetwegen kommerziell vergeuden und verrosten ließest und, into the bargain [Mehring übersetzt: obendrein] noch alle meine petites misères [Mehring übersetzt: kleines Elend] mit durchleben mußtest.« Marx ist nun freilich weder im nächsten Jahre, noch überhaupt ein »gemachter Mann« geworden, und Engels mußte den »hündischen Kommerz« noch einige Jahre mit ansehen, aber der Horizont begann sich doch zu lichten.

|366| Eine lang gestundete Briefschuld an einen Anhänger, den Bergwerksingenieur Siegfried Meyer, der bis dahin in Berlin gelebt hatte und um diese Zeit nach den Vereinigten Staaten übersiedelte, trug Marx in diesen hannöverschen Tagen mit Worten ab, die seine »Herzlosigkeit« abermals in helles Licht setzen. Er schrieb: »Sie müssen sehr schlecht von mir denken und um so schlechter, wenn ich Ihnen sage, daß Ihre Briefe mir nicht nur eine große Freude bereitet haben, sondern ein wahrer Trost für mich waren während der sehr qualvollen Periode, worin sie mir zukamen. Einen tüchtigen Mann, à la hauteur des principes [Mehring übersetzt: auf der Höhe des Prinzips] für unsre Partei gesichert zu wissen, entschädigt mich für das Schlimmste. Zudem waren Ihre Briefe voll der liebenswürdigsten Freundschaft für mich persönlich, und Sie begreifen, daß ich, der mit der Welt (der offiziellen) im bittersten Kampfe stehe, dies am wenigsten unterschätzen kann. - Warum ich Ihnen also nicht antwortete? Weil ich fortwährend am Rande des Grabe schwebte. Ich mußte also jeden arbeitsfähigen Moment benutzen, um mein Werk fertigzumachen, dem ich Gesundheit, Lebensglück und Familie geopfert habe. Ich hoffe, daß diese Erklärung keines weiteren Zusatzes bedarf. Ich lache über die sogenannten ›praktischen‹ Männer und ihre Weisheit. Wenn man ein Ochse sein wollte, könnte man natürlich den Menschheitsqualen den Rücken kehren und für seine eigne Haut sorgen. Aber ich hätte mich wirklich für unpraktisch gehalten, wenn ich krepiert wäre, ohne mein Buch, wenigstens im Manuskript, ganz fertig zumachen.«

In der gehobenen Stimmung dieser Tage hat Marx es auch ernsthaft aufgenommen, als ihm ein sonst unbekannter Advokat Warnebold den angeblichen Wunsch Bismarcks übermittelte, ihn und seine großen Talente im Interesse des deutschen Volks zu verwerten. Nicht als ob Marx von dieser Lockung berauscht gewesen wäre; er wird darüber gedacht haben wie Engels: »Es ist bezeichnend für die Denkweise und den Horizont des Kerls, daß er alle Leute nach sich beurteilt.« Aber in de nüchternen Alltagsstimmung würde Marx schwerlich an die Botschaft Warnebolds geglaubt haben. In den noch ganz unfertigen Zuständen des Norddeutschen Bundes, nachdem kaum die Gefahr eines Krieges mit Frankreich wegen des Luxemburgischen Handels beschworen worden war, konnte Bismarck unmöglich daran denken, die kaum erst in sein Lager übergegangene Bourgeoisie, die schon zu seinen Gehilfen Bucher und Wagener sehr scheel sah, noch dadurch vor den Kopf zu stoßen, daß er den Verfasser des »Kommunistischen Manifestes« in seine Dienst, nahm.

|367| Nicht mit Bismarck, aber mit einer Verwandten Bismarcks erlebte Marx auf seiner Rückreise nach London ein kleines Abenteuer, über das er nicht ohne Behagen an Kugelmann berichtete. Auf dem Dampfer bat ihn ein deutsches Fräulein, das ihm schon durch seine militärische Haltung aufgefallen war, um nähere Auskunft über die Londoner Eisenbahnstationen, wobei sich ergab, daß sie einige Stunden auf den Zug warten mußte, den sie zu benutzen hatte, und diese Zeit verkürzte ihr Marx ritterlich durch Spazierengehen im Hyde Park. »Es ergab sich, daß sie Elisabeth von Puttkamer hieß, Nichte Bismarcks, bei dem sie eben einige Wochen in Berlin zugebracht hatte. Sie hatte die ganze Armeeliste bei sich, da diese Familie unser ›tapferes Kriegsheer‹ überreichlich mit Herren von Ehr' und Taille versieht. Sie war ein munteres, gebildetes Mädchen, aber aristokratisch und schwarzweiß bis zur Nasenspitze. Sie war nicht wenig erstaunt, als sie erfuhr, daß sie in ›rote‹ Hände gefallen sei.« Doch die kleine Dame verlor deshalb die gute Laune nicht. In einem zierlichen Brieflein sagte sie voll »kindlicher Hochachtung« ihrem Ritter »herzinnigsten Dank« für alle Mühe, die er mit ihr als einem »unerfahrenen Geschöpf« gehabt habe, und so ließen auch ihre Eltern vermelden, sie seien glücklich zu erfahren, daß es noch gute Menschen auf der Reise gebe.

In London erledigte Marx die Korrekturen seines Buches. Ohne ein gelegentliches Schelten über die Saumseligkeit des Druckes ging es auch diesmal nicht ab, aber schon am 16. August 1867, um 2 Uhr nachts, konnte er Engels melden, daß er eben den letzten (49.) Bogen fertig korrigiert habe. »Also dieser Band ist fertig. Bloß Dir verdanke ich es, daß dies möglich war! Ohne Deine Aufopferung für mich konnte ich unmöglich die ungeheuren Arbeiten zu den drei Bänden machen. I embrace you, full of thanks ... Salut [Mehring übersetzt: Ich umarme Dich, voller Dank! Gruß], mein lieber, teurer Freund!«

2. Der erste Band

In dem ersten Kapitel seines Werkes faßte Marx noch einmal zusammen, was er in seiner Schrift von 1859 über Ware und Geld ausgeführt hatte. Es geschah nicht nur der Vollständigkeit wegen, sondern weil selbst gute Köpfe die Sache nicht ganz richtig begriffen hätten, also in der Darstellung etwas Mangelhaftes sein müsse, speziell der Analyse der Ware.

|368| Zu diesen guten Köpfen gehörten freilich nicht die deutschen Gelehrten, die gerade das erste Kapitel des »Kapitals« wegen seiner »unklaren Mystik« verwünscht haben. »Eine Ware scheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken. Soweit sie Gebrauchswert, ist nichts Mysteriöses an ihr ... Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihm einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt es sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andren Waren gegenüber auf den Kopf, und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.«[1] Das nahmen alle Holzköpfe übel, die übersinnliche Spitzfindigkeiten und theologische Mucken in schwerer Menge produzieren, aber nicht so viel sinnliches Ding produzieren können, wie ein ordinärer sinnlicher Tisch von Holz sein mag.

Tatsächlich gehört dies erste Kapitel, unter rein schriftstellerischem Gesichtspunkt, zu dem Bedeutendsten, was Marx geschrieben hat. Er ging dann zu der Untersuchung über, wie sich Geld in Kapital verwandelt. Tauschen sich in der Warenzirkulation gleiche Werte gegeneinander aus, wie kann der Geldbesitzer Waren zu ihrem Werte kaufen und zu ihrem Werte verkaufen, dennoch aber mehr Wert herausziehen, als er hineingeworfen hatte? Er kann es deshalb, weil er unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen auf dem Warenmarkt eine Ware von so eigentümlicher Beschaffenheit vorfindet, daß ihr Verbrauch eine Quelle von neuem Wert ist. Diese Ware ist die Arbeitskraft.

Sie existiert in der Gestalt des lebendigen Arbeiters, der zu seiner Existenz sowie zur Erhaltung seiner Familie, die die Fortdauer der Arbeitskraft auch nach seinem Tode sichert, einer bestimmten Summe von Lebensmitteln bedarf. Die zur Hervorbringung dieser Lebensmittel nötige Arbeitszeit stellt den Wert der Arbeitskraft dar. Dieser im Lohne gezahlte Wert ist aber weit geringer als der Wert, den der Käufer der Arbeitskraft aus ihr zu schöpfen vermag. Die Mehrarbeit des Arbeiters über die zur Ersetzung seines Lohnes nötige Zeit hinaus ist die Quelle des Mehrwerts, der stets wachsenden Anschwellung des Kapitals. Die unbezahlte Arbeit des Arbeiters erhält alle nichtarbeitenden Mitglieder der Gesellschaft; auf ihr beruht der ganze gesellschaftliche Zustand worin wir leben.

|369| Zwar ist die unbezahlte Arbeit an sich keine Eigentümlichkeit der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Solange es besitzende und besitzlose Klassen gibt, hat die besitzlose Klasse stets unbezahlte Arbeit leisten müssen. Solange ein Teil der Gesellschaft das Monopol der Produktionsmittel besitzt, muß der Arbeiter, frei oder unfrei, der zu seiner Selbsterhaltung nötigen Arbeitszeit überschüssige Arbeitszeit zusetzen, um die Lebensmittel für die Eigner der Produktionsmittel zu produzieren. Die Lohnarbeit ist nur eine besondere historische Form des seit der Klassenscheidung herrschenden Systems unbezahlter Arbeit, eine besondere historische Form, die als solche untersucht werden muß, um richtig verstanden zu werden.

Zur Verwandlung von Geld in Kapital muß der Geldbesitzer den freien Arbeiter auf dem Warenmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinne, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt und daß er andere Waren nicht zu verkaufen hat, daß er los und ledig ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen. Es ist kein naturgeschichtliches Verhältnis, denn die Natur produziert nicht auf der einen Seite Geld- oder Warenbesitzer und auf der anderen Seite bloße Besitzer der eigenen Arbeitskraft. Es ist aber auch kein gesellschaftliches Verhältnis, das allen Geschichtsperioden gemeinsam wäre, sondern das Ergebnis einer langen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion.

Die Warenproduktion ist der Ausgangspunkt des Kapitals. Warenproduktion, Warenzirkulation und entwickelte Warenzirkulation, Handel, bilden die geschichtlichen Voraussetzungen, unter denen es entsteht. Von der Schöpfung des modernen Welthandels und Weltmarktes im sechzehnten Jahrhundert datiert die moderne Lebensgeschichte des Kapitals. Die Illusion der Vulgärökonomen, als habe es einmal eine fleißige Elite gegeben, die Reichtum akkumulierte, und eine Masse faulenzender Lumpen, die schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigene Haut, ist eine fade Kinderei; eine ebenso fade Kinderei wie das Halbdunkel, worin die bürgerlichen Historiker die Auflösung der feudalen Produktionsweise darstellen als Emanzipation des Arbeiters und nicht zugleich als Verwandlung der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise. Indem die Arbeiter aufhörten, unmittelbar zu den Produktionsmitteln zu gehören wie Sklaven und Leibeigene, hörten die Produktionsmittel auf, ihnen zu gehören wie beim selbstwirtschaftenden Bauern und Handwerker. Durch eine Reihe gewaltsamer und grausamer Methoden, die Marx im Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation an der englischen |370|* Geschichte ausführlich schildert, wurde die große Volksmasse von Grund und Boden und Lebensmitteln und Arbeitswerkzeugen enteignet. So entstanden die freien Arbeiter, deren die kapitalistische Produktionsweise bedarf; vom Kopf bis zur Zehe, aus allen Poren blut- und schmutztriefend, kam das Kapital zur Welt. Sobald es einmal auf eigenen Füßen stand, erhielt es nicht nur die Scheidung zwischen dem Arbeiter und dem Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit, sondern reproduzierte sie auf stets wachsender Stufenleiter.

Von den früheren Arten unbezahlter Arbeit unterscheidet sich die Lohnarbeit dadurch, daß die Bewegung des Kapitals maßlos, sein Heißhunger nach Mehrarbeit unersättlich ist. In ökonomischen Gesellschaftsformationen, wo nicht der Tauschwert, sondern der Gebrauchswert des Produkts überwiegt, wird die Mehrarbeit durch einen engeren oder weiteren Kreis von Bedürfnissen beschränkt, aber aus der Art der Produktion entspringt kein schrankenloses Bedürfnis nach Mehrarbeit. Anders wo der Tauschwert vorwiegt. Als Produzent von fremder Arbeitsamkeit, als Auspumper von Mehrarbeit und Ausbeuter von Arbeitskraft übergipfelt das Kapital an Energie, Maßlosigkeit und Wirksamkeit alle früheren, auf direkter Zwangsarbeit beruhenden Produktionsprozesse. Es kommt ihm nicht auf den Arbeitsprozeß an, die Erzeugung von Gebrauchswerten, sondern auf den Verwertungsprozeß, die Erzeugung von Tauschwerten, aus denen es mehr Wert herausschlagen kann, als es hineingesteckt hat. Der Hunger nach Mehrwert kennt kein Gefühl der Sättigung; die Produktion von Tauschwerten besitzt die Schranke nicht, die der Produktion der Gebrauchswerte in der Befriedigung der Bedürfnisse gezogen ist.

Wie die Ware Einheit von Gebrauchs- und Tauschwert, so ist der Produktionsprozeß der Ware Einheit von Arbeits- und Wertbildungsprozeß. Der Wertbildungsprozeß dauert bis zu dem Punkte, wo der im Lohne gezahlte Wert der Arbeitskraft durch einen gleichen Wert ersetzt ist. Über diesen Punkt hinaus wird er zum Erzeugungsprozeß von Mehrwert, zum Verwertungsprozeß. Als Einheit von Arbeits- und Verwertungsprozeß wird er kapitalistischer Produktionsprozeß, kapitalistische Form der Warenproduktion. Im Arbeitsprozesse wirken Arbeitskraft und Produktionsmittel zusammen; im Verwertungsprozeß erscheinen dieselben Kapitalbestandteile als konstantes und variables Kapital. Das konstante Kapital setzt sich in Produktionsmittel um, in Rohmaterial, Hilfsstoffe, Arbeitsmittel und verändert seine Wertgröße nicht im Produktionsprozesse. Das variable Kapital setzt sich in Arbeitskraft um und verändert im Produktionsprozesse seinen Wert; es reproduziert seinen |371| eigenen Wert und einen Überschuß darüber, Mehrwert, der selbst wechseln, größer oder kleiner sein kann. So schafft sich Marx klare Bahn für die Untersuchung des Mehrwerts, von dem er zwei Formen findet, den absoluten und den relativen Mehrwert, die eine verschiedene, aber jeder eine entscheidende Rolle in der Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise gespielt haben.

Absoluter Mehrwert wird produziert, indem der Kapitalist die Arbeitszeit über die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Zeit ausdehnt. Ginge es nach seinem Wunsche, so hätte der Arbeitstag vierundzwanzig Stunden, denn je länger der Arbeitstag ist, um so größeren Mehrwert produziert er. Umgekehrt hat der Arbeiter das richtige Gefühl, daß jede Stunde Arbeit, die er über die Ersetzung des Arbeitslohnes hinaus arbeitet, ihm unrechtmäßig entzogen wird; er hat an seinem eigenen Körper durchzumachen, was es heißt, überlange Zeit zu arbeiten. Der Kampf um die Länge des Arbeitstages dauert vom ersten geschichtlichen Auftreten freier Arbeiter bis auf den heutigen Tag. Der Kapitalist kämpft für seinen Profit, und die Konkurrenz zwingt ihn, mag er persönlich ein edler Mensch oder ein schlechter Kerl sein, den Arbeitstag bis an die äußerste Grenze menschlicher Leistungsfähigkeit auszurecken. Der Arbeiter kämpft für seine Gesundheit, für ein paar Stunden täglicher Ruhe, um außer Arbeiten, Essen und Schlafen sich auch sonst noch als Mensch betätigen zu können. Marx schildert in eindrucksvollster Weise den halbhundertjährigen Bürgerkrieg, den die Kapitalisten- und die Arbeiterklasse in England gekämpft hat, von der Geburt der großen Industrie an, die die Kapitalisten antrieb, jede Schranke zu zertrümmern, die Natur und Sitte, Alter und Geschlecht, Tag und Nacht der Ausbeutung des Proletariats setzten, bis zum Erlaß der Zehnstundenbill, die die Arbeiterklasse erkämpfte, als ein übermächtiges gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert, durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.

Relativer Mehrwert wird produziert, indem die zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendige Arbeitszeit zugunsten der Mehrarbeit verkürzt wird. Der Wert der Arbeitskraft wird dadurch gesenkt, daß die Produktivkraft der Arbeit in denjenigen Industriezweigen gesteigert wird, deren Produkte den Wert der Arbeitskraft bestimmen. Dazu ist notwendig eine fortwährende Umwälzung der Produktionsweise, der technischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Arbeitsprozesses. Die historischen, ökonomischen, technologischen und sozialpsychologischen Ausführungen, die Marx hierüber macht, in einer Reihe von Kapiteln, |372| die die Kooperation, die Teilung der Arbeit und die Manufaktur, die Maschinerie und die große Industrie behandeln, sind auch von bürgerlicher Seite als eine reiche Fundgrube der Wissenschaft anerkannt worden.

Marx zeigt nicht nur, daß die Maschinerie und große Industrie ein so furchtbares Elend geschaffen hat wie keine Produktionsweise vor ihr, sondern er zeigt auch, daß sie in ihrer unausgesetzten Revolutionierung der kapitalistischen Gesellschaft eine höhere Gesellschaftsform vorbereitet. Die Fabrikgesetzgebung ist die erste bewußte und planmäßige Rückwirkung der Gesellschaft auf die naturwidrige Gestalt ihres Produktionsprozesses. Indem sie die Arbeit in Fabriken und Manufakturen reguliert, erscheint sie zunächst nur als Einmischung in die Ausbeutungsrechte des Kapitals.

Aber die Gewalt der Tatsachen zwingt sie alsbald, auch die Hausarbeit zu regulieren und in die elterliche Autorität einzugreifen, damit aber anzuerkennen, daß die große Industrie mit der ökonomischen Grundlage des alten Familienwesens und der ihr entsprechenden Familienarbeit auch die alten Familienverhältnisse selbst auflöst. »So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint, so schafft nichtsdestoweniger die große Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter. Es ist natürlich ebenso albern, die christlich germanische Form der Familie für absolut zu halten, als die altrömische Form oder die altgriechische oder die orientalische, die übrigens untereinander eine geschichtliche Entwicklungsreihe bilden. Ebenso leuchtet ein, daß die Zusammensetzung des kombinierten Arbeitspersonals aus Individuen beiderlei Geschlechts und der verschiedensten Altersstufen, obgleich in ihrer naturwüchsig brutalen, kapitalistischen Form, wo der Arbeiter für den Produktionsprozeß, nicht der Produktionsprozeß für den Arbeiter da ist, Pestquelle des Verderbs und der Sklaverei, unter entsprechenden Verhältnissen umgekehrt zur Quelle humaner Entwicklung umschlagen muß.«[2] Die Maschine, die den Arbeiter zu ihrem bloßen Anhängsel entwürdigt, schafft zugleich die Möglichkeit, die Produktivkräfte der Gesellschaft auf einen Höhegrad zu steigern, der eine gleich menschenwürdige Entwicklung für alle Glieder der Gesellschaft möglich machen wird, wofür alle früheren Gesellschaftsformen zu arm waren.

|373| Nachdem Marx die Produktion des absoluten und des relativen Mehrwerts untersucht hat, gibt er die erste rationelle Theorie des Arbeitslohnes, die die Geschichte der politischen Ökonomie kennt. Der Preis einer Ware ist ihr in Geld ausgedrückter Wert, und der Arbeitslohn ist der Preis der Arbeitskraft. Nicht die Arbeit erscheint auf dem Warenmarkte, sondern der Arbeiter, der seine Arbeitskraft feilbietet, und Arbeit entsteht erst durch den Verbrauch der Ware Arbeitskraft. Die Arbeit ist die Substanz und das immanente Maß der Werte, aber sie selbst hat keinen Wert. Dennoch scheint im Arbeitslohn die Arbeit bezahlt zu werden, weil der Arbeiter erst nach getaner Arbeit seinen Lohn erhält. Die Form des Arbeitslohnes löscht jede Spur der Teilung des Arbeitstages in bezahlte und nichtbezahlte Arbeit aus. Es ist umgekehrt wie beim Sklaven. Der Sklave scheint nur für seinen Herrn zu arbeiten, auch in dem Teile des Arbeitstages, worin er nur den Wert seiner eigenen Lebensmittel ersetzt; alle seine Arbeit erscheint als unbezahlte Arbeit. Bei der Lohnarbeit erscheint umgekehrt selbst die unbezahlte Arbeit als bezahlt. Dort verbirgt das Eigentumsverhältnis das Fürsichselbstarbeiten des Sklaven, hier das Geldverhältnis das Umsonstarbeiten des Lohnarbeiters. Man begreift daher, sagt Marx, die entscheidende Wichtigkeit der Verwandlung von Wert und Preis der Arbeitskraft in die Form des Arbeitslohnes oder in Wert und Preis der Arbeit selbst. Auf dieser Erscheinungsform, die das wirkliche Verhältnis unsichtbar macht und gerade sein Gegenteil zeigt, beruhen alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle beschönigenden Flausen der Vulgärökonomie.

Die beiden Grundformen des Arbeitslohnes sind der Zeitlohn und der Stücklohn. An den Gesetzen des Zeitlohnes weist Marx namentlich die interessierte Hohlheit der Redensarten nach, wonach durch eine Beschränkung des Arbeitstages der Lohn gesenkt werden soll. Genau das Gegenteil ist richtig. Vorübergehende Verkürzung des Arbeitstages senkt den Lohn, aber dauernde Verkürzung hebt ihn; je länger der Arbeitstag, desto niedriger der Lohn.

Der Stücklohn ist nichts als eine verwandelte Form des Zeitlohnes; er ist die der kapitalistischen Produktionsweise entsprechendste Form des Arbeitslohnes. Er gewann größeren Spielraum während der eigentlichen Manufakturperiode und diente in der Sturm- und Drangperiode der englischen Großindustrie als Hebel zur Verlängerung der Arbeitszeit und Verkürzung des Arbeitslohnes. Der Stücklohn ist sehr vorteilhaft für den Kapitalisten, da er großenteils die Arbeitsaufsicht überflüssig macht und obendrein die mannigfachste Gelegenheit zu Lohnabzügen und sonstigen |374|* Prellereien bietet. Für die Arbeiter bringt er dagegen große Nachteile mit sich: Abrackern durch Überarbeit, die den Lohn steigern soll, während sie ihn tatsächlich zu senken strebt, gesteigerte Konkurrenz unter den Arbeitern und Abschwächung ihres Solidaritätsbewußtseins, Dazwischenschiebung von Schmarotzerexistenzen zwischen Kapitalisten und Arbeitern, von Mittelspersonen, die dem gezahlten Lohn ein erkleckliches Stück abzwacken, und anderes mehr.

Das Verhältnis von Mehrwert und Arbeitslohn bedingt, daß die kapitalistische Produktionsweise nicht nur dem Kapitalisten sein Kapital stets neu reproduziert, sondern daß sie auch immer wieder die Armut der Arbeiter produziert: auf der einen Seite die Kapitalisten, die die Eigentümer aller Lebensmittel, aller Rohprodukte und aller Arbeitswerkzeuge sind, und auf der anderen Seite die große Masse der Arbeiter, die gezwungen ist, ihre Arbeitskraft diesen Kapitalisten für ein Quantum Lebensmittel zu verkaufen, das im besten Falle eben hinreicht, sie in arbeitsfähigem Zustande zu erhalten und ein neues Geschlecht arbeitsfähiger Proletarier heranzuziehen. Aber das Kapital reproduziert sich nicht bloß, sondern es vergrößert und vermehrt sich beständig; diesem »Akkumulationsprozesse« widmet Marx den letzten Abschnitt des ersten Bandes.

Nicht nur entspringt Mehrwert aus Kapital, sondern Kapital entspringt auch aus Mehrwert. Ein Teil des jährlich produzierten Mehrwerts wird von den besitzenden Klassen, unter die er sich verteilt, als Revenue verzehrt, ein anderer Teil aber als Kapital akkumuliert. Die unbezahlte Arbeit, die der Arbeiterklasse ausgepumpt worden ist, dient jetzt als Mittel, ihr immer mehr unbezahlte Arbeit auszupumpen. Im Strome der Produktion wird überhaupt alles ursprünglich vorgeschossene Kapital eine verschwindende Größe, verglichen mit dem direkt akkumulierten Kapital, das heißt dem in Kapital rückverwandelten Mehrwert oder Mehrprodukt, ob nun funktionierend in der Hand, die akkumuliert hat, oder in fremder Hand. Das auf Warenproduktion und Warenzirkulation beruhende Gesetz des Privateigentums schlägt durch seine eigene, innere, unvermeidliche Dialektik in sein direktes Gegenteil um. Die Gesetze der Warenproduktion scheinen das Eigentumsrecht auf eigene Arbeit zu gründen. Gleichberechtigte Warenbesitzer standen sich gegenüber; das Mittel zur Aneignung der fremden Ware war nur die Veräußerung der eigenen Ware, und die eigene Ware konnte nur durch Arbeit hergestellt werden. Jetzt erscheint Eigentum, auf Seite des Kapitalisten, als das Recht, fremde unbezahlte Arbeit oder ihr Produkt, auf Seite des Arbeiters, als die Unmöglichkeit, sich sein eigenes Produkt anzueignen.

|375| Als die modernen Proletarier hinter diesen Zusammenhang zu kommen begannen, als das städtische Proletariat in Lyon die Sturmglocke läutete und das ländliche Proletariat in England den roten Hahn fliegen ließ, da erfanden die Vulgärökonomen die »Abstinenztheorie«, wonach das Kapital durch »freiwillige Enthaltung« der Kapitalisten entsteht, eine Theorie, die Marx ebenso unbarmherzig geißelt, wie Lassalle sie vor ihm gegeißelt hatte. Was aber wirklich zur Akkumulation des Kapitals beiträgt, das ist die erzwungene »Enthaltung« der Arbeiter, die gewaltsame Herabdrückung des Lohnes unter den Wert der Arbeitskraft zu dem Zweck, den notwendigen Konsumtionsfonds der Arbeiter teilweise in einen Akkumulationsfonds des Kapitals zu verwandeln. Hier haben die Jammerschreie über das »luxuriöse« Leben der Arbeiter, die endlosen Litaneien über jene Flasche Sekt, die einmal Maurer zum Frühstück getrunken haben sollen, die wohlfeilen Kochrezepte christlicher Sozialreformer und was sonst in dies Gebiet kapitalistischer Klopffechterei gehört, ihren tatsächlichen Ursprung.

Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation ist nun dieses. Wachstum des Kapitals schließt Wachstum seines variabeln oder in Arbeitskraft umgesetzten Bestandteils ein. Bleibt die Zusammensetzung des Kapitals unverändert, erheischt eine bestimmte Menge Produktionsmittel stets dieselbe Masse Arbeitskraft, um in Bewegung gesetzt zu werden, so wächst offenbar die Nachfrage nach Arbeit und der Subsistenzfonds der Arbeiter verhältnismäßig mit dem Kapital, und zwar um so rascher, je rascher das Kapital wächst. Wie die einfache Reproduktion fortwährend das Kapitalverhältnis selbst reproduziert, so reproduziert die Akkumulation das Kapitalverhältnis auf erweiterter Stufenleiter: mehr Kapitalisten oder größere Kapitalisten auf diesem Pol, mehr Lohnarbeiter auf jenem. Akkumulation des Kapitals ist also Vermehrung des Proletariats, und zwar erfolgt sie in dem vorausgesetzten Falle unter den für die Arbeiter günstigsten Bedingungen. Von ihrem eigenen anschwellenden und schwellend in neues Kapital verwandelten Mehrprodukt strömt ihnen ein größerer Teil in der Form von Zahlungsmitteln zurück, so daß sie den Kreis ihrer Genüsse erweitern, ihren Konsumtionsfonds von Kleidern, Möbeln usw. besser ausstatten können. Jedoch wird dadurch das Abhängigkeitsverhältnis, worin sie stehen, sowenig berührt, wie ein gut gekleideter und genährter Sklave aufhört, Sklave zu sein. Immer müssen sie ein bestimmtes Quantum unbezahlter Arbeit liefern, das zwar abnehmen kann, aber nie bis zu dem Punkte, wo der kapitalistische Charakter des Produktionsprozesses ernsthaft gefährdet werden würde. Steigen die Löhne über diesen Punkt, so stumpft der Stachel des |376| Gewinnes ab, und die Akkumulation des Kapitals erschlafft, bis die Löhne wieder auf ein seinen Verwertungsbedürfnissen entsprechendes Niveau gesunken sind.

Jedoch nur dann, wenn sich bei der Akkumulation des Kapitals das Verhältnis zwischen seinem konstanten und variabeln Bestandteile nicht verändert, spannt sich die goldene Kette, die der Lohnarbeiter sich selbst schmiedet, loser nach Umfang und Wucht. Tatsächlich tritt aber mit dem Fortgange der Akkumulation eine große Revolution in der, wie Marx sie nennt, organischen Zusammensetzung des Kapitals ein. Das konstante Kapital wächst auf Kosten des variabeln Kapitals; die wachsende Produktivität der Arbeit bewirkt, daß die Masse der Produktionsmittel schneller wächst als die Masse der ihnen einverleibten Arbeitskraft; die Nachfrage nach Arbeit steigt nicht gleichmäßig mit der Akkumulation des Kapitals, sondern sinkt verhältnismäßig. Dieselbe Wirkung hat in anderer Form die Konzentration des Kapitals, die sich, unabhängig von seiner Akkumulation, dadurch vollzieht, daß die Gesetze des kapitalistischen Konkurrenzkampfs zur Verschlingung des kleinen Kapitals durch das große führen. Während das im Fortgange der Akkumulation gebildete Zuschußkapital, im Verhältnis zu seiner Größe, weniger und weniger Arbeiter anzieht, stößt das in neuer Zusammensetzung reproduzierte alte Kapital mehr und mehr von ihm früher beschäftigte Arbeiter ab. So entsteht eine relative, das heißt für die Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige Arbeiterbevölkerung, eine industrielle Reservearmee, die während schlechter oder mittelmäßiger Geschäftszeiten unter dem Wert ihrer Arbeitskraft bezahlt und unregelmäßig beschäftigt wird, oder der öffentlichen Armenpflege anheimfällt, unter allen Umständen aber dazu dient, die Widerstandskraft der beschäftigten Arbeiter zu lähmen und ihre Löhne niedrig zu halten.

Ist die industrielle Reservearmee notwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichtums auf kapitalistischer Grundlage, so wird sie umgekehrt zum Hebel der kapitalistischen Produktionsweise. Mit der Akkumulation und der sie begleitenden Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wächst die plötzliche Expansionskraft des Kapitals, die großer Menschenmassen bedarf, um sie plötzlich und ohne Abbruch der Produktionsleiter in anderen Sphären auf neue Märkte oder in neue Produktionszweige zu werfen. Der charakteristische Lebenslauf der modernen Industrie, die Form eines durch kleinere Schwankungen unterbrochenen, zehnjährigen Zyklus von Perioden mittlerer Lebendigkeit, Produktion unter Hochdruck, Krise und Stagnation, beruht auf der beständigen Bildung, größeren oder geringeren Absorption, und |377| Wiederbildung der industriellen Reservearmee. Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe der Arbeiterbevölkerung und die Produktivkraft ihrer Arbeit, desto größer die relative Überbevölkerung oder industrielle Reservearmee. Ihre verhältnismäßige Größe wächst mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber die industrielle Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die Arbeiterschichten, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschicht der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.

Aus ihm ergibt sich auch ihre geschichtliche Tendenz. Hand in Hand mit der Akkumulation und Konzentration des Kapitals entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter, die bewußte technologische Anwendung der Wissenschaft, die planmäßig gemeinsame Ausbeutung der Erde, die Verwandlung der Arbeitsmittel in nur gemeinsam verwendbare Arbeitsmittel und die Ökonomisierung aller Produktionsmittel durch ihren Gebrauch als gemeinsame Produktionsmittel kombinierter gesellschaftlicher Arbeit. Mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, die alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elendes, des Druckes, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung, aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Konzentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt, die Enteigner werden enteignet.

Das individuelle, auf eigene Arbeit gegründete Eigentum stellt sich wieder her, aber auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: als Kooperation freier Arbeiter und als ihr Gemeineigentum an der Erde und den durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmitteln. Natürlich ist die Verwandlung des faktisch bereits auf gesellschaftlichem Produktionsbetriebe beruhenden kapitalistischen Eigentums in gesellschaftliches Eigentum bei weitem nicht so langwierig, hart und schwierig, wie die Verwandlung des auf eigener Arbeit der Individuen beruhenden, zersplitterten Eigentums in kapitalistisches Eigentum war. |378| Hier handelte es sich um die Enteignung der Volksmasse durch wenige Usurpatoren, dort wird es sich um die Enteignung weniger Usurpatoren durch die Volksmasse handeln.

3. Der zweite und dritte Band

Mit dem zweiten und dritten Bande seines Werkes hatte Marx dasselbe Schicksal wie mit dem ersten; er hoffte, sie bald nach dessen Erscheinen veröffentlichen zu können, aber darüber vergingen lange Jahre, und es ist ihm nicht mehr gelungen, sie druckfertig herzustellen.

Immer neue und immer tiefer dringende Studien, langwierige Krankheiten und endlich der Tod hinderten ihn, das ganze Werk zu vollenden, und so hat Engels die beiden Bände aus den unfertigen Manuskripten zusammengestellt, die sein Freund hinterlassen hatte. Es waren Niederschriften, Entwürfe, Notizen, bald zusammenhängende große Abschnitte, bald kurze hingeworfene Bemerkungen, wie sie ein Forscher zur eigenen Verständigung macht - eine gewaltige geistige Arbeit, die sich mit längeren Unterbrechungen auf die große Zeitspanne von 1861 bis 1878 erstreckte.

Diese Umstände erklären, daß wir in den beiden letzten Bänden des Kapitals nicht etwa eine abgeschlossene fertige Lösung aller wichtigster Probleme der Nationalökonomie zu suchen haben, sondern zum Teil nur die Aufstellung solcher Probleme, und dazu Fingerzeige, nach welcher Richtung die Lösung zu suchen wäre. Wie die ganze Weltanschauung Marxens ist sein Hauptwerk keine Bibel, mit fertigen, ein für allemal gültigen Wahrheiten letzter Instanz, sondern ein unerschöpflicher Born der Anregung zur weiteren geistigen Arbeit, zum weiteren Forschen und Kämpfen um die Wahrheit.

Dieselben Umstände erklären, daß auch äußerlich, in der literarischen Form, der zweite und dritte Band nicht so vollendet sind, nicht so von Geist blitzen und funkeln wie der erste Band. Doch bieten sie, gerade in ihrer um jede Form unbekümmerten, einfachen Gedankenarbeit für manchen Leser noch höheren Genuß als der erste. Inhaltlich bilden die beiden Bände, obwohl sie leider bis jetzt in keiner Popularisation berücksichtigt, also der breiten Masse der aufgeklärten Arbeiter unbekannt geblieben sind, eine wesentliche Ergänzung und Weiterentwicklung des ersten Bandes, die für das Verständnis des ganzen Systems unentbehrlich ist.

|379| Im ersten Bande befaßt sich Marx mit der Kardinalfrage der Nationalökonomie: Woher entspringt die Bereicherung, wo ist die Quelle des Profits? Die Beantwortung dieser Frage wurde in der Zeit, ehe Marx auftrat, nach zwei verschiedenen Richtungen gegeben.

Die »wissenschaftlichen« Verteidiger der besten der Welten, in der wir leben, Männer, die zum Teil, wie Schulze-Delitzsch, auch bei den Arbeitern Ansehen und Vertrauen genossen, erklärten den kapitalistischen Reichtum durch eine ganze Reihe mehr oder minder plausibler Rechtfertigungsgründe und schlauer Manipulationen: als die Frucht systematischen Preisaufschlags auf die Waren zur »Entschädigung« des Unternehmers für das von ihm zur Produktion edelmütig »überlassene« Kapital, als Vergütung für das »Risiko«, das jeder Unternehmer laufe, als Lohn für die »geistige Leitung« des Unternehmens und dergleichen mehr. Nach diesen Erklärungen kam es jedesmal nur darauf an, den Reichtum der einen, also auch die Armut der andern als etwas »Gerechtes«, mithin Unabänderliches hinzustellen.

Demgegenüber erklärten die Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft, also die Schulen der Sozialisten, die vor Marx auftraten, die Bereicherung der Kapitalisten zu allermeist als glatte Prellerei, ja als Diebstahl an den Arbeitern, der durch die Dazwischenkunft des Geldes oder durch Mangel an Organisation des Produktionsprozesses ermöglicht werde. Von hier aus kamen jene Sozialisten zu verschiedenen utopischen Plänen, wie man durch Abschaffung des Geldes, durch »Organisation der Arbeit« und dergleichen mehr die Ausbeutung beseitigen könne.

Marx deckt nun im ersten Bande des »Kapitals« die wirkliche Wurzel der kapitalistischen Bereicherung auf. Er befaßt sich weder mit Rechtfertigungsgründen für die Kapitalisten noch mit Anklagen gegen ihre Ungerechtigkeit: er zeigt zum ersten Male, wie der Profit entsteht, und wie er in die Tasche des Kapitalisten wandert. Das erklärt er durch zwei entscheidende ökonomische Tatsachen: erstens dadurch, daß die Masse der Arbeiter aus Proletariern besteht, die ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen, und zweitens dadurch, daß diese Ware Arbeitskraft heute einen so hohen Grad von Produktivität besitzt, daß sie ein viel größeres Produkt in einer gewissen Zeit herzustellen vermag, als zu ihrer eigenen Erhaltung in dieser Zeit notwendig ist. Diese beiden rein ökonomischen und zugleich durch objektive historische Entwicklung gegebenen Tatsachen bringen es mit sich, daß die Frucht, die die Arbeit des Proletariers schafft, ganz von selbst dem Kapitalisten in den Schoß fällt, sich mechanisch mit der Fortdauer des Lohnsystems zu immer gewaltigeren Kapitalvermögen ansammelt.

|380| Marx erklärt also die kapitalistische Bereicherung nicht als irgendeine Vergütung des Kapitalisten für eingebildete Opfer und Wohltaten und ebensowenig als Prellerei und Diebstahl im landläufigen Sinne des Wortes, sondern als ein im Sinne des Strafrechts völlig rechtmäßiges Austauschgeschäft zwischen Kapitalist und Arbeiter, das sich genau nach denselben Gesetzen abwickelt wie jeder andere Warenkauf und Warenverkauf. Um dieses tadellose Geschäft, das dem Kapitalisten die goldenen Früchte trägt, gründlich aufzuhellen, mußte Marx das von den großen englischen Klassikern Smith und Ricardo zu Ende des achtzehnten und zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts aufgestellte Wertgesetz, das heißt die Erklärung der inneren Gesetze des Warenaustausches, zu Ende entwickeln und auf die Ware Arbeitskraft anwenden. Das Wertgesetz, daraus abgeleitet der Lohn und der Mehrwert, das heißt die Erklärung, wie ohne jede gewaltsame Prellerei sich das Produkt der Lohnarbeit von selbst in einen kümmerlichen Lebensunterhalt für den Arbeiter und den arbeitslosen Reichtum des Kapitalisten teilt, das ist der Hauptinhalt vom ersten Bande des »Kapitals«. Und darin liegt die große geschichtliche Bedeutung dieses Bandes: er hat dargetan, daß die Ausbeutung erst dadurch und lediglich dadurch beseitigt werden kann, daß der Verkauf der Arbeitskraft, will sagen das Lohnsystem, aufgehoben wird.

Wir befinden uns im ersten Bande des »Kapitals« die ganze Zeit in der Werkstatt der Arbeit: in einer einzelnen Fabrik, im Bergwerk oder einem modernen landwirtschaftlichen Betriebe. Was hier ausgeführt wird, gilt für jedes kapitalistische Unternehmen. Es ist das Einzelkapital als Typus der ganzen Produktionsweise, womit wir allein zu tun haben. Wenn wir den Band schließen, ist uns die tägliche Entstehung des Profits klar, der Mechanismus der Ausbeutung bis in die Tiefen durchleuchtet. Vor uns liegen Berge von Waren jeglicher Art, wie sie unmittelbar aus der Werkstatt, noch vom Schweiß der Arbeiter befeuchtet, hervorkommen, und in ihnen allen können wir scharf unterscheiden den Teil ihres Wertes, der aus unbezahlter Arbeit des Proletariers herrührt und der ebenso rechtmäßig wie die ganze Ware in den Besitz des Kapitalisten wandert. Wir greifen hier die Wurzel der Ausbeutung mit den Händen.

Aber damit ist die Ernte des Kapitalisten noch lange nicht in die Scheunen gebracht. Die Frucht der Ausbeutung ist da, aber sie steckt noch in einer für den Unternehmer ungenießbaren Form. Solange er sie erst in Gestalt von aufgestapelten Waren besitzt, kann der Kapitalist der Ausbeutung nicht froh werden. Er ist eben nicht der Sklavenhalter der antiken, griechisch-römischen Welt, auch nicht der feudale Herr de Mittelalters, die nur für den eigenen Luxus und die große Hofhaltung |381| das arbeitende Volk geschunden haben. Der Kapitalist braucht seinen Reichtum in klingendem Geld, um dieses neben der »standesgemäßen Lebenshaltung« für sich zur fortwährenden Vergrößerung seines Kapitals zu verwenden. Dazu ist der Verkauf der vom Lohnarbeiter erzeugten Waren mitsamt des in ihnen steckenden Mehrwerts nötig. Die Ware muß aus dem Fabriklager und dem landwirtschaftlichen Speicher auf den Markt; der Kapitalist folgt ihr aus dem Kontor auf die Börse, in den Laden, und wir folgen ihm dahin im zweiten Bande des »Kapitals«.

Im Bereich des Warenaustausches, wo sich das zweite Lebenskapitel des Kapitalisten abspielt, erwachsen ihm manche Schwierigkeiten. In seiner Fabrik, auf seinem Vorwerk war er Herr. Dort herrschte strengste Organisation, Disziplin und Planmäßigkeit. Auf dem Warenmarkt dagegen herrscht völlige Anarchie, die sogenannte freie Konkurrenz. Hier kümmert sich keiner um den anderen und niemand um das Ganze. Und doch fühlt der Kapitalist gerade mitten durch diese Anarchie seine Abhängigkeit von anderen, von der Gesellschaft nach jeder Richtung.

Er muß mit allen seinen Konkurrenten Schritt halten. Versäumt er bis zum endgültigen Verkauf seiner Waren mehr Zeit, als unbedingt erforderlich ist, versorgt er sich nicht mit genügendem Geld, um rechtzeitig Rohstoffe und alles Nötige einzukaufen, damit der Betrieb mittlerweise keine Unterbrechung erleidet, sorgt er nicht dafür, daß sein Geld, wie er es aus dem Erlös der Waren wieder in die Hand bekommt, nicht etwa müßig liegt, sondern irgendwo profitlich angelegt wird, so kommt er auf diese oder jene Weise ins Hintertreffen. Den letzten beißen die Hunde, und der einzelne Unternehmer, der nicht achtgibt, daß sein Geschäft in dem fortwährenden Hin und Her zwischen der Werkstatt und dem Warenmarkt so gut klappt wie in der Werkstatt selbst, wird, so gewissenhaft er seine Lohnarbeiter ausnutzen mag, doch nicht zu dem üblichen Profit gelangen. Ein Stück seines »wohlerworbenen« Profits wird irgendwo hängenbleiben, nur nicht in seiner eigenen Tasche.

Damit nicht genug. Der Kapitalist kann nur Reichtum ansammeln, wenn er Waren, also Gebrauchsgegenstände herstellt. Er muß aber gerade diejenigen Arten und Sorten herstellen, die die Gesellschaft braucht, und nur so viel, wie sie braucht. Sonst bleiben die Waren unverkauft, und der darin steckende Mehrwert geht wiederum flöten. Aber wie soll ein Einzelkapitalist das alles wissen? Niemand sagt ihm, was und wieviel die Gesellschaft jeweilen an Gebrauchsgütern braucht, eben weil es niemand weiß. Leben wir doch in einer planlosen, anarchischen Gesellschaft! Jeder einzelne Unternehmer ist in derselben Lage. Und doch muß aus diesem Chaos, diesem Durcheinander etwas Ganzes entstehen |382|*, das sowohl das Einzelgeschäft der Kapitalisten und ihre Bereicherung als auch die Bedarfsdeckung und die Fortexistenz der Gesellschaft im Ganzen ermöglicht.

Genauer gesprochen, muß aus dem Durcheinander auf dem regellosen Markt ermöglicht werden, erstens die ständige Kreisbewegung des Einzelkapitals, die Möglichkeit zu produzieren, zu verkaufen, einzukaufen und wieder zu produzieren, wobei das Kapital beständig aus seine Geldgestalt in Warengestalt schlüpft und umgekehrt: Diese Phasen müssen miteinander klappen, Geld muß auf Vorrat vorhanden sein, um jede Marktkonjunktur zum Einkauf wahrzunehmen, um laufende Ausgaben des Betriebes zu decken; anderseits muß das im Maße des Warenverkaufs allmählich zurückfließende Geld sich sofort wieder betätigen können. Die scheinbar voneinander völlig unabhängigen Einzelkapitalisten schließen sich schon hier tatsächlich zu einer großen Bruderschaft zusammen, indem sie durch das System des Kredits, der Banken einander fortwährend das benötigte Geld vorschießen und das vorrätige Geld abnehmen und so den ununterbrochenen Fortgang der Produktion und des Warenverkaufs für die einzelnen wie für die Gesellschaft ermöglichen. Den Kredit, den die bürgerliche Nationalökonomie nur als schlaue Einrichtung zur »Erleichterung des Warenverkehrs« erklären kann, weiß Marx so im zweiten Bande seines Werkes, ganz im Vorbeigehen, als eine einfache Lebensweise des Kapitals aufzuzeigen als Verknüpfung zwischen den beiden Lebensphasen des Kapitals: in der Produktion und auf dem Warenmarkt sowie zwischen den scheinbar selbstherrlichen Bewegungen der Einzelkapitale.

Zweitens muß in dem Durcheinander der Einzelkapitale die ständige Kreisbewegung der Produktion und Konsumtion der Gesellschaft im Ganzen im Fluß erhalten werden und zwar so, daß die Bedingungen für die kapitalistische Produktion: Herstellung der Produktionsmittel, Ernährung der Arbeiterklasse, progressive Bereicherung der Kapitalistenklasse, das heißt steigende Ansammlung und Betätigung des Gesamtkapitals der Gesellschaft gesichert bleiben. Wie sich das Ganze aus den zahllosen auseinanderfallenden Bewegungen der Einzelkapital knüpft, wie diese Bewegung des Ganzen durch fortwährende Abschweifungen bald in den Überfluß der Hochkonjunktur, bald in den Zusammenbruch der Krise doch immer wieder in das richtige Verhältnis eingerenkt wird, um im nächsten Augenblicke wieder aus ihm herauszufallen, wie aus alledem das, was der heutigen Gesellschaft nur Mittel: ihre eigene Ernährung nebst dem ökonomischen Fortschritt, und das was ihr Zweck ist: die fortschreitende Kapitalansammlung, in immer |383| gewaltigeren Dimensionen hervorgeht, das hat Marx im zweiten Bande seines Werkes zwar nicht endgültig aufgelöst, aber zum ersten Male seit hundert Jahren, seit Adam Smith, auf die feste Grundlage der Gesetzmäßigkeit gestellt.

Aber mit alledem ist die dornenvolle Aufgabe des Kapitalisten noch nicht erschöpft. Denn nun kommt, nachdem und indem der Profit in steigendem Maße zu Golde geworden ist und wird, die große Frage, wie die Beute verteilt werden soll. Gar verschiedene Gruppen melden da ihre Ansprüche an: neben dem Unternehmer der Kaufmann, der Leihkapitalist, der Grundbesitzer. Sie alle haben die Ausbeutung des Lohnarbeiters wie den Verkauf der von ihm hergestellten Waren, jeder an seinem Teil ermöglicht, und fordern nun ihren Teil am Profit. Diese Verteilung ist aber eine viel verzwicktere Aufgabe, als auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn auch unter den Unternehmern gibt es, je nach der Art des Unternehmens, große Unterschiede im erzielten Profit, wie er sozusagen frisch aus der Werkstatt der Arbeit geschöpft wird.

In einem Produktionszweig wird die Herstellung der Waren und ihr Verkauf sehr schnell erledigt, und das Kapital kehrt nebst Zuwachs in kürzester Zeit zurück; es läßt sich damit flott immer wieder Geschäft und Profit machen. In einem anderen Zweig ist das Kapital in der Produktion jahrelang festgeklemmt und bringt erst nach langer Zeit Profit ein. In gewissen Zweigen muß der Unternehmer den größten Teil seines Kapitals in tote Produktionsmittel: Baulichkeiten, kostspielige Maschinen usw. stecken, die ja an sich nichts einbringen, keinen Profit hecken, so sehr sie zur Profitmacherei notwendig sind. In anderen Zweigen kann der Unternehmer bei ganz geringen Auslagen sein Kapital hauptsächlich für Anwerbung von Arbeitern verwenden, deren jeder das fleißige Huhn ist, das ihm goldene Eier legt.

So entstehen in der Profitmacherei selbst große Unterschiede zwischen den Einzelkapitalen, die vor dem Antlitz der bürgerlichen Gesellschaft eine viel schreiendere »Ungerechtigkeit« darstellen als die eigenartige »Teilung« zwischen dem Kapitalisten und dem Arbeiter. Wie nun hier einen Ausgleich, eine »gerechte« Verteilung der Beute herstellen, so daß jeder Kapitalist »zu dem Seinen« kommt? Und zwar müssen alle diese Aufgaben ohne jede bewußte, planmäßige Regelung gelöst werden. Ist doch die Verteilung in der heutigen Gesellschaft ebenso anarchisch wie die Produktion. Es findet ja gar keine eigentliche »Verteilung« im Sinne irgendeiner gesellschaftlichen Maßnahme statt; es findet lediglich Austausch, nur Warenverkehr, nur Kauf und Verkauf statt. Wie kommt also, nur auf dem Wege des blinden Warenaustausches, jede Schicht der |384| Ausbeuter, und jeder einzelne unter ihnen, zu einer vom Standpunkt der Kapitalherrschaft »gerechten« Portion des aus der Arbeitskraft des Proletariats geschöpften Reichtums?

Auf diese Fragen antwortet Marx in seinem dritten Bande. Wie er im ersten Bande die Produktion des Kapitals und darin das Geheimnis der Profitmacherei zergliedert hat, wie er im zweiten Bande die Bewegung des Kapitals zwischen der Werkstatt und dem Warenmarkt, zwischen der Produktion und der Konsumtion der Gesellschaft geschildert hat, so spürt er im dritten Bande der Profitverteilung nach. Und zwar immer wieder unter Innehaltung derselben drei Grundbedingungen: daß alles, was in der kapitalistischen Gesellschaft vorgeht, ohne Willkür, das heißt nach bestimmten, regelmäßig wirkenden, wenn auch den Beteiligten ganz unbewußten Gesetzen verläuft, daß ferner die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht auf gewaltsamen Maßnahmen des Raubes und des Diebstahls beruhen, und endlich, daß keine gesellschaftliche Vernunft sich in planmäßigem Wirken auf das Ganze geltend macht. Es ist ausschließlich der Mechanismus des Austausches, das heißt das Wertgesetz und der aus ihm abgeleitete Mehrwert, woraus Marx nach und nach alle Erscheinungen und Verhältnisse der kapitalistischen Wirtschaft mit durchsichtiger Folgerichtigkeit und Klarheit entwickelt.

Überblickt man das große Werk im ganzen, so kann man sagen: der erste Band mit dem darin entwickelten Wertgesetz, Lohn und Mehrwert, legt das Fundament der heutigen Gesellschaft bloß, der zweite und dritte Band zeigen die Stockwerke des Gebäudes, das auf jenem ruht. Oder man kann auch mit einem ganz anderen Bilde sagen: der erste Band zeigt uns das Herz des sozialen Organismus, wo der belebende Saft erzeugt wird, der zweite und dritte Band zeigen die Blutzirkulation und Ernährung des Ganzen bis an die äußersten Hautzellen.

Entsprechend dem Inhalt, bewegen wir uns in den beiden letzten Bänden auf einer anderen Fläche als im ersten. Hier war es die Werkstatt, der tiefe soziale Schacht der Arbeit, wo wir den Quell der kapitalistischen Bereicherung aufspürten. Im zweiten und dritten Bande bewegen wir uns an der Oberfläche, auf der offiziellen Bühne der Gesellschaft. Warenmagazine, Banken, Börse, Geldgeschäfte, notleidende Agrarier und ihre Sorgen füllen hier den Vordergrund aus. Der Arbeiter spielt hier nicht mit. Er kümmert sich auch in Wirklichkeit nicht um diese Dinge, die hinter seinem Rücken vorgehen, nachdem sein Fell bereits gegerbt ist. Und im lärmenden Gewühl der geschäftetreibenden Menge begegnen wir auch in der Wirklichkeit den Arbeitern nur, wenn sie am dämmernden Morgen in Trupps in ihre Werkstätten trotten und am |385| dämmernden Abend, wenn sie in langen Zügen von ihren Werkstätten wieder ausgespien werden.

Danach mag es nicht ersichtlich erscheinen, welches Interesse die verschiedenen Privatsorgen der Kapitalisten bei der Profitmacherei und ihr Zank um die Verteilung der Beute für die Arbeiter haben mögen. Tatsächlich aber gehören der zweite und dritte Band des »Kapitals« zur erschöpfenden Erkenntnis des heutigen Wirtschaftsmechanismus so gut wie der erste. Freilich sind sie nicht von der entscheidenden und grundlegenden historischen Bedeutung für die moderne Arbeiterbewegung wie dieser. Sie enthalten aber eine reiche Fülle von Einblicken, die auch für die geistige Ausrüstung des Proletariats zum praktischen Kampf von unschätzbarer Bedeutung sind. Hierfür nur zwei Beispiele.

Im zweiten Bande berührt Marx bei der Frage, wie sich aus dem chaotischen Walten der Einzelkapitale die regelmäßige Ernährung der Gesellschaft ergeben könne, naturgemäß auch die Frage der Krisen. Keine systematische und lehrhafte Abhandlung über Krisen darf man hier erwarten, nur einige beiläufige Bemerkungen. Aber ihre Verwertung wäre für die aufgeklärten und denkenden Arbeiter von großem Nutzen. Es gehört sozusagen zum eisernen Bestand der sozialdemokratischen und namentlich der gewerkschaftlichen Agitation, daß die Krisen mit in erster Reihe durch die Kurzsichtigkeit der Kapitalisten entstehen, die schlechterdings nicht begreifen wollen, daß die Massen ihrer Arbeiter ihre besten Abnehmer seien und daß sie diesen nur höhere Löhne zu zahlen brauchen, um sich die kauffähige Kundschaft zu erhalten und der Krisengefahr vorzubeugen.

So populär diese Vorstellung ist, so ist sie doch völlig verkehrt, und Marx widerlegt sie mit folgenden Worten: »Es ist eine reine Tautologie, zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion oder an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehn. Andre Konsumarten, als zahlende, kennt das kapitalistische System nicht, ausgenommen die sub forma pauperis [von Mehring übersetzt: unter der Form der Armenunterstützung] oder die des ›Spitzbuben‹. Daß Waren unverkäuflich sind, heißt nichts, als daß sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten ... Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter |386| größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müßte - von dem Gesichtspunkt diese Ritter vom gesunden und ›einfachen‹ (!) Menschenverstand - umgekehrt die Krise entfernen. Es scheint also, daß die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise.«[3]

In der Tat führen die Darlegungen des zweiten wie des dritten Bandes zu gründlichem Einblick in das Wesen der Krisen, die sich einfach als unvermeidliche Folgen der Bewegung des Kapitals ergeben, einer Bewegung, die, im ungestümen, unstillbaren Drang nach Ansammlung, nach Wachstum, über jede Schranke der Konsumtion alsbald hinauszustreben pflegt, mag diese Konsumtion durch erhöhte Kaufmittel einer einzelnen Gesellschaftsschicht oder durch Eroberung ganz neuer Absatzgebiete noch so sehr erweitert werden. So muß auch der im Hintergrunde jener populären gewerkschaftlichen Agitation lauernde Gedanke von der Interessenharmonie zwischen Kapital und Arbeit, der nur durch die Kurzsichtigkeit der Unternehmer verkannt werde, verabschiedet und alle Hoffnung auf mildernde Flickarbeit an der wirtschaftlichen Anarchie des Kapitalismus aufgegeben werden. Der Kampf um die materielle Hebung der Lohnproletarier hat tausend allzu gute Waffen in seinem geistigen Rüstzeug, als daß er eines theoretisch unhaltbaren und praktisch zweideutigen Arguments bedürfte.

Ein anderes Beispiel. Im dritten Band gibt Marx zum ersten Male eine wissenschaftliche Erklärung für die von der Nationalökonomie seit ihrem Entstehen ratlos angestaunte Erscheinung, daß die Kapitale in allen Produktionszweigen, obgleich sie unter verschiedensten Bedingungen angelegt sind, den sogenannten »landesüblichen« Profit abzuwerfen pflegen. Auf den ersten Blick scheint diese Erscheinung einer Erklärung zu widersprechen, die Marx selbst gegeben hat, nämlich der Erklärung des kapitalistischen Reichtums lediglich aus unbezahlter Arbeit des Lohnproletariats. Wie kann in der Tat der Kapitalist, der verhältnismäßig große Portionen seines Kapitals in toten Produktionsmitteln anlegen muß, den gleichen Profit erzielen, wie sein Kollege, der geringe Ausgaben dieser Art hat und desto mehr lebendige Arbeit anspannen kann?

Nun, Marx löst das Rätsel mit erstaunlicher Einfachheit auf, indem er zeigt, wie durch den Verkauf der einen Warensorten über ihrem Wert, der anderen aber unter ihrem Wert, sich die Unterschiede des Profits ausgleichen und ein für alle Zweige der Produktion gleicher »Durchschnittsprofit« sich herausbildet. Ohne daß die Kapitalisten eine Ahnung |387|* davon haben, ohne jede bewußte Verständigung unter ihnen, verfahren sie beim Austausch ihrer Waren so, daß sie gewissermaßen jeder den aus seinen Arbeitern geschöpften Mehrwert mit zu Hauf tragen und diese Gesamternte der Ausbeutung brüderlich untereinander verteilen, jedem nach der Größe seines Kapitals. Der Einzelkapitalist genießt also gar nicht den von ihm persönlich erzielten Profit, sondern nur einen auf ihn entfallenden Teil der von allen seinen Kollegen erzielten Profite. »Die verschiednen Kapitalisten verhalten sich hier, soweit der Profit in Betracht kommt, als bloße Aktionäre einer Aktiengesellschaft, worin die Anteile am Profit gleichmäßig pro Hundert verteilt werden, und daher für die verschiednen Kapitalisten sich nur unterscheiden nach der Größe des von jedem in das Gesamtunternehmen gesteckten Kapitals, nach seiner verhältnismäßigen Beteiligung am Gesamtunternehmen.«[4]

Welch tiefen Einblick gewährt dies anscheinend ganz trockene Gesetz der »durchschnittlichen Profitrate« in die feste materielle Grundlage der Klassensolidarität der Kapitalisten, die, obschon im täglichen Treiben feindliche Brüder, doch gegenüber der Arbeiterklasse einen Freimaurerbund bilden, der an ihrer Gesamtausbeutung aufs höchste und aufs persönlichste interessiert ist! Ohne daß sich die Kapitalisten natürlich im geringsten dieser objektiven ökonomischen Gesetze bewußt sind, äußert sich in ihrem untrüglichen Instinkt der herrschenden Klasse ein Sinn für die eigenen Klasseninteressen und deren Gegensatz zum Proletariat, der sich leider durch alle Stürme der Geschichte viel sicherer bewährt, als das wissenschaftlich - eben durch die Werke von Marx und Engels - aufgeklärte und begründete Klassenbewußtsein der Arbeiter.

Diese beiden kurzen und aufs Geratewohl herausgerissenen Belege mögen eine Vorstellung davon geben, wieviel ungehobene Schätze an geistiger Anregung und Vertiefung für die aufgeklärte Arbeiterschaft in den beiden letzten Bänden des »Kapitals« noch liegen und einer populären Darstellung harren. Unfertig wie sie sind, bieten sie unendlich Wertvolleres als jede fertige Wahrheit: Ansporn zum Denken, zur Kritik und zur Selbstkritik, die das ureigenste Element der Lehre ist, die Marx hinterlassen hat.

4. Die Aufnahme des Werks

Die Hoffnung, die Engels nach Vollendung des ersten Bandes ausgesprochen hatte, daß Marx sich nach »Abschüttelung des Alps« wie ein ganz anderer Kerl vorkommen werde, erfüllte sich zunächst doch nur zum Teil.

|388| Gesundheitlich besserte sich Marx nicht dauernd, und auch seine ökonomischen Verhältnisse blieben in peinlicher Schwebe. Damals hat er ernstlich den Plan erwogen, nach Genf überzusiedeln, wo er viel billiger leben konnte, aber das Schicksal band ihn einstweilen an London, an die Schätze des Britischen Museums; er hoffte auf einen Verleger für eine englische Übersetzung seines Werkes, und er konnte weder noch wollte er die geistige Leitung der Internationalen aus der Hand geben, ehe die Bewegung in sichere Geleise geraten sei.

Eine häusliche Freude bereitete ihm die Vermählung seiner zweiten Tochter Laura mit seinem »medizinischen Kreolen«, mit Paul Lafargue. Die jungen Leute hatten sich schon im August 1866 versprochen, doch sollte der Bräutigam erst seine ärztliche Ausbildung abschließen, ehe an die Hochzeit zu denken war. Wegen seiner Beteiligung an einem Studentenkongreß in Lüttich war Lafargue auf zwei Jahre aus den Listen der Pariser Universität gestrichen worden und in Sachen der Internationalen nach London gekommen; als Anhänger Proudhons hatte er keine näheren Beziehungen zu Marx und in dessen Hause nur aus Höflichkeit eine Empfehlungskarte Tolains abgegeben. Indessen es kam, wie es oft zu kommen pflegt. »Der Junge attachierte sich erst an mich«, schrieb Marx nach der Verlobung an Engels, »übertrug aber bald die attraktion vom Alten auf die Tochter. Seine ökonomischen Verhältnisse sind mittlerer Natur, da er das einzige Kind einer früheren Pflanzerfamilie.« Marx schilderte ihn dem Freunde als einen hübschen, intelligenten, energischen und gymnastisch entwickelten Burschen, einen kreuzguten Kerl, der nur verzogen und zu sehr Naturkind sei.

Lafargue war in Sanjago auf der Insel Kuba geboren, aber schon als Kind von neun Jahren nach Frankreich gekommen. Von der Mutter seines Vaters her, einer Mulattin, hatte er Negerblut in den Adern, wovon er selbst gern sprach und wovon auch die matte Hautfarbe und die großer weißen Augäpfel des sonst sehr regelmäßig geschnittenen Gesichts zeugten. Von dieser Blutmischung mochte ein gewisses Maß von Hartnäckigkeit herrühren, das Marx manches Mal zu ärgerlich-lustigem Spott über den »Niggerschädel« veranlaßte. Doch der Ton gutmütiger Neckerei worin sie miteinander verkehrten, zeigte doch nur, wie trefflich sie sich verstanden. Marx hatte in Lafargue nicht nur den Schwiegersohn, der daß Lebensglück seiner Tochter begründete, sondern auch einen fähigen und geschickten Helfer, einen treuen Hüter seines geistigen Erbes gefunden.

Seine Hauptsorge blieb einstweilen der Erfolg seines Buches. An 2. November 1867 schrieb er an Engels: »Das Stillschweigen über mein Buch macht mich fidgety [Mehring übersetzt: nervös]. Ich höre und sehe |389| nichts. Die Deutschen sind gute Kerle. Ihre Leistungen als Bediente der Engländer, Franzosen und selbst Italiener auf diesem Gebiete berechtigen sie in der Tat, meine Geschichte zu ignorieren. Unsre Leut drüben verstehen nicht zu agitieren. Indes muß man's machen, wie die Russen - warten. Die Geduld ist der Kern der russischen Diplomatie und Erfolge. Aber unsereiner, der nur einmal lebt, kann darüber verrecken.« Die Ungeduld, die aus diesen Zeilen spricht, war sehr begreiflich, aber bei alledem nicht ganz berechtigt.

Das Buch war noch nicht zwei Monate an das Licht der Öffentlichkeit gelangt, als Marx so schrieb, und binnen so kurzer Frist ließ sich keine gründliche Kritik schreiben. Soweit es aber nicht auf die Gründlichkeit, sondern auf das »Lärmmachen« ankam, was Marx wegen der Rückwirkung auf England zunächst auch als das Notwendigste ansah, gaben sich Engels und Kugelmann die menschenmöglichste Mühe, ohne daß sich ihnen der Vorwurf allzu großer Peinlichkeit hätte machen lassen. Sie hatten immerhin nicht unbeträchtliche Erfolge. In einer ganz hübschen Anzahl auch von bürgerlichen Blättern wußten sie vorläufige Notizen über das Erscheinen des Buches oder den Abdruck der Vorrede unterzubringen.[5] Sogar eine Bombenreklame nach den Begriffen der damaligen Zeit, die Veröffentlichung eines biographischen Artikels über Marx sowie seines Bildnisses in der »Gartenlaube«, hatten sie fertig, als Marx selbst sie bat, von dem »Spaße« abzustehen. »Ich halte dergleichen eher für schädlich als nützlich und unter dem Charakter eines wissenschaftlichen Manns. Zum Beispiel Meyers Konversationslexikon hat mir seit längerer Zeit schriftlich eine Biographie abverlangt. Ich habe sie nicht nur nicht geliefert, sondern auf den Brief nicht einmal geantwortet. Jeder muß nach seiner Art selig werden.« Der für die »Gartenlaube« von Engels bestimmte Aufsatz [6] - einen »in höchster Eile und in möglichst Betaischer Form hingeschmierten Wisch« nennt ihn der Verfasser selbst - erschien darauf in der »Zukunft«, dem Organ Johann Jacobys, das Guido Weiß seit 1861 in Berlin herausgab, hatte dann aber das eigentümliche Schicksal, von Liebknecht in dem »Demokratischen Wochenblatt« nur verkürzt wiedergegeben zu werden, wozu Engels unwirsch bemerkte: »Wilhelmchen ist jetzt so tief gesunken, daß er nicht einmal mehr sagen darf, Lassalle habe Dich, und zwar falsch, abgeschrieben. Damit sind der ganzen Biographie die Hoden abgeschnitten, und wozu er sie dann noch abdruckt, kann nur er wissen.« Bekanntlich waren die weggestrichenen Sätze genau die Ansicht Liebknechts selbst, nur wollte er nicht eine Anzahl Lassalleaner, die eben von Schweitzer abgefallen waren und gerade damals die Fraktion der Eisenacher gründen |390| halfen, vor den Kopf stoßen. So haben nicht nur Bücher, sondern auch Aufsätze ihre Schicksale.

Jedoch wenn auch nicht gleich in den ersten Monaten, so erhielt Marx doch bald nachher einige gute Kritiken seines Buches. So von Engels im »Demokratischen Wochenblatt«, dann von Schweitzer im »Social-Demokraten« und von Josef Dietzgen wieder im »Demokratischen Wochenblatt». Ganz abgesehen von Engels, bei dem es sich von selbst verstand, so erkannte Marx auch von Schweitzer an, daß er trotz einzelner Irrtümer die Sache geochst habe und wisse, wo die Schwerpunkte lägen, und in Dietzgen, von dem er nach dem Erscheinen seines Buches zum ersten Male hörte, begrüßte er einen philosophisch begabten Kopf, ohne ihn sonst zu überschätzen.

Auch der erste »Fachmann« ließ sich noch im Jahre 1867 hören. Es war Dühring, der in Meyers Ergänzungsblättern das Buch besprach, ohne, wie Marx meinte, die neuen Grundelemente seiner Darstellung herauszufühlen, aber doch so, daß Marx nicht unzufrieden mit dieser Kritik war. Er nannte sie sogar »sehr anständig«, wenngleich er vermutete, Dühring habe weniger aus Interesse und Verständnis für die Sache, als aus Haß gegen Roscher und sonstige Universitätsgrößen geschrieben. Ungünstiger urteilte Engels von vornherein über Dührings Aufsatz, und daß er den schärferen Blick hatte, zeigte sich sehr bald, als Dühring umschlug und das Buch nicht genug herunterreißen konnte.

Mit anderen »Fachleuten« hat Marx ebenfalls die trübstem Erfahrungen gemacht; noch acht Jahre später hat einer dieser Biedermänner, der vorsichtigerweise seinen Namen verschwieg, den erbaulichen Orakelspruch von sich gegeben, Marx habe als »Autodidakt« ein volles Menschenalter der Wissenschaft verschlafen. Nach solchen und ähnlichen Leistungen war die Bitterkeit, womit Marx von diesen Leuten zu sprechen pflegte, vollauf berechtigt. Nun schrieb er vielleicht zuviel aufs Konto ihres bösen Willens, und zuwenig aufs Konto ihrer Unwissenheit. Seine dialektische Methode war ihnen in der Tat unverständlich. Dies zeigte sich namentlich darin, daß auch Männer, denen es weder an gutem Willen noch an ökonomischen Kenntnissen fehlte, sich in dem Buche nur schwer zurechtfanden, während umgekehrt Männer, die auf ökonomischem Gebiete in keiner Weise beschlagen waren und dem Kommunismus mehr oder weniger feindlich gegenüberstanden, aber einmal in der Hegelschen Dialektik um sich gewußt hatten, mit großer Begeisterung davon sprachen. So urteilte Marx unbillig hart über die zweite Auflage von F. A. Langes Schrift über die Arbeiterfrage, worin der Verfasser sich eingehend mit dem ersten Bande des »Kapitals« befaßte: »Herr Lange macht mir |391| große Elogen, aber zu dem Behuf, sich selbst wichtig zu machen.« Das war sicherlich nicht der Zweck Langes, dessen aufrichtiges Interesse an der Arbeiterfrage über jeden Zweifel erhaben gewesen ist. Aber darin hatte Marx sicherlich recht, zu sagen, daß Lange erstens nichts von Hegels Methode verstände und zweitens noch viel weniger von der kritischen Weise, worin Marx sie angewandt habe. In der Tat stellte Lange die Dinge auf den Kopf, wenn er meinte, Lassalle stehe in bezug auf die spekulative Grundlage gegenüber Hegel freier und unabhängiger da als Marx, bei dem sich die spekulative Form eng an die Manier des philosophischen Vorbildes anschließe und sich in manchen Teilen des Werkes - so in der Werttheorie, der Lange keine bleibende Bedeutung beilegen wollte - mühsam in den Stoff eindränge.

Viel seltsamer noch lautete das Urteil Freiligraths über den ersten Band, den ihm Marx geschenkt hatte. Der freundschaftliche Verkehr beider Männer hatte seit dem Jahre 1859 fortgedauert, wenn auch gelegentlich getrübt durch die Schuld dritter Personen. Freiligrath war im Begriff, nach Deutschland zurückzukehren, wo ihm die bekannte Sammlung einen sorgenfreien Lebensabend gesichert hatte, nachdem der nahezu sechzigjährige Mann durch die Auflösung der von ihm geleiteten Bankfiliale brotlos geworden war. Der letzte Brief, den er an den alten Freund richtete -, später haben sie sich nicht mehr geschrieben -, war ein herzlicher Glückwunsch, zu der Hochzeit der jungen Lafargues und ein nicht minder herzlicher Dank für den ersten Band des »Kapitals«. Freiligrath bekannte, aus dem Studium des Buches die mannigfachste Belehrung, den reichsten Genuß geschöpft zu haben. Der Erfolg werde vielleicht kein überschneller und überlauter, aber die Wirkung im stillen werde darum um so tiefer und nachhaltiger sein. »Ich weiß, daß am Rhein viele Kaufleute und Fabrikbesitzer sich für das Buch begeistern. In diesen Kreisen wird es seinen eigentlichen Zweck erfüllen - für den Gelehrten wird es nebenbei als Quellenwerk unentbehrlich sein.« Nun nannte Freiligrath sich selbst nur einen »Nationalökonomen mit dem Gemüte«, und das »Hegeln und Hecheln« war ihm all sein Lebtag zuwider gewesen, allein er hatte doch fast zwei Jahrzehnte mitten im Weltverkehr Londons gestanden, und so blieb es eine erstaunliche Leistung, wenn er im ersten Bande des »Kapitals« nur eine Art Leitfaden für junge Kaufleute und höchstens nebenbei ein wissenschaftliches Quellenwerk sah.

Ganz anders lautete das Urteil Ruges, der dem Kommunismus spinnefeind und mit irgendwelchen ökonomischen Kenntnissen nicht beschwert war, aber einmal als Junghegelianer seinen Mann gestanden hatte. »Es |392| ist ein epochemachendes Werk und schüttet glänzendes, oft stechendem Licht aus über die Entwicklung, über die Untergänge und die Geburtswehen und die furchtbaren Schmerzenstage der Gesellschaftsperioden. Der Nachweis über den Mehrwert durch unbezahlte Arbeit, über die Expropriierung der Arbeiter, die für sich arbeiteten, und die bevorstehende Expropriierung der Expropriateure sind klassisch. Marx besitzt eine ausgebreitete Gelehrsamkeit und ein prächtiges dialektisches Talent. Das Buch geht über den Horizont vieler Menschen und Zeitungsschreiber, aber es wird ganz gewiß durchdringen und trotz der breiter Anlage, ja gerade durch sie, eine mächtige Wirkung ausüben.« Ähnlich Ludwig Feuerbach, nur daß es ihm, entsprechend seiner eigenen Entwicklung, weniger auf die Dialektik des Verfassers ankam, als auf die »an unbestreitbaren Tatsachen interessantester, aber auch schauerlichster Art reiche Schrift«, die ihm seine Moralphilosophie beweisen sollte: wo das zum Leben Notwendige fehle, da fehle auch die sittliche Notwendigkeit.

Eine Übersetzung des ersten Bandes erschien zuerst in Rußland. Bereits am 12. Oktober 1868 meldete Marx an Kugelmann, ein Petersburger Buchhändler habe ihn mit der Nachricht überrascht, die Übersetzung sei bereits im Druck, und er möchte sein Photogramm als Titelvignette einsenden. Marx wollte seinen »guten Freunden«, den Russen, diese Kleinigkeit nicht abschlagen; es sei eine Ironie des Schicksals, daß die Russen, die er seit 25 Jahren unausgesetzt nicht nur deutsch, sondern auch französisch und englisch bekämpft habe, immer seine »Gönner« gewesen seien; auch seine Schrift gegen Proudhon und seine »Kritik der politischen Ökonomie« hätten nirgends größern Absatz gefunden als in Rußland. Jedoch wollte er das nicht hoch anschlagen; es sei reine Gourmandise, die nach dem Extremsten hasche, was der Westen liefere.

So lag die Sache nun aber doch nicht. Die Übersetzung kam zwar erst im Jahre 1872 heraus, aber sie war ein ernsthaftes, wissenschaftlichem Unternehmen, das »meisterhaft« gelang, wie Marx selbst nach ihrer Vollendung anerkannte. Übersetzer war Danielson, bekannter unter seinem Schriftstellernamen Nikolaj-on, und neben ihm für einige der wichtigsten Kapitel Lopatin, ein junger kühner Revolutionär, »ein sehr aufgeweckter, kritischer Kopf, heitrer Charakter, stoisch wie ein russischer Bauer, der mit allem vorlieb nimmt, was er findet« - so schilderte ihn Marx, als Lopatin ihn im Sommer 1870 besuchte. Die russische Zensur hatte ihre Erlaubnis zur Herausgabe der Übersetzung unter folgender Begründung erteilt: »Obgleich der Verfasser nach seinen Überzeugungen ein vollständiger Sozialist ist und das ganze Buch einen vollständig |393|* bestimmten sozialistischen Charakter führt; jedoch mit Rücksicht darauf, daß die Darstellung durchaus nicht für jeden zugänglich genannt werden kann, und daß sie von der andern Seite die Form streng mathematisch wissenschaftlicher Beweisführung besitzt, erklärt das Komitee die Verfolgung dieses Werkes vor Gericht für unmöglich.« In die Öffentlichkeit kam die Übersetzung am 27. März 1872, und am 25. Mai waren schon 1.000 Exemplare abgesetzt, ein Drittel der ganzen Auflage.

Zu gleicher Zeit begann eine französische Übersetzung zu erscheinen, und zwar ebenso wie zur selben Zeit die zweite Auflage des deutschen Originalwerks, in Lieferungen. Sie war von J. Roy verfaßt, unter wesentlicher Beihilfe von Marx selbst, der damit eine »Teufelsarbeit« hatte, so daß er manchmal klagte, daß sie ihm mehr zu schaffen mache, als wenn er sie allein unternommen hätte. Dafür durfte er ihr einen besondern wissenschaftlichen Wert auch neben dem Original zuschreiben.

Einen geringeren Erfolg als in Deutschland, Rußland und Frankreich hatte der erste Band des »Kapitals« in England. Er scheint nur eine kurze Besprechung in der »Saturday Review« gefunden zu haben, die der Darstellung nachrühmte, daß sie den trockensten ökonomischen Fragen einen eigenen Reiz verleihe. Ein größerer Aufsatz, den Engels für die »Fortnightly Review« schrieb, wurde von der Redaktion als »zu trocken« abgelehnt, obgleich Beesly, der nahe Beziehungen zu dieser Zeitschrift hatte, sich für die Aufnahme bemühte. Eine englische Übersetzung, von der sich Marx so viel versprach, hat er nicht mehr erlebt.


[1] Karl Marx: Das Kapital. Band I, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, S. 85. <=

[2] Karl Marx: Das Kapital. Band I, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 23, S. 514. <=

[3] Karl Marx: Das Kapital. Band II, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 24, S. 409/410. <=

[4] Karl Marx: Das Kapital. Band III, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, S. 168. <=

[5] Friedrich Engels: Rezensionen des ersten Bandes »Das Kapitals«, 1867, 1868. <=

[6] Friedrich Engels: Karl Marx, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 361-366. <=


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