MLWerke | 12. Kapitel | Inhalt | 14. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 394-442.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Dreizehntes Kapitel: Die Internationale auf der Höhe


1. England, Frankreich, Belgien

|394| Kurz ehe der erste Band des »Kapitals« erschien, hatte der zweite Kongreß der Internationalen vom 2. bis 8. September 1867 in Lausanne getagt. Er stand nicht auf der Höhe des Genfer Kongresses.

Schon der Aufruf, den der Generalrat im Juli erließ, um zu einer zahlreichen Beschickung des Kongresses aufzufordern, fiel bei seinem Überblick über das dritte Jahr des Bundes durch eine größere Trockenheit auf. Nur aus der Schweiz wurde ein ständiger Fortschritt der Bewegung berichtet, und daneben aus Belgien, wo eine Niedermetzelung streikender Arbeiter in Marchienne das Proletariat aufgepeitscht hatte.

Sonst wurde über die Hemmnisse geklagt, die der Propaganda in den verschiedenen Ländern durch verschiedene Umstände bereitet worden waren. Deutschland, das vor 1848 so tiefes Interesse an dem Studium der sozialen Frage genommen habe, sei durch seine Einheitsbewegung beansprucht. In Frankreich habe bei der geringen Freiheit, die die Arbeiterklasse genieße, die Ausdehnung des Bundes nicht so zugenommen, wie zu erwarten gewesen sei nach der tatkräftigen Unterstützung, die die französischen Arbeitseinstellungen durch die Internationale erfahren hätten. Es war damit auf die große Aussperrung der Pariser Bronzearbeiter im Frühjahr 1867 angespielt, die sich zu einem grundsätzlichen Kampf um die Koalitionsfreiheit ausgewachsen und mit einem Siege der Arbeiter geendet hatte.

Auch England erfuhr einen leisen Tadel durch die Bemerkung, daß es mit der Wahlreform beschäftigt, die ökonomische Bewegung einen Augenblick aus dem Auge verloren habe. Nun aber war die Wahlreform erledigt. Disraeli hatte sie unter dem Druck der Massen in noch etwas umfassenderer Form bewilligen müssen, als Gladstone sie ursprünglich geplant hatte, nämlich für alle Mieter eines städtischen Hauses, welches immer die Miete sein mochte. So hoffte der Generalrat, die Stunde sei gekommen, wo die englischen Arbeiter die Nützlichkeit der Internationalen begrüßen würden.

|395| Endlich wies der Generalrat auf die Union hin, wo die Arbeiter in mehreren Staaten den Achtstundentag durchgesetzt hätten. Es wurde dann noch hervorgehoben, daß jede Sektion, ob groß oder klein, einen Delegierten schicken dürfe, Sektionen von mehr als 500 Mitgliedern je einen Delegierten für jedes weitere 500, und auf das Programm des Kongresses wurde gesetzt: 1. Durch welche praktischen Mittel kann die Internationale der Arbeiterklasse einen gemeinsamen Mittelpunkt für ihren Befreiungskampf schaffen, und 2. Wie kann die Arbeiterklasse den Kredit, den sie der Bourgeoisie und der Regierung verleiht, zu ihrer Emanzipation benutzen?

Ging dies Programm schon einigermaßen ins Allgemeine, so fehlte auch die Denkschrift, die es im einzelnen begründet hätte. Als Vertreter des Generalrats erschienen in Lausanne namentlich Eccarius und der Musikinstrumentenmacher Dupont, der korrespondierende Sekretär für Frankreich, ein sehr fähiger Arbeiter, der bei der Abwesenheit Jungs den Vorsitz führte. Anwesend waren 71 Delegierte, unter den Deutschen Kugelmann, F. A. Lange, Louis Büchner, der Kraft- und Stoff-Mann, und Ladendorf, ein braver bürgerlicher Demokrat, aber ein heftiger Gegner des Kommunismus. Weitaus überwog das romanische Element, neben wenigen Belgiern und Italienern Franzosen und französische Schweizer.

Die Proudhonisten hatten sich diesmal gründlicher und schneller gerüstet als der Generalrat; schon ein Vierteljahr vor diesem hatten sie ein Programm aufgestellt, wonach Gegenseitigkeit als Grundlage des sozialen Verkehrs, Wertausgleichung der Dienstleistung, Kredit und Volksbanken, gegenseitige Versicherungsanstalten, die Stellung des Mannes und der Frau gegenüber der Gesellschaft, kollektive und individuelle Interessen, der Staat als Wächter und Schützer des Rechts, das Recht zu strafen und noch ein Dutzend ähnlicher Fragen verhandelt werden sollten. Es ergab sich daraus ein wirres Durcheinander, auf das hier um so weniger eingegangen zu werden braucht, als Marx mit alledem nichts zu tun hatte und die zum Teil sich widersprechenden Beschlüsse nur ein rein papiernes Dasein geführt haben.

Mehr Glück als mit der Theorie hatte der Kongreß mit der Praxis. Er bestätigte den Generalrat mit dem Sitze in London, setzte den Jahresbeitrag jedes Mitgliedes auf 10 Centimes oder 1 Groschen fest und machte von der pünktlichen Zahlung dieser Beiträge das Recht zur Beschickung der Jahreskongresse abhängig. Ferner beschloß der Kongreß, daß die soziale Emanzipation der Arbeiter unzertrennlich von ihrer politischen Aktion, und die Erkämpfung politischer Freiheit die erste |396| und absolute Notwendigkeit sei. Er legte sogar so hohen Wert auf diese Erklärung, daß er beschloß, sie jedes Jahr von neuem zu wiederholen. Und schließlich fand er auch den richtigen Standpunkt gegenüber der bürgerlichen Friedens- und Freiheitsliga, die sich neuerdings aus dem Schoße der radikalen Bourgeoisie aufgetan hatte und gleich nach ihm ihren ersten Kongreß in Genf abhielt. Allen Anbiederungsversuchen setzte er das einfache Programm entgegen: Wir werden euch gern unterstützen, soweit unseren eigenen Zwecken damit gedient ist.

Seltsamer- oder auch nicht seltsamerweise erregte dieser weniger gelungene Kongreß in der bürgerlichen Welt viel größeres Aufsehen als sein Vorgänger, der freilich unter den noch mächtig nachschwingenden Wirkungen des Deutschen Krieges getagt hatte. Namentlich die englische Presse, an die Spitze die »Times«, für die Eccarius berichtete, bekundete lebhaftes Interesse für den Lausanner Kongreß, nachdem sie den vorigen noch gar nicht beachtet hatte. Es fehlte natürlich nicht an bürgerlichem Spotte, doch begann die Internationale sehr ernsthaft genommen zu werden. »Wurde der Kongreß«, so schrieb Frau Marx an den »Vorboten«, »mit seinem Stiefbruder, dem Friedenskongreß, verglichen, so fiel der Vergleich stets zugunsten des älteren Bruders aus, und man sah in dem einen eine drohende Schicksalstragödie, und in dem anderen nichts als Farce und Burleske.« Damit tröstete sich auch Marx, den die Debatten in Lausanne unmöglich erbauen konnten. »Les choses marchent... [Mehring übersetzt: Die Dinge marschieren]. Dabei ohne Geldmittel! Mit den Intrigen der Proudhonisten zu Paris, Mazzinis in Italien und eifersüchtigen Odger, Cremer, Potter zu London, mit den Schulze-Del[itzsch] und den Lassallianern in Deutschland! Wir können sehr zufrieden sein!« Engels aber meinte, daß es im ganzen ja doch bloß für die Katze sei, was in Lausanne beschlossen werde, wenn der Generalrat in London bleibe. Und in der Tat kam es hierauf an, denn mit dem dritten Lebensjahre der Internationalen schloß die Periode ihrer ruhigen Entwicklung ab, und eine Zeit heißer Kämpfe brach an.

Schon wenige Tage, nachdem der Kongreß in Lausanne geschlossen worden war, ergab sich ein Zusammenstoß von weittragenden Folgen. Am 18. September 1867 wurde in Manchester ein Polizeiwagen, der zwei verhaftete Fenier transportierte, am hellen Tage von bewaffneten Feniern angefallen, die den Wagen mit Gewalt erbrachen und die beiden Gefangenen befreiten, nachdem sie den begleitenden Polizeibeamten erschossen hatten. Die eigentlichen Täter wurden nicht entdeckt, doch aus den massenhaft verhafteten Feniern eine Anzahl ausgewählt, wegen Mordes angeklagt und drei davon, obgleich in einem höchst parteiischen |397| Gerichtsverfahren kein schlüssiger Beweis gegen sie geführt werden konnte, durch den Strang hingerichtet. Die Sache machte in ganz England großes Aufsehen, das sich zu einer »fenischen Panik« auswuchs, als im Dezember eine von fenischer Seite veranstaltete Pulverexplosion vor den Mauern des Gefängnisses von Clerkenwell, einem Stadtviertel Londons, das fast ausschließlich von Kleinbürgern und Proletariern bewohnt wurde, zwölf Menschen tötete und mehr als hundert verwundete. Mit der fenischen Verschwörung hatte die Internationale an und für sich nichts zu tun, und die Explosion in Clerkenwell verurteilten Marx und Engels als eine große Torheit, die den Feniern selbst am meisten schade, indem sie die Sympathie der englischen Arbeiter für die irische Sache abkühle oder ganz ersticke. Aber die Art wie die englische Regierung die Fenier, die gegen eine schamlose, seit Jahrhunderten betriebene Unterdrückung ihrer irischen Heimat rebellierten, als gemeine Verbrecher verfolgte, mußte jedes revolutionäre Empfinden aufstürmen. Schon im Juni 1867 hatte Marx an Engels geschrieben: »Diese Saukerls rühmen es als englische Humanität, daß politische Gefangene nicht schlechter als Mörder, Straßenräuber, Fälscher und Päderasten behandelt werden.« Bei Engels kam hinzu, daß Lizzy Burns, auf die er seine Liebe für ihre verstorbene Schwester Mary übertragen hatte, eine feurige irische Patriotin war.

Jedoch das lebhafte Interesse, das Marx für die irische Frage betätigte, hatte noch tiefere Zusammenhänge als die Sympathie für ein unterdrücktes Volk. Seine Studien hatten ihn zu der Überzeugung geführt, daß die Emanzipation der englischen Arbeiterklasse, von der wieder die Emanzipation des europäischen Proletariats abhing, die Befreiung der Irländer zur notwendigen Voraussetzung habe. Der Sturz der englischen Bodenoligarchie sei unmöglich, solange sie in Irland ihren stark verschanzten Vorposten behaupte. Sobald die Sache in die Hände des irischen Volkes gelegt, sobald es zu seinem eigenen Gesetzgeber und Regierer gemacht sei, sobald es autonom werde, sei die Vernichtung der Landaristokratie, die zum großen Teil aus den englischen Landlords bestände, unendlich viel leichter als in England, weil sie in Irland nicht nur eine einfache ökonomische Frage, sondern eine nationale Angelegenheit sei, weil die Landlords in Irland nicht wie in England, die traditionellen Würdenträger, sondern die tödlich gehaßten Unterdrücker der Nationalität seien. Verschwände die englische Armee und Polizei aus Irland, so sei die agrarische Revolution da.

Was die englische Bourgeoisie angehe, so habe sie mit der englischen Aristokratie das Interesse gemein, Irland in ein bloßes Weideland zu |398| verwandeln, das für den englischen Markt Fleisch und Wolle zu möglichst billigen Preisen liefere. Aber sie habe noch viel wichtigere Interessen an der jetzigen irischen Wirtschaft. Irland liefere durch die beständig zunehmende Konzentration der Pachten beständige Überschußbevölkerung für den englischen Arbeitsmarkt und drücke dadurch die Löhne sowie die materielle und moralische Position der englischen Arbeiterklasse herab. Die Arbeiterschaft aller industriellen und kommerziellen Zentren in England spalte sich in die feindlichen Lager der englischen und der irischen Proletarier. Der gewöhnliche englische Arbeiter hasse den irischen Arbeiter als einen Konkurrenten, fühle sich ihm gegenüber als Glied der herrschenden Nation, mache sich eben deswegen zum Werkzeug der Aristokraten und Kapitalisten gegen Irland und befestige damit deren Herrschaft über sich selbst. Der englische Proletarier hege religiöse, soziale und nationale Vorurteile gegen den irischen; er verhalte sich zu diesem ungefähr wie in den ehemaligen Sklavenstaaten der Union der weiße Arbeiter zu dem Nigger. Der Irländer zahle ihm mit Zinsen in der eigenen Münze. Er sehe in dem englischen Arbeiter zugleich den Mitschuldigen und das stupide Werkzeug der englischen Herrschaft über Irland. In diesem Antagonismus, der künstlich wach gehalten werde durch die Presse, die Kanzel, die Witzblätter, kurz alle den herrschenden Klassen zur Verfügung stehenden Mittel, wurzele die Ohnmacht der englischen Arbeiterklasse, trotz ihrer Organisation.

Und dies Übel wälze sich über den Ozean fort. Der Antagonismus zwischen Engländern und Irländern hindere jede aufrichtige und ernsthafte Kooperation zwischen dem englischen und dem amerikanischen Proletariat. Wenn die soziale Revolution in England als der Metropole des Kapitals zu beschleunigen die wichtigste Aufgabe der Internationalen sei, so sei das einzige Mittel ihrer Beschleunigung, Irland unabhängig zu machen. Die Internationale müsse überall offene Partei für Irland nehmen, und es sei die besondere Aufgabe des Generalrats, in der englischen Arbeiterklasse das Bewußtsein wachzurufen, daß die nationale Emanzipation Irlands für sie keine Frage abstrakter Gerechtigkeit und menschlicher Gefühle sei, sondern die erste Bedingung ihrer eigenen sozialen Emanzipation.

Dieser Aufgabe ist Marx in den nächsten Jahren mit aller Kraft gerecht geworden; wie er in der polnischen Frage, die seit dem Genfer Kongreß von der Tagesordnung der Internationalen geschwunden war, den Hebel zum Sturz der russischen, so sah er in der irischen Frage den Hebel zum Sturz der englischen Weltherrschaft. Er ließ sich auch dadurch |399|* nicht anfechten, daß die »Intriganten« unter den Arbeitern, die ins nächste Parlament kommen wollten - er zählte selbst Odger, den bisherigen Präsidenten des Generalrats, dazu -, dadurch einen Vorwand erhielten, sich den bürgerlichen Liberalen anzuschließen. Denn Gladstone beutete die irische Frage, nun da sie brennend geworden war, zu einer Wahlparole aus, um wieder ans Ruder zu kommen. Der Generalrat richtete eine - natürlich erfolglose - Petition an die englische Regierung, worin gegen die Hinrichtung der drei in Manchester verurteilten Fenier als gegen einen Justizmord protestiert wurde, und veranstaltete in London öffentliche Meetings, um die Rechte Irlands zu verteidigen.

Erregte er dadurch das Mißbehagen der englischen Regierung, so reizte er zugleich die französische Regierung zu einem Schlage gegen die Internationale. Bonaparte hatte drei Jahre lang der Entwicklung des Bundes ruhig zugesehen, um die aufsässige Bourgeoisie zu ängstigen; als die französischen Mitglieder sich ein Büro in Paris einrichteten, hatten sie den Pariser Polizeipräfekten und den Minister des Innern davon benachrichtigt, ohne von dem einen oder dem anderen eine Antwort zu erhalten. An kleinen Durchstechereien und Mogeleien hatte es allerdings nicht gefehlt. Als die Akten des Genfer Kongresses, da man dem Schwarzen Kabinett der bonapartistischen Post nicht traute, durch einen geborenen Schweizer und naturalisierten Engländer an den Generalrat gebracht werden sollten, hatte sie ihm die Polizei an der französischen Grenze wegstibitzt, und die französische Regierung stellte sich gegen die Beschwerde des Generalrats taub. Doch das Auswärtige Amt in London öffnete seine Ohren, und sie mußte den Raub herausgeben. In anderer Weise blitzte der Vizekaiser Rouher ab, als er die Veröffentlichung eines Manifestes, das die französischen Mitglieder auf dem Genfer Kongresse verlesen hatten, in Frankreich nur gestatten wollte, wenn »einige Worte des Dankes an den Kaiser eingeflochten würden, der für die Arbeiter so sehr viel getan habe«. Das wurde abgelehnt, obgleich die französischen Mitglieder sich sonst sehr hüteten, das lauernde Untier zu reizen, und deshalb von den bürgerlichen Radikalen als verkappte Bonapartisten verdächtigt wurden.

Es mag dahingestellt bleiben, ob sie sich dadurch insoweit beirren ließen, an einigen zahmen Kundgebungen der radikalen Bourgeoisie gegen das Kaiserreich teilzunehmen, wie von französischen Schriftstellern behauptet wird. Die Gründe, die Bonaparte zum offenen Bruch mit der Arbeiterklasse veranlaßten, lagen jedenfalls tiefer. Die Streikbewegung, die die verheerende Krise von 1866 hervorgerufen hatte, nahm einen |400| Umfang an, der ihn beunruhigte; dann hatten die Pariser Arbeiter unter dem Einfluß der Internationalen mit den Berliner Arbeitern Friedensadressen ausgetauscht, als im Frühjahr 1867 wegen des Luxemburgischen Handels ein Krieg mit dem Norddeutschen Bunde drohte, und endlich erhob die französische Bourgeoisie ein so betäubendes Geschrei nach »Rache für Sadowa«, daß in den Tuilerien der verwünscht gescheite Gedanke auftauchte, ihr mit »liberalen« Zugeständnissen den Mund zu stopfen.

Unter diesen Umständen glaubte Bonaparte, mehr als eine Fliege mit einer Klappe zu treffen, indem er zu einem Schlage gegen das Pariser Büro der Internationalen ausholte, unter dem Vorgeben, in ihm einen Mittelpunkt der fenischen Verschwörung entdeckt zu haben. Aber obgleich er die Mitglieder des Büros bei Nacht und Nebel durch plötzliche Haussuchungen überfallen ließ, fand er nicht die leiseste Spur einer geheimen Verschwörung. Um den Schlag ins Wasser nicht zu einer allzu großen Blamage werden zu lassen, blieb nichts übrig, als das Pariser Büro gerichtlich zu belangen, weil es eine nicht autorisierte Gesellschaft von mehr als zwanzig Mitgliedern sei. Die Anklage wurde am 6. und 20. März gegen fünfzehn Mitglieder der Internationalen verhandelt, und das gerichtliche Urteil lautete auf 100 Franken Strafe für jeden der Angeklagten und Auflösung des Pariser Büros. Die höheren Instanzen bestätigten dies Urteil.

Aber ehe es soweit kam, war schon ein neues Verfahren im Gange. Ankläger wie Gerichtshof hatten die Angeklagten mit Sammethandschuhen angefaßt, und in deren Namen hatte Tolain sich und sie in sehr gemäßigtem Tone verteidigt. Jedoch schon zwei Tage nach dem ersten Verhandlungstermin, am 8. März, hatte sich ein neues Büro aufgetan, und dieser offenkundige Hohn begrub die letzten Einbildungen Bonapartes. Die neun Mitglieder des neuen Büros standen am 22. Mai vor Gericht und wurden nach einer ebenso glänzenden wie scharfen Rede Varlins zu je drei Monaten Gefängnis verurteilt. Damit war reiner Tisch zwischen dem Kaiserreich und der Internationalen geschaffen, deren französischer Zweig aus diesem endgültigen und offenkundigen Bruch mit dem Dezemberschlächter neue Lebenskraft sog.

Auch mit der belgischen Regierung geriet die Internationale in einen heftigen Zusammenstoß. Die Grubenbesitzer im Kohlenbecken von Charleroi trieben ihre elend gelohnten Arbeiter durch unausgesetzte Plackereien zur Empörung, um hinterher die bewaffnete Macht auf die unbewaffnete Menge loszulassen. Inmitten des panischen Schreckens nahm sich der belgische Zweig der Internationalen der mißhandelten Proletarier |401|* an, enthüllte in der Presse und auf öffentlichen Versammlungen ihre jämmerliche Lage, unterstützte die Familien der Gefallenen und Verwundeten und sicherte den Gefangenen gerichtlichen Beistand, worauf sie von den Geschworenen freigesprochen wurden.

Dafür rächte sich der Justizminister de Bara, indem er vor der belgischen Kammer in wüste Schmähungen gegen die Internationale ausbrach und ihr mit Gewaltmaßregeln drohte, so namentlich mit dem Verbote ihres nächsten Kongresses, der in Brüssel stattfinden sollte. Aber die Angegriffenen ließen sich nicht verblüffen; sie antworteten in einem Schreiben, worin sie sagten, sie ließen sich von einem Manne sowenig befehlen wie von einem Fasse Wacholderschnaps, und der Kongreß werde in Brüssel stattfinden, möge es dem Justizminister gefallen oder nicht.

2. Die Schweiz und Deutschland

Der wirksamste Hebel des großen Aufschwungs, den die Internationale in diesen Jahren nahm, war die allgemeine Streikbewegung, die in allen mehr oder weniger kapitalistisch entwickelten Ländern durch den Krach von 1866 hervorgerufen wurde.

Der Generalrat beförderte sie nie und nirgends, aber wo sie von selbst ausbrach, half er mit Rat und Tat den Sieg der Arbeiter sichern, indem er die internationale Solidarität des Proletariats mobilmachte. Er schlug den Kapitalisten die bequeme Waffe aus der Hand, streikende Arbeiter durch den Zuzug ausländischer Arbeitskräfte lahmzulegen; aus den unbewußten Hilfstruppen des gemeinsamen Feindes warb er vielmehr opferfreudige Bundesgenossen; er verstand, den Arbeitern jedes Landes, wohin sein Einfluß reichte, klarzumachen, daß es ihr eigenes Interesse sei, die Lohnkämpfe ihrer ausländischen Klassengenossen zu unterstützen.

Diese Tätigkeit der Internationalen erwies sich als überaus nachhaltig und erwarb ihr ein europäisches Ansehen, das selbst weit über die wirkliche Macht hinausreichte, die sie schon erworben hatte. Denn da die bürgerliche Welt nicht begreifen wollte oder auch wirklich nicht begriff, daß die um sich greifenden Streiks in dem Elend der Arbeiterklasse wurzelten, so suchte sie ihre Ursache in den geheimen Umtrieben der Internationalen. Diese wurde ihr so zu einem dämonischen Ungeheuer, das sie bei jedem Streik niederzuringen suchte. Jeder große Streik begann sich zu einem Kampf um die Existenz der Internationalen zu entwickeln |402|*, und aus jedem dieser Kämpfe ging sie mit neugestählter Kraft hervor.

Typische Erscheinungen dieser Art waren der Bauarbeiterstreik, der im Frühjahr 1868 in Genf sowie der Bandwirker- und Seidenfärberstreik, der im Herbste desselben Jahres in Basel ausbrach und sich bis ins nächste Frühjahr hinzog. In Genf begannen immerhin die Bauarbeiter den Kampf, indem sie eine Erhöhung des Arbeitslohns und eine Verkürzung der Arbeitszeit forderten, aber die Meister machten zur Bedingung eines Ausgleichs den Austritt der Arbeiter aus der Internationalen. Diese Anmaßung wiesen die streikenden Arbeiter sofort zurück, und dank der Hilfe, die ihnen der Generalrat aus England, Frankreich und anderen Ländern zu sichern wußte, setzten sie trotzdem ihre ursprünglichen Forderungen durch. Ungleich frivoler noch trieb es der Kapitalistendünkel in Basel, wo den Bandwirkern einer Fabrik ohne jeden Anlaß ein paar Feierstunden, die sie am letzten Tage der Spätjahrmesse nach altem Herkommen zu beanspruchen hatten, unter der Drohung versagt wurden: Wer nicht gehorcht, fliegt hinaus! Ein Teil der Arbeiter gehorchte nicht und wurde am nächsten Tage, trotz der vierzehntägigen Kündigungsfrist, durch Polizisten von der Tür der Fabrik zurückgewiesen. Diese brutale Herausforderung peitschte die Arbeiterschaft Basels auf, und es kam zu monatelangen Kämpfen, die zuletzt in dem Versuche des Großen Rats gipfelten, die Arbeiter durch militärische Maßregeln und eine Art Belagerungszustandes einzuschüchtern.

Als der Zweck der elenden Hetze enthüllte sich auch in Basel sehr bald die Vernichtung der Internationalen. Die Kapitalisten verschmähten für diesen Zweck weder grausame Mittel, indem sie den arbeitslos gewordenen Arbeitern die Wohnungen kündigten und ihnen den Kredit bei Bäckern, Fleischern und Krämern sperrten noch auch possierliche Sprünge wie die Entsendung eines Emissärs nach London, der die Geldmittel de, Generalrats ausforschen sollte. »Hätten diese guten orthodoxen Christen in den ersten Zeiten des Christentums gelebt, sie hätten vor allem dem Bankkredit des Apostels Paulus in Rom nachgespäht.« So scherzte Marx, anknüpfend an ein Wort der »Times«, die die Sektionen de Internationalen mit den ersten Christengemeinden verglichen hatte. Aber die Baseler Arbeiter hielten unbeirrt an der Internationalen fest und feierten ihren Sieg durch einen großen Zug auf den Markt, als die Kapitalisten endlich nachgegeben hatten. Auch sie erhielten reichliche Unterstützung aus anderen Ländern. Die Wellen, die diese Streiks aufregten, brandeten bis in die Vereinigten Staaten, wo die Internationale |403| nun auch festen Fuß zu fassen begann; F. A. Sorge, ein Flüchtling von 1848 her und nunmehriger Musiklehrer, gewann in New York eine ähnliche Stellung wie Becker in Genf.

Vor allem bahnte die Streikbewegung der Internationalen den Weg nun aber auch nach Deutschland, wo sich bisher nur vereinzelte Sektionen gebildet hatten. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein hatte sich nach schweren Kämpfen und Wirren zu einer stattlichen Körperschaft herausgewachsen und fuhr fort, sich in der erfreulichsten Weise zu entwickeln, zumal nachdem seine Mitglieder sich entschlossen hatten, Schweitzer zu ihrem anerkannten Führer zu wählen. Schweitzer saß auch als Vertreter für Elberfeld-Barmen im Norddeutschen Reichstage, in den sein alter Gegner Liebknecht durch den sächsischen Wahlkreis Stollberg-Schneeberg entsandt worden war. Beide waren hier alsbald heftig zusammengestoßen wegen ihrer entgegengesetzten Stellung zur nationalen Frage; während Schweitzer sich, im Sinne von Marx und Engels, auf den Boden stellte, den die Schlacht bei Königgrätz geschaffen hatte, bekämpfte Liebknecht den Norddeutschen Bund als ein Werk recht- und ruchloser Gewalt, das vor allem zertrümmert werden müsse, selbst mit augenblicklicher Hintansetzung sozialer Ziele.

Liebknecht hatte im Herbst 1866 die Sächsische Volkspartei gründen helfen, mit einem radikal-demokratischen, aber noch nicht sozialistischen Programm, als deren Organ er seit dem Anfange des Jahres 1868 das »Demokratische Wochenblatt« in Leipzig herausgab. Sie rekrutierte sich überwiegend aus der sächsischen Arbeiterklasse und unterschied sich dadurch vorteilhaft von der Deutschen Volkspartei, in der sich, neben einer Handvoll ehrlicher Ideologen vom Schlage Johann Jacobys, Frankfurter Börsendemokraten, schwäbische Kantönlirepublikaner und sittlich empörte Bekämpfer des frevelhaften Rechtsbruchs befanden, den Bismarck durch die Verjagung einiger Mittel- und Kleinfürsten begangen hatte. In viel erfreulicherer Nachbarschaft befand sich die Sächsische Volkspartei mit dem Verbande der deutschen Arbeitervereine, der bei Lassalles erstem Auftreten und als Gegengewicht gegen dessen Agitation von der fortschrittlichen Bourgeoisie gegründet worden war, aber sich gerade im Kampfe mit den Lassalleanern nach links entwickelt hatte: zumal seitdem August Bebel, in dem Liebknecht einen treuen Kampfgenossen gefunden hatte, zum Vorsitzenden des Verbandes gewählt worden war.

Gleich in seiner ersten Nummer wies das »Demokratische Wochenblatt« auf Schweitzer als einen Mann hin, dem sämtliche Vorkämpfer der sozialdemokratischen Sache den Rücken gekehrt hätten. Das waren |404| inzwischen etwas alte Kamellen geworden, denn durch die Absage, die Schweitzer drei Jahre früher von Marx und Engels erhalten hatte, war er keinen Augenblick irre geworden in seiner Absicht, die deutsche Arbeiterbewegung zwar im Geiste Lassalles zu leiten, aber ebendeshalb sie nicht durch sklavisches Kleben an Lassalles Worten zu einer Sekte verknöchern zu lassen. So hatte er auch den ersten Band des »Kapitals« den deutschen Arbeitern zu vermitteln gesucht, früher und gründlicher als Liebknecht selbst, und im April 1868 wandte er sich persönlich an Marx, um dessen Rat wegen einer Herabsetzung der Eisenzölle einzuholen, die damals von der preußischen Regierung geplant wurde.

Schon als korrespondierender Sekretär des Generalrats für Deutschland konnte sich Marx der Beantwortung einer Frage nicht entziehen, die der parlamentarische Arbeitervertreter eines industriereichen Wahlkreises an ihn gerichtet hatte. Aber Marx war auch sonst zu einer wesentlich anderen Ansicht über Schweitzers Tätigkeit gekommen. Obgleich er sie nur aus der Ferne beobachtete, erkannte er doch »unbedingt die Intelligenz und Energie« an, womit Schweitzer in der Arbeiterbewegung wirke, und in den Verhandlungen des Generalrats behandelte er ihn als einen Mann seiner Partei, ohne je ein Wort über Differenzpunkte fallenzulassen.

An solchen Differenzpunkten fehlte es auch jetzt nicht. Selbst ihr persönliches Mißtrauen gegen Schweitzer gaben Marx und Engels noch nicht auf; wenn sie ihn auch nicht mehr im Verdacht hatten, mit Bismarck zu mogeln, so argwöhnten sie doch, seine Annäherung an Marx habe den Zweck, Liebknecht auszustechen; sie kamen von der Vorstellung nicht los, daß der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein eine »Sekte« sei und Schweitzer vor allem »seine eigene Arbeiterbewegung« haben wolle. Immer aber erkannten sie an, daß Schweitzers Politik der Politik Liebknechts weit überlegen sei.

Marx meinte, Schweitzer sei unbedingt von allen damaligen Arbeiterführern in Deutschland der intelligenteste und energischste, und nur durch ihn sei Liebknecht gezwungen worden, sich zu erinnern, daß eine von der kleinbürgerlich-demokratischen Bewegung unabhängige Arbeiterbewegung existiere. Ganz ähnlich urteilte Engels, der »Kerl« sei in der Auffassung der allgemeinen politischen Lage und der Stellung zu den anderen Parteien viel klarer und in der Darstellung geschickter als alle die anderen. »Er nannte ›alle alten Parteien, uns gegenüber, eine einzige reaktionäre Masse, deren Unterschiede für uns kaum ins Gewicht fallen‹. Er erkennt zwar an, daß 1866 und seine Folgen das Zaunkönigtum ruinieren, das Legitimitätsprinzip untergraben, die Reaktion erschüttern |405|* und das Volk in Bewegung gesetzt haben, aber er zieht - jetzt - auch gegen die sonstigen Folgen, Steuerdruck usw., los und verhält sich gegen Bismarck viel ›korrekter‹, wie die Berliner sagen, als z.B. Liebknecht gegenüber den Exfürsten.« Über diese Taktik Liebknechts äußerte sich Engels bei anderer Gelegenheit, er hätte es satt, jede Woche die Lehre vorgekäut zu bekommen, daß »wir keine Revolution machen dürften, ehe nicht der Bundestag, der blinde Welfe und der biedere Kurfürst von Hessen restauriert und am gottlosen Bismarck grausame legitime Rache genommen« sei. Dabei lief ein gut Stück ärgerlicher Übertreibung mit unter, aber ein gut Stück Wahrheit war auch daran.

Marx hat später einmal gesagt, man habe bisher geglaubt, die christliche Mythenbildung unter dem römischen Kaiserreich sei nur möglich gewesen, weil die Druckerei noch nicht erfunden gewesen sei. Es sei aber gerade umgekehrt. Die Tagespresse und der Telegraph, der ihre Erfindungen im Nu über den ganzen Erdboden ausstreue, fabrizierten mehr Mythen (und das Bourgeoisrind glaube und verbreite sie) an einem Tage, als früher in einem Jahrhundert hätten fertiggebracht werden können. Ein besonders schlagender Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht ist die jahrzehntelang - und keineswegs nur von »Bourgeoisrindern« - geglaubte Mär, Schweitzer habe die Arbeiterbewegung an Bismarck verraten wollen, worauf Liebknecht und Bebel sie wieder ins richtige Schick gebracht hätten.

Es war gerade umgekehrt. Schweitzer vertrat den prinzipiell sozialistischen Standpunkt, während das »Demokratische Wochenblatt« mit den partikularistischen Anhängern der »Exfürsten« und der liberalen Korruptionswirtschaft in Wien in einer Weise liebäugelte, die vom sozialistischen Standpunkt aus sich nicht rechtfertigen ließ. Was Bebel in seinen »Denkwürdigkeiten« ausführt, daß nämlich der Sieg Österreichs über Preußen zu wünschen gewesen wäre, weil die Revolution mit einem innerlich schwachen Staate, wie Österreich, leichter fertig geworden sein würde als mit dem innerlich starken Preußen, ist eine nachträgliche Erklärung, von der, wie es sonst immer um sie stehen mag, in der gleichzeitigen Literatur nicht die geringste Spur zu entdecken ist.

Trotz seiner persönlichen Freundschaft für Liebknecht und seines persönlichen Mißtrauens gegen Schweitzer verkannte Marx den wirklichen Stand der Dinge nicht. Er beantwortete Schweitzers Anfrage wegen Herabsetzung der Eisenzölle, bei aller vorsichtigen Zurückhaltung in der Form, doch in sachlich erschöpfender Weise. Schweitzer führte dann die Absicht aus, die er schon vor drei Jahren gehabt hatte, und beantragte auf der Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins |406|*, die Ende August 1868 in Hamburg tagte, dessen Anschluß an die Internationale, der freilich aus Rücksicht auf die deutschen Vereinsgesetze nicht formell, sondern nur als Solidaritäts- und Sympathieerklärung erfolgen konnte. Zu dieser Generalversammlung war Marx als Ehrengast eingeladen worden, um ihm den Dank der deutschen Arbeiter für sein wissenschaftliches Werk abzustatten. Auf eine vorläufige Anfrage Schweitzers antwortete er entgegenkommend, ist dann aber doch nicht selbst nach Hamburg gekommen, so dringend ihn Schweitzer darum ersuchte.

In seinem Dankschreiben für die »ehrenvolle Einladung« gab er die Vorarbeiten des Generalrats für den Brüsseler Kongreß als Hindernisse seines Kommens an, stellte aber mit »Freude« fest, daß die Tagesordnung der Generalversammlung die Punkte enthielte, die in der Tat die Ausgangspunkte aller ernsten Arbeiterbewegungen bildeten: Agitation für volle politische Freiheit, Regelung des Arbeitstags und planmäßige, internationale Kooperation der Arbeiterklasse. Wenn Marx jedoch an Engels schrieb, mit diesem Briefe habe er die Lassalleaner dazu beglückwünscht, das Programm Lassalles aufgegeben zu haben, so ist wirklich nicht abzusehen, was Lassalle an jenen drei Punkten auszusetzen gehabt haben würde.

Einen wirklichen Bruch mit den Überlieferungen Lassalles vollzog dagegen Schweitzer selbst auf der Hamburger Generalversammlung, indem er gegen einen heftigen Widerstand, und zuletzt nur dadurch, daß er die Kabinettsfrage stellte, die Erlaubnis für sich und seinen Reichstagskollegen Fritzsche ertrotzte, für Ende September einen allgemeinen deutschen Arbeiterkongreß nach Berlin zu berufen, um eine gründliche, umfassende Organisation der Arbeiterschaft zum Zwecke der Streiks ins Leben zu rufen. Schweitzer war durch die europäische Streikbewegung belehrt worden; er überschätzte sie nicht, aber sah sehr wohl ein, daß eine Arbeiterpartei, die auf der Höhe ihrer Aufgabe bleiben wolle, die nun einmal mit elementarer Gewalt ausbrechenden Streiks nicht in ein regelloses Durcheinander verlaufen lassen dürfe. Er schreckte deshalb vor der Gründung gewerkschaftlicher Verbände nicht zurück, aber er verkannte ihre Lebensbedingungen, indem er sie ebenso stramm organisieren wollte, wie der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein organisiert war und gewissermaßen nur als dessen untergeordnete Hilfstruppe.

Marx hat ihn vergebens vor diesem schweren Fehler gewarnt. Aus dem schriftlichen Verkehr beider Männer haben sich von Schweitzer sämtliche Briefe, von Marx aber nur der eine und vermutlich wichtigste vom 13. Oktober 1868 erhalten. Der Form nach, in seinem loyalen |407| Entgegenkommen gegen Schweitzer, vollkommen tadellos, entwickelte er die gewichtigsten Bedenken gegen die von Schweitzer geplante Organisation der Gewerkschaften, schwächte aber den Eindruck dieser Kritik dadurch ab, daß er den von Lassalle gestifteten Verein als eine »Sekte« kennzeichnete, die sich entschließen müsse, in der Klassenbewegung aufzugehen. In seinem Antwortschreiben, dem letzten, das er an Marx gerichtet hat, konnte sich Schweitzer mit Recht darauf berufen, er sei stets bestrebt gewesen, mit der europäischen Arbeiterbewegung gleichen Schritt zu halten.

Wenige Tage nach der Hamburger Generalversammlung tagte der Verband der deutschen Arbeitervereine in Nürnberg. Auch er verstand die Zeichen der Zeit; seine Mehrheit nahm die Hauptsätze aus den »Statuten« der Internationalen als politisches Programm an und wählte das »Demokratische Wochenblatt« zum Organ des Verbandes, worauf die Minderheit auf Nimmerwiedersehen verschwand. Dann lehnte die Mehrheit einen Antrag auf Gründung von Altersversorgungskassen für Arbeiter unter staatlicher Aufsicht zugunsten eines Antrags auf Einrichtung von Gewerksgenossenschaften ab, die erfahrungsgemäß am besten für Alters-, Kranken- und Wanderunterstützungskassen zu sorgen wüßten. Diese Begründung war schwächlicher als die Berufung auf den Kampf zwischen Kapital und Arbeit, der in den Streiks aufloderte, und auch der Anschluß an die Internationale wurde in Hamburg durch das gemeinsame Interesse aller Arbeiterparteien begründet, während in Nürnberg die Sache nicht so schroff aufgefaßt wurde. Schon wenige Wochen später meldete das »Demokratische Wochenblatt« in fettem Druck den Anschluß an das Nürnberger Programm, den die Deutsche Volkspartei auf einer Konferenz in Stuttgart beschlossen hatte.

Immerhin hatte sich eine Annäherung zwischen dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein und dem Verbande der deutschen Arbeitervereine vollzogen, und Marx hat sich damals redlich bemüht, durch unparteiisches Vermitteln zwischen Liebknecht und Schweitzer die deutsche Arbeiterbewegung zu einigen. Gelungen ist es ihm jedoch nicht. Die Nürnberger Vereine weigerten sich unter einem haltlosen Vorwande, den Gewerkschaftskongreß zu beschicken, den Schweitzer und Fritzsche nach Berlin berufen hatten. Der Kongreß war zahlreich besucht und führte zur Gründung einer Reihe von »Arbeiterschaften«, die durch einen »Arbeiterschaftsverband« zusammengefaßt wurden, an dessen Spitze tatsächlich Schweitzer stand.

Die Nürnberger Vereine gingen ihrerseits auf Grund eines Statuts, das von Bebel entworfen worden war und den gewerkschaftlichen Lebensbedingungen |408|* viel gerechter wurde als das Statut Schweitzers, mit der Gründung von - wie sie allzu pomphaft getauft wurden - »Internationalen Gewerksgenossenschaften« vor, und nunmehr erboten sie sich zu Einigungs- und Verschmelzungsverhandlungen mit der andern Richtung, erhielten jedoch eine schroffe Absage. Sie hätten zuerst die Einigkeit gestört und könnten sich den Versuch sparen, durch das Angebot eines Vertragsverhältnisses die von ihnen gestörte Einigkeit wiederherzustellen; wäre es ihnen um die Sache zu tun, so könnten sie sich dem Arbeiterschaftsverbande anschließen und innerhalb dieses Rahmens für die ihnen gut scheinenden Änderungen wirken.

Konnte somit Marx die Zersplitterung der deutschen Arbeiterbewegung nicht hindern, so durfte er doch den Anschluß beider Richtungen an die Internationale feststellen, und so kam ihm der Gedanke, nunmehr, wo die Gesellschaft vorläufig, wenn auch überall noch dünn, wenigstens ihr Hauptterrain umschreibe, den Generalrat für das nächste Jahr nach Genf zu verlegen. Dabei wirkte auch der Ärger über die französische Sektion in London mit, die, gering an Zahl, um so größeren Lärm machte und durch den Beifall, den sie dem albernen, den Mord Bonapartes predigenden Komödianten Pyat spendete, der Internationalen manche Ungelegenheiten bereitete. Sie spektakelte nicht zuletzt über die »Diktatur« des Generalrats, weil er ihrem Unfug nach Kräften steuerte, und bereitete eine Anklage gegen ihn für den Brüsseler Kongreß vor.

Glücklicherweise riet Engels dringend von dem gewagten Schritt ab. Um der paar Esel willen dürfe die Sache nicht an Leute überantwortet werden, die zwar viel guten Willen und auch wohl Instinkt, aber doch nicht das Zeug hätten, die Bewegung zu leiten. Je großartiger sie werde, und nun auch nach Deutschland übergreife, um so mehr müsse Marx sie in der Hand behalten. Alsbald zeigte sich gerade in Genf, daß guter Wille und bloßer Instinkt allein allerdings nicht genügten.

3. Die Agitation Bakunins

Der dritte Kongreß der Internationalen tagte vom 6. bis 13. September 1868 in Brüssel.

Er war zahlreicher besucht als irgendein früherer oder späterer, doch trug er einen stark örtlichen Charakter; mehr als die Hälfte seiner Mitglieder kam aus Belgien. Ungefähr den fünften Teil stellten die Franzosen |409|*. Unter den 11 englischen Delegierten befanden sich 6 Vertreter des Generalrats, neben Eccarius, Jung, Leßner namentlich der Trade-Unionist Lucraft. Schweizer waren nur 8 zugegen, Deutsche gar nur 3, unter ihnen Moses Heß von der Sektion Köln. Schweitzer, der eine offizielle Einladung erhalten hatte, war durch die Wahrnehmung mehrerer Gerichtstermine am persönlichen Erscheinen verhindert, erklärte aber schriftlich die Übereinstimmung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins mit den Bestrebungen der Internationalen; sich auch formell an sie anzuschließen, sei der Verein nur durch die deutschen Vereinsgesetze verhindert. Italien und Spanien sandten je einen Vertreter.

Der lebhaftere Pulsschlag, den das Leben der Internationalen in ihrem vierten Jahre angenommen hatte, war in den Verhandlungen des Kongresses sehr merklich zu spüren. Der Widerstand, den die Proudhonisten in Genf und Lausanne gegen Gewerkvereine und Streiks bekundet hatten, war fast in sein Gegenteil umgeschlagen. Zwar setzten sie noch eine akademische Resolution zu Ehren der »Tauschbank« und des »unentgeltlichen Kredits« durch, obgleich Eccarius die praktische Unmöglichkeit dieser proudhonistischen Heilmittel an englischen Erfahrungen und Heß ihre theoretische Unhaltbarkeit an der Hand der Streitschrift nachwies, die Marx zwanzig Jahre früher gegen Proudhon gerichtet hatte.

Dafür unterlagen sie in der »Eigentumsfrage« gänzlich: auf Vorschlag de Paepes wurde eine große Resolution unter eingehender Begründung angenommen: sie forderte, daß in einer wohlgeordneten Gesellschaft die Steinbrüche, die Steinkohlen- und andere Minen sowie die Eisenbahnen der Gesamtheit gehören sollten, das will sagen, dem neuerstandenen, dem Gesetze der Gerechtigkeit unterworfenen Staat, und daß ihr Betrieb bis dahin an Arbeiterkompanien übergeben werden sollte, unter den nötigen Bürgschaften für die Gesamtheit. Ebenso sollte der landwirtschaftliche Boden, auch die Wälder, in gemeinsames Staatseigentum überführt und unter denselben Bürgschaftsbedingungen an landwirtschaftliche Ackerbaugesellschaften übergeben werden. Endlich müßten Kanäle, Landstraßen, Telegraphenanstalten, kurz alle Verkehrsmittel Gemeingut der Gesellschaft bleiben. Mit ihrem heftigen Protest gegen diesen »rohen Kommunismus« erreichten die Franzosen nur, daß die Frage noch einmal vom nächsten Kongreß beraten werden sollte, als dessen Sitz Basel bestimmt wurde.

Marx hatte nach seiner eigenen Angabe keinen Teil an der Abfassung der Resolutionen, die in Brüssel angenommen wurden, doch war er mit dem Verlaufe des Kongresses nicht unzufrieden. Nicht nur weil es ihm gleichermaßen zur persönlichen wie zur sachlichen Genugtuung gereichen |410| durfte, daß ihm, wie schon in Hamburg und Nürnberg, der Dank der Arbeiterklasse für sein wissenschaftliches Werk ausgesprochen, sondern auch weil die Anklagen der französischen Sektion in London gegen den Generalrat zurückgewiesen worden waren. Nur in dem von Genf her angeregten Beschluß des Kongresses, drohende Kriege durch allgemeine Arbeitseinstellungen, durch einen Streik der Völker abzuwehren, fand er »Blödsinn«. Um so weniger hatte er dagegen einzuwenden, daß der Kongreß endgültig mit der Friedens- und Freiheitsliga brach, die kurze Zeit nachher ihren zweiten Kongreß in Bern hielt. Sie hatte der Internationalen ein Bündnis vorgeschlagen, erhielt aber in Brüssel die trockene Antwort, sie habe keinen vernünftigen Grund der Existenz und solle ihre Mitglieder nur einfach zum Eintritt in die Sektionen der Internationalen veranlassen.

Betrieben wurde dies Bündnis vornehmlich durch Michail Bakunin, der schon dem ersten Kongreß der Freiheits- und Friedensliga in Genf beigewohnt hatte und ein paar Monate vor dem Brüsseler Kongreß der Internationalen auch in diese eingetreten war. Nach der Ablehnung des Bündnisvertrages versuchte er nun, den Berner Kongreß der Friedens- und Freiheitsliga zu einem Programm zu bekehren, das auf die Zerstörung aller Staaten abzielte, um auf deren Trümmern eine Föderation freier produktiver Assoziationen aller Länder zu errichten. Er blieb jedoch in der Minderheit, in der sich unter anderen Johann Philipp Becker befand, und stiftete mit ihr eine neue Internationale Allianz der sozialistischen Demokratie, die zwar vollständig in der Internationalen aufgehen, aber sich die besondere Aufgabe stellen sollte, die politischen und philosophischen Fragen auf der Grundlage des großen Prinzips der allgemeinen und sittlichen Gleichheit aller Menschenwesen auf Erden zu studieren.

Bereits im Septemberhefte des »Vorboten« kündigte Becker diese Allianz an, deren Zweck darauf hinauslaufe, in Frankreich, Italien, Spanien und soweit ihr Einfluß reiche, Sektionen der Internationalen ins Leben zu rufen. Jedoch erst ein Vierteljahr später, am 15. Dezember 1868, ersuchte Becker den Generalrat um Aufnahme der Allianz in die Internationale, nachdem dasselbe Gesuch von dem belgischen und dem französischen Föderalrat abgelehnt worden war. Eine Woche später, am 22. Dezember, schrieb Bakunin aus Genf an Marx: »Mein alter Freund! Besser als je verstehe ich jetzt, wie sehr Du recht hast, wenn Du die große Heerstraße der ökonomischen Revolution verfolgst und uns einladest, sie zu betreten, und diejenigen unter uns herabsetzest, die sich in den Seitenpfaden teils nationaler, teils ausschließlich politischer Unternehmungen |411|* verirren. Ich tue jetzt dasselbe, was Du seit mehr als zwanzig Jahren tust. Seit dem feierlichen und öffentlichen Abschied, den ich den Bourgeois des Berner Kongresses gegeben habe, kenne ich keine andere Gesellschaft, keine andere Umwelt als die Welt der Arbeiter. Mein Vaterland ist jetzt die Internationale, zu deren hervorragenden Gründern Du gehörst. Du siehst also, lieber Freund, daß ich Dein Schüler bin, und ich bin stolz darauf, es zu sein. Soviel über meine Stellung und meine persönlichen Gesinnungen.« Es liegt kein Grund vor, an der Aufrichtigkeit dieser Versicherungen zu zweifeln.

Am schnellsten und tiefsten führt in das Verhältnis beider Männer ein Vergleich ein, den Bakunin einige Jahre später, als er schon in heftigem Kampf mit Marx stand, zwischen diesem und Proudhon gezogen hat. Es heißt darin: »Marx ist ein sehr ernster, sehr tiefer ökonomischer Denker. Er hat den ungeheuren Vorteil über Proudhon, tatsächlich ein Materialist zu sein. Proudhon ist trotz aller Anstrengungen, die er gemacht hat, um die Überlieferungen des klassischen Idealismus loszuwerden, nichtsdestoweniger sein Leben lang ein unverbesserlicher Idealist geblieben, der sich bald von der Bibel, bald vom römischen Recht beeinflussen ließ, wie ich es ihm zwei Monate vor seinem Tode gesagt habe, und immer Metaphysiker bis in die Spitze seiner Nägel. Sein großes Unglück ist, niemals die Naturwissenschaften studiert und sich deren Methode nicht angeeignet zu haben. Er hat gewisse Instinkte gehabt, die ihm den richtigen Weg flüchtig gezeigt haben, aber hingerissen durch die schlechten oder die idealistischen Gewohnheiten seines Geistes fiel er immer in die alten Irrtümer zurück. Dadurch ist Proudhon ein beständiger Widerspruch geworden, ein kräftiges Genie, ein revolutionärer Denker, der sich immer gegen die Einbildungen des Idealismus wehrte, aber nie dazu gelangte, sie zu besiegen.« So Bakunin über Proudhon.

In unmittelbarem Anschluß daran schilderte er das Wesen von Marx, so wie es ihm erschien. »Marx ist als Denker auf dem guten Wege. Er hat als Grundsatz aufgestellt, daß alle religiösen, politischen und juristischen Entwicklungen in der Geschichte nicht die Ursachen, sondern die Wirkungen der ökonomischen Entwicklungen sind. Das ist ein großer und fruchtbarer Gedanke, den Marx nicht schlechthin erfunden hat; der Gedanke wurde geahnt und teilweise ausgesprochen durch viele andere vor ihm, aber schließlich gebührt ihm die Ehre, ihn wissenschaftlich entwickelt und als Grundlage seines ganzen ökonomischen Systems festgelegt zu haben. Auf der anderen Seite hatte Proudhon die Freiheit viel besser verstanden und gefühlt als Marx; Proudhon hatte, wenn er nicht |412| in Doktrin und Phantasie machte, den wahren Instinkt des Revolutionärs; er verehrte Satan und verkündete die Anarchie. Es ist sehr möglich, daß Marx sich zu einem noch vernünftigeren System der Freiheit erhebt als Proudhon, aber der Instinkt Proudhons fehlt ihm. Als Deutscher und als Jude ist er vom Scheitel bis zur Zehe ein Autoritär.« Soweit Bakunin.

Für sich selbst zog er aus diesem Vergleich die Schlußfolgerung, daß er die höhere Einheit dieser beiden Systeme erfaßt habe. Er habe das anarchische System Proudhons entwickelt und von allem doktrinären, idealistischen und metaphysischen Beiwerk befreit, ihm den Materialismus in der Wissenschaft und die soziale Ökonomie in der Geschichte als Grundlage gegeben. Das war jedoch eine gewaltige Selbsttäuschung Bakunins. Er war weit über Proudhon hinausgekommen, vor dem er ein gut Stück europäischer Bildung voraushatte, und er verstand Marx viel besser als Proudhon diesen verstanden hatte. Aber weder hatte er die Schule der deutschen Philosophie so gründlich durchlaufen noch die Klassenkämpfe der westeuropäischen Völker so eingehend studiert wie Marx. Und vor allem war seine Unkenntnis der politischen Ökonomie für ihn noch viel verhängnisvoller als für Proudhon die Unkenntnis der Naturwissenschaften. Diese Lücke in der Bildung Bakunins bestand deshalb nicht weniger, weil sie in einer für ihn ehrenvollen Weise dadurch erklärt wurde, daß er um seiner revolutionären Taten willen eine lange Reihe seiner besten Jahre in sächsischen, österreichischen, russischen Kerkern und in den sibirischen Eiswüsten geschmachtet hatte.

Der »Satan im Leibe« war seine Stärke wie seine Schwäche. Was er unter diesem seinem Lieblingsschlagwort verstand, das hat der berühmte russische Kritiker Belinski in die so schönen wie treffenden Worte gekleidet: »Michail ist in vielem schuldig und sündhaft, doch gibt es etwas in ihm, das alle seine Mängel überwiegt - das ist das ewig bewegende Prinzip, das in der Tiefe seines Geistes lebt.« Bakunin war eine durch und durch revolutionäre Natur, und wie Marx und Lassalle besaß er die Gabe, daß die Menschen auf seine Stimme hörten. Es war doch eine Leistung für einen armen Flüchtling, der nichts besaß als seinen Geist und seinen Willen, in einer Reihe europäischer Länder, in Spanien, Italien und Rußland, die ersten Fäden der internationalen Arbeiterbewegung gesponnen zu haben. Aber man braucht diese Länder nur zu nennen, um auf den tiefsten Unterschied zwischen Bakunin und Marx zu stoßen. Beide sahen die Revolution mit schnellen Schritten herankommen, aber während Marx in dem großindustriellen Proletariat, wie er es in England, Frankreich und Deutschland studiert hatte, ihre Kerntruppe erblickte, rechnete Bakunin mit den Heerhaufen der deklassierten Jugend, |413| der bäuerlichen Masse und selbst des Lumpenproletariats. Wie scharf er immer erkannte, daß Marx ihm als wissenschaftlicher Denker überlegen war, so fiel er mit seinem Handeln immer in die Fehler zurück, die den »Revolutionären der vorigen Generation« eigen waren. Er selbst fand sich mit seinem Schicksal ab, indem er meinte, die Wissenschaft sei wohl der Kompaß des Lebens, aber nicht das Leben selbst, und nur das Leben schaffe wirkliche Dinge und Wesen.

Es ist eine Torheit, und dazu ein Unrecht gleichermaßen gegen Bakunin wie gegen Marx, ihre Beziehungen allein nach dem unheilbaren Zerwürfnis abzuschätzen, womit sie geendigt haben. Politisch und namentlich psychologisch viel reizvoller ist es zu verfolgen, wie sie im Laufe von dreißig Jahren sich gegenseitig immer wieder angezogen und immer wieder abgestoßen haben. Beide begannen als Junghegelianer; Bakunin gehörte zu den Paten der »Deutsch-Französischen Jahrbücher«. Bei dem Bruch zwischen seinem alten Gönner Ruge und Marx entschied er sich für diesen. Als er dann aber in Brüssel sah, was Marx unter kommunistischer Propaganda verstand, war er entsetzt, und einige Monate später begeisterte er sich für Herweghs abenteuerlichen Freischarenzug nach Deutschland, um dann doch wieder diese seine Torheit einzusehen und offen zu bekennen.

Gleich darauf, im Sommer 1848, klagte ihn die »Neue Rheinische Zeitung« als Werkzeug der russischen Regierung an, doch nahm sie ihren Irrtum, in den sie durch zwei, voneinander unabhängige Seiten versetzt worden war, in einer Weise zurück, die Bakunin vollkommen befriedigte. Bei einer Begegnung in Berlin frischten Marx und Bakunin ihre alte Freundschaft auf, und die »Neue Rheinische Zeitung« trat energisch für Bakunin ein, als er aus Preußen ausgewiesen wurde. Danach unterzog sie seine panslawistische Agitation einer strengen Kritik, aber mit der einleitenden Bemerkung: »Bakunin ist unser Freund«, und unter ausdrücklicher Anerkennung, daß Bakunin aus demokratischen Gründen handele und seine Selbsttäuschungen über die slawische Sache sehr zu entschuldigen seien. Übrigens irrte Engels, der Verfasser dieser Artikel, auch in dem Haupteinwande, den er gegen Bakunin geltend machte; die slawischen Völkerschaften Österreichs haben doch die geschichtliche Zukunft gehabt, die Engels ihnen absprach. Bakunins revolutionäre Teilnahme an dem Dresdner Maiaufstande haben Marx und Engels früher und lebhafter als irgendwer anerkannt.[1]

Auf dem Rückzuge aus Dresden wurde Bakunin gefangen und erst von einem sächsischen, dann von einem österreichischen Kriegsgerichte zum Tode verurteilt, in beiden Fällen zu lebenslänglicher Kerkerhaft |414| »begnadigt«, endlich nach Rußland ausgeliefert, wo er in der Peter-Pauls-Festung furchtbare Leidensjahre verbrachte. Während dieser Zeit erhob ein verrückter Urquhartit im »Morning Advertiser« wieder die Anklage gegen Bakunin, ein Agent der russischen Regierung zu sein und sich gar nicht im Kerker zu befinden. Dagegen protestierte in demselben Blatt - neben Herzen, Mazzini und Ruge - auch Marx. Jedoch wollte ein unglücklicher Zufall, daß der Verleumder Bakunins ebenfalls Marx hieß, was in engeren Kreisen bekannt war, obgleich sich der Biedermann der Aufforderung, sich öffentlich zu nennen, beharrlich entzog. Diesen Gleichklang der Namen benutzte dann der Talmi-Revolutionär Herzen zu einer unwürdigen Intrige. Als Bakunin, der 1857 aus der Peter-Pauls-Festung nach Sibirien geschickt worden, aber 1861 von hier glücklich entkommen war, über Japan und den amerikanischen Kontinent nach London gelangte, spiegelte Herzen ihm vor, Karl Marx habe ihn in der englischen Presse als russischen Spion denunziert. Es war die erste der Ohrenbläsereien, die noch viel Unheil zwischen Bakunin und Marx stiften sollten.

Mehr als ein Jahrzehnt lang war Bakunin von dem europäischen Leben abgesperrt gewesen, und so begreift sich, daß er sich in London zunächst an die russischen Flüchtlinge vom Schlage Herzens anschloß, mit denen er im Grunde wenig gemein hatte. Auch an seinem Panslawismus, soweit davon überhaupt gesprochen werden konnte, blieb Bakunin doch immer Revolutionär, während Herzen mit seinen Schimpfereien über den »verfaulten Westen« und seinem mystischen Kultus der russischen Dorfgemeinde in der Tat nur, unter der Maske eines schwachherzigen Liberalismus, die Geschäfte des Zarentums besorgte. Es spricht nicht gegen Bakunin, daß er seine persönlich freundschaftlichen Beziehungen zu Herzen, der sich ihm in seinen Jugendnöten hilfreich erwiesen hatte, bis zu Herzens Tode fortsetzte, aber den politischen Scheidebrief schrieb er ihm schon im Jahre 1866, indem er ihm vorwarf, eine soziale Umwälzung ohne politische Umwälzung zu wollen und dem Staate alles zu verzeihen, wenn er nur die großrussische Dorfgemeinde unberührt lasse, von der Herzen nicht nur das Heil Rußlands und aller slawischen Länder, sondern auch Europas und der ganzen Welt erwarte. Bakunin unterwarf dies Phantom einer vernichtenden Kritik.

Aber nach seiner Flucht aus Sibirien lebte er zunächst in Herzens Hause und wurde dadurch von Marx zurückgehalten. Um so bezeichnender war es wieder für ihn, daß er das Kommunistische Manifest« ins Russische übersetzte und in Herzens »Kolokol« veröffentlichte.

Bei einem zweiten Aufenthalte Bakunins in London, zur Zeit, wo |415| die Internationale gegründet wurde, brach Marx das Eis und suchte ihn auf. Er konnte mit aller Wahrheit versichern, daß er die Verleumdung Bakunins nicht nur nicht veranlaßt, sondern vielmehr nachdrücklich bekämpft habe. Beide schieden als Freunde; Bakunin war von dem Plane der Internationalen begeistert und Marx schrieb an Engels am 4. November: »Bakounine läßt Dich grüßen. Er ist heute nach Italien, wo er wohnt (Florenz), abgereist ... Ich muß sagen, daß er mir sehr gefallen hat und besser als früher ... Im Ganzen ist er einer der wenigen Leute, die ich nach 16 Jahren nicht zurück-, sondern weiterentwickelt finde.«

Die Freude, womit Bakunin die Internationale begrüßt hatte, hatte jedoch keinen langen Atem. Der Aufenthalt in Italien erweckte zunächst den »Revolutionär der vorigen Generation« in ihm. Er hatte dies Land gewählt, des milden Klimas und auch des wohlfeilen Lebens wegen, zumal da ihm Deutschland und Frankreich verschlossen waren, dann aber auch aus politischen Gründen. Er sah in den Italienern die natürlichen Verbündeten der Slawen gegen den österreichischen Zwangsstaat, und die Heldentaten Garibaldis hatten schon in Sibirien seine Phantasie entzündet. Sie ließen ihn zuerst erkennen, daß die revolutionäre Flut wieder im Steigen sei. In Italien fand er eine Menge politischer Geheimbünde; er fand hier eine deklassierte Intelligenz, die allemal bereit war, sich in allerlei Verschwörungen einzulassen, eine bäuerliche Masse, die stets am Abgrunde des Hungertodes schwebte, und endlich ein wenig bewegliches Lumpenproletariat, zumal in den Lazzaroni von Neapel, wohin er bald von Florenz übergesiedelt war, um dort mehrere Jahre zu leben. Diese Klassen erschienen ihm als die eigentlichen Triebkräfte der Revolution. Aber wenn er in Italien das Land sah, wo die soziale Revolution vielleicht am nächsten sei, so mußte er bald seinen Irrtum erkennen. Noch war in Italien die Propaganda Mazzinis übermächtig, und Mazzini war ein Gegner des Sozialismus; mit seinem verschwommenen religiösen Schlachtrufe und seinen straff zentralisierenden Tendenzen kämpfte er nur für die bürgerliche Einheitsrepublik.

In diesen italienischen Jahren nahm Bakunins revolutionäre Agitation bestimmtere Formen an. Bei seinem Mangel an theoretischer Bildung, der sich mit einem Überfluß an geistiger Beweglichkeit und an ungestümer Tatkraft verband, wurde er immer sehr stark von der Umwelt beeinflußt, worin er lebte. Der religiös-politische Dogmatismus Mazzinis trieb um so schärfer seinen Atheismus und seinen Anarchismus, die Verneinung jeder staatlichen Herrschaft hervor. Dagegen färbten die revolutionären Überlieferungen jener Klassen, die für ihn die Preiskämpfer der allgemeinen Umwälzung waren, um so stärker auf seine |416| Neigung für geheime Verschwörungen und örtliche Aufstände ab. So stiftete Bakunin einen revolutionär-sozialistischen Geheimbund, der sich zunächst aus Italienern rekrutierte und besonders »die widerwärtige Bourgeoisrhetorik der Mazzini und Garibaldi« bekämpfen sollte, aber sich bald auf internationalem Fuß erweiterte.

Im Interesse dieses Geheimbundes suchte Bakunin, der im Herbst 1867 nach Genf übersiedelt war, erst die Freiheits- und Friedensliga zu beeinflussen, und als er damit gescheitert war, bemühte er sich um Anschluß an die Internationale, um die er sich ziemlich vier Jahre lang nicht weiter gekümmert hatte.

4. Die Allianz der sozialistischen Demokratie

Trotzdem hatte Marx dem alten Revolutionär seine freundschaftliche Gesinnung bewahrt und sich Angriffen widersetzt, die aus seiner näheren Umgebung gegen Bakunin gerichtet worden waren oder werden sollten.

Sie gingen von Sigismund Borkheim aus, einem ehrlichen Demokraten, dem Marx seit der Vogt-Affäre und auch sonst für gute Dienste verpflichtet war. Borkheim hatte jedoch zwei Schwächen; er hielt sich für einen geistreichen Schriftsteller, ohne es zu sein, und er litt an einem barocken Russenhaß, der dem barocken Deutschenhaß Herzens nichts nachgab.

Auf Herzen hatte es Borkheim in erster Reihe abgesehen und vermöbelte ihn gründlich in einer Reihe von Artikeln, die das »Demokratische Wochenblatt« gleich nach seinem Erscheinen im Anfange des Jahres 1868 veröffentlichte. Damals hatte Bakunin längst mit Herzen gebrochen, aber gleichwohl wurde er von Borkheim als »Kosak« Herzens angegriffen und neben diesem als »unzerstörbare Negation« ans Kreuz geschlagen. Borkheim hatte nämlich bei Herzen gelesen, Bakunin habe vor Jahren den »merkwürdigen Ausspruch« getan: »Die aktive Negation ist eine schaffende Kraft«, und so fragte er sittlich empört, ob dergleichen wohl jemals diesseits der russischen Grenzsoldaten gedacht worden und dem Gelächter von Tausenden deutscher Schuljungen verfallen sei. Der gute Borkheim ahnte nicht, daß Bakunins seinerzeit geflügeltes Wort »Die Lust der Zerstörung ist eine schaffende Lust« aus einem Aufsatz der »Deutschen Jahrbücher« stammte, zur Zeit wo Bakunin in den Kreisen der deutschen Junghegelianer lebte und die »Deutsch-Französischen Jahrbücher« neben Marx und Ruge aus der Taufe hob.

|417| Man begreift, daß Marx diese und ähnliche Stilübungen mit geheimem Grauen betrachtete und sich mit Händen und Füßen sträubte, als Borkheim die Artikel, die Engels in der »Neuen Rheinischen Zeitung« gegen Bakunin veröffentlicht hatte, in seinem Kauderwelsch zu verwerten suchte, weil sie ihm »famos in seinen Rahmen paßten«. Auf keinen Fall dürfe die Sache in einen beleidigenden Zusammenhang gebracht werden, da Engels ein alter persönlicher Freund Bakunins sei. Ebenso verwahrte sich Engels, und die Sache unterblieb. Auch Johann Philipp Becker bat Borkheim, Bakunin nicht anzugreifen, erhielt jedoch als Antwort einen »geharnischten Brief«, worin Borkheim, wie Marx an Engels schrieb, mit seiner »gewöhnlichen Delikatesse« erklärte, er bewahre ihm Freundschaft und seine (übrigens sehr unbedeutende) pekuniäre Unterstützung, aber Politik sei von nun an in ihrer Korrespondenz auszuschließen. Marx fand bei aller Freundschaft für Borkheim, daß dessen »Russophobie« gefährliche Dimensionen angenommen habe.

Er selbst wurde in seiner freundschaftlichen Gesinnung für Bakunin auch nicht dadurch beirrt, daß dieser an den Kongressen der Friedens- und Freiheitsliga teilnahm. Der erste dieser Kongresse hatte schon in Genf getagt, als Marx ein Dedikationsexemplar des »Kapitals« an Bakunin sandte, und auch als er kein Wort des Dankes erhielt, erkundigte sich Marx bei einem russischen Emigranten in Genf, an den er in anderen Angelegenheiten schrieb, nach seinem »alten Freunde Bakunin«, wennschon mit einem leisen Zweifel, ob er es noch sei. Eine Antwort auf diese mittelbare Anfrage war der Brief Bakunins vom 22. Dezember, worin er die Heerstraße zu betreten versprach, die Marx seit zwanzig Jahren verfolge.

An dem Tage jedoch, wo Bakunin diesen Brief schrieb, hatte der Generalrat sich schon entschieden, den von Becker übermittelten Antrag, die Allianz der sozialistischen Demokratie in die Internationale aufzunehmen, an seinem Teil abzulehnen. Dabei war Marx die treibende Kraft. Er kannte die Existenz der Allianz, die ja der »Vorbote« angekündigt hatte, hielt sie bis dahin aber für ein Genfer Lokalgewächs, das totgeboren und nicht weiter bedenklich sei; er kannte den alten Becker, der gern ein wenig Vereinsmeierei trieb, aber sonst zuverlässig war. Nun aber sandte Becker das Programm und das Statut der Allianz ein und schrieb dazu, die Allianz wolle dem mangelnden »Idealismus« der Internationalen abhelfen. Dieser Anspruch erregte auch sonst im Generalrat »große Wut«, wie Marx an Engels schrieb, »namentlich unter den Franzosen«, und die Abweisung wurde sofort beschlossen. |418| Marx erhielt den Auftrag, den Beschluß zu redigieren. Daß er selbst in einiger Erregung war, zeigt der Brief, den er am 18. Dezember »nach Mitternacht« an Engels schrieb, um dessen Rat einzuholen. »Diesmal hat Borkheim recht«, fügte er hinzu. Was ihn aufbrachte, war nicht sowohl das Programm als das Statut der Allianz. Das Programm erklärte die Allianz in erster Reihe für atheistisch; es verlangte die Abschaffung aller Religionskulte, die Ersetzung des Glaubens durch die Wissenschaft, der göttlichen Gerechtigkeit durch die menschliche. Dann forderte es die politische, ökonomische und soziale Gleichmachung der Klassen und der Individuen beider Geschlechter, wobei mit der Abschaffung des Erbrechts der Anfang zu machen sei; ferner für alle Kinder beider Geschlechter von ihrer Geburt an die Gleichheit der Mittel zu ihrer Entwicklung, das heißt ihres Unterhalts, ihrer Erziehung und ihres Unterrichts auf allen Stufen der Wissenschaft, der Industrie und der Künste. Endlich verwarf das Programm jede politische Tätigkeit, die nicht den Sieg der Arbeitersache über das Kapital zum direkten und unmittelbaren Zweck habe.

Marx urteilte über dies Programm nichts weniger als schmeichelhaft. Er hat es etwas später »eine Olla potrida abgeschliffener Gemeinplätze« genannt, »eine gedankenlose Schwätzerei, einen Rosenkranz von hohlen Einfällen, die schauerlich zu sein prätendierten, eine insipide Improvisation, die bloß auf einen gewissen Tageseffekt abziele«. Aber in theoretischen Fragen hatte die Internationale ihrem Wesen nach zunächst einen sehr weiten Mantel der Liebe; ihre geschichtliche Aufgabe bestand ja eben darin, aus ihrer praktischen Tätigkeit heraus ein gemeinsames Programm des internationalen Proletariats zu entwickeln.

Um so wichtiger war ihre Organisation als Voraussetzung jeder erfolgreichen praktischen Tätigkeit. Und in diese Organisation versuchte das Statut der Allianz in verhängnisvoller Weise einzugreifen. Die Allianz erklärte sich zwar für einen Zweig der Internationalen, deren sämtliche allgemeine Statuten sie annehme, aber sie wollte eine besondere Organisation bilden. Ihre Gründer taten sich in Genf als vorläufiges Zentralkomitee zusammen. In jedem Lande sollten nationale Büros eingerichtet werden, die an allen Orten Gruppen ins Leben rufen und diesen Gruppen die Aufnahme in die Internationale vermitteln sollten. Bei den Jahreskongressen der Internationalen wollten die Vertreter der Allianz als Zweig der Internationalen, ihre öffentlichen Sitzungen in einem besonderen Raume abhalten.

Engels entschied sofort: Das geht nicht. Es gäbe zwei Generalräte und zwei Kongresse. Bei der ersten Gelegenheit würde der praktische |419| Generalrat in London mit dem »idealistischen« Generalrat in Genf zusammenstoßen. Im übrigen empfahl Engels kaltes Blut; heftiges Auftreten werde die unter den Arbeitern (besonders in der Schweiz) sehr zahlreichen Gesinnungsphilister nutzlos aufbringen und der Internationalen schaden. Man solle die Leute ruhig, aber fest abweisen und ihnen sagen, daß sie sich ein spezielles Terrain ausgesucht hätten, von dem man abwarten werde, was sie daraus machen würden; vorderhand stände dein nichts entgegen, daß die Mitglieder der einen Assoziation auch Mitglieder der andern würden. Über das theoretische Programm der Allianz urteilte auch Engels, etwas Erbärmlicheres habe er nie gelesen; Bakunin müsse ein »perfekter Ochse« geworden sein, eine Äußerung, die zunächst noch keine besondere Feindseligkeit gegen Bakunin atmete, oder doch keine größere Feindseligkeit, als wenn Marx seinen allezeit getreuen Freund Becker einen »alten Konfusionsrat« schalt; mit solchen Ehrentiteln gingen beide Freunde in ihren vertraulichen Briefen sehr verschwenderisch um.

Marx hatte sich inzwischen schon beruhigt und entwarf den Beschluß des Generalrats, der die Aufnahme der Allianz in die Internationale ablehnte, in einer Form und mit einem Inhalt, gegen die sich nichts einwenden ließ. Einen kleinen Hieb für Becker enthielt der Hinweis darauf, daß die Frage ja schon durch einige Gründer der Allianz vorentschieden sei, da sie als Mitglieder der Internationalen an dem Beschluß des Brüsseler Kongresses mitgewirkt hätten, eine Verschmelzung der Internationalen mit der Friedens- und Freiheitsliga abzulehnen. Im wesentlichen wurde die Ablehnung damit entschieden, daß die Zulassung einer zweiten internationalen Körperschaft, die innerhalb und außerhalb der Internationalen stünde, das unfehlbarste Mittel sein würde, deren Organisation zu zerstören.

Es ist sehr unwahrscheinlich, daß Becker durch diesen Beschluß des Generalrats in gewaltigen Zorn geraten sein soll. Glaubhafter ist die Angabe Bakunins, daß er von vornherein die Gründung der Allianz widerraten habe, aber von den Mitgliedern seines Geheimbundes überstimmt worden sei; er habe zwar diesen Geheimbund beibehalten wollen, dessen Mitglieder innerhalb der Internationalen in ihrem Sinne wirken wollten, aber den unbedingten Eintritt in die Internationale gewünscht, um alle Rivalitäten auszuschließen. Jedenfalls erwiderte das Genfer Zentralkomitee der Allianz den abweisenden Beschluß des Generalrats mit dem Anerbieten, die Sektionen der Allianz in Sektionen der Internationalen aufzulösen, falls der Generalrat ihr theoretisches Programm anerkenne.

|420| Inzwischen hatte Marx den entgegenkommenden Brief Bakunins vom 22. Dezember erhalten, aber sein Argwohn war nun doch schon so weit erwacht, daß er dies »sentimentale Entree« nicht weiter beachtete. Auch das neue Angebot der Allianz erregte sein Mißtrauen, doch ließ er sich von ihm nicht so weit beherrschen, um anders als sachlich zutreffend darauf zu antworten. Auf seinen Vorschlag beschloß der Generalrat am 9. März 1869, es sei nicht seine Sache, die theoretischen Programme seiner einzelnen Arbeiterparteien zu prüfen. Die Arbeiterklasse der verschiedenen Länder befände sich auf so verschiedenen Entwicklungsstufen, daß sich ihre reelle Bewegung in sehr verschiedenen theoretischen Formen ausdrücke. Die Gemeinsamkeit der Aktion, die die Internationale ins Leben rufe, der Ideenaustausch durch die verschiedenen Organe der Sektionen in allen Ländern, endlich die direkte Debatte auf den allgemeinen Kongressen würden nach und nach für die allgemeine Arbeiterbewegung auch das gemeinsame theoretische Programm schaffen. Einstweilen habe der Generalrat nur zu fragen, ob die allgemeine Tendenz der einzelnen Arbeiterprogramme der allgemeinen Tendenz der Internationalen entspräche, nämlich der vollständigen Emanzipation der arbeitenden Klassen.

In dieser Beziehung enthalte das Programm der Allianz eine Phrase, die gefährliche Mißverständnisse zulasse. Die politische, ökonomische und soziale Gleichmachung der Klassen laufe, wenn man sie wörtlich nehme, auf die Harmonie zwischen Kapital und Arbeit hinaus, die von den Bourgeois-Sozialisten gepredigt werde. Das wahre Geheimnis der proletarischen Bewegung und der große Zweck der Internationalen sei vielmehr die Vernichtung der Klassen. Indessen da »die Gleichmachung der Klassen«, wie sich aus dem Zusammenhange ergebe, in das Programm der Allianz nur durch ein einfaches Ausgleiten der Feder geraten sei, so zweifle der Generalrat nicht, daß die Allianz auf diese bedenkliche Phrase verzichten werde, und dann stände kein Hindernis der Umwandlung der Sektionen der Allianz in Sektionen der Internationalen entgegen. Wenn sie endgültig erfolgt sei, müßte nach den Statuten der Internationalen der Generalrat von dem Ort und der Mitgliederzahl jeder neuen Sektion benachrichtigt werden.

Daraufhin verbesserte die Allianz die beanstandete Phrase in dem vom Generalrat gewünschten Sinne und zeigte diesem am 22. Juni an, daß sie sich aufgelöst und ihre Sektionen aufgefordert habe, sich in Sektionen der Internationalen umzuwandeln. Ihre Genfer Sektion, an deren Spitze Bakunin stand, wurde durch einstimmigen Beschluß des Generalrats in die Internationale aufgenommen. Auch der Geheimbund |421| Bakunins hatte sich angeblich aufgelöst, doch bestand er in mehr oder minder loser Form weiter, und Bakunin selbst fuhr fort, im Sinne des Programms zu wirken, das sich die Allianz gegeben hatte. Er lebte vom Herbst 1867 bis zum Herbst 1869 an den Ufern des Genfer Sees, teils in Genf selbst, teils in Vevey und Clarens, und hatte sich einen großen Einfluß unter den romanischen Arbeitern der Schweiz verschafft.

Dabei wurde er unterstützt durch die eigentümlichen Zustände, worin diese Arbeiter lebten. Wenn man die damaligen Entwicklungen richtig beurteilen will, darf man niemals vergessen, daß die Internationale keine Partei mit einem bestimmten theoretischen Programm war, sondern die allerverschiedensten Richtungen in ihrem Schoße duldete, wie es ja auch der Generalrat in seinem Schreiben an die Allianz festgestellt hatte. Man kann heute noch im »Vorboten« verfolgen, daß selbst ein so eifriger und verdienter Vorkämpfer des großen Bundes wie Becker, sich um theoretische Fragen niemals graue Haare wachsen ließ. So waren auch in den Genfer Sektionen der Internationalen zwei sehr verschiedene Strömungen vertreten. Auf der einen Seite die fabrique, worunter der Genfer Dialekt die qualifizierten und gut gelohnten Arbeiter der Juwelen- und Uhrenindustrie verstand, und die sich fast nur aus Eingeborenen rekrutierte, auf der anderen Seite die gros métiers, vornehmlich Bauarbeiter, die fast ebenso ausschließlich aus Fremden, namentlich Deutschen, bestanden und sich nur in fortwährenden Streiks halbwegs erträgliche Arbeitsbedingungen erkämpfen konnten. Jene besaßen das Wahlrecht, diese nicht. Aber ihrer Zahl nach konnte die fabrique nicht auf selbständige Wahlerfolge rechnen und war deshalb sehr geneigt zu Wahlkompromissen mit den bürgerlichen Radikalen, während die gros métiers, für die jede Versuchung dieser Art von vornherein ausgeschlossen war, sich weit eher für die direkte revolutionäre Aktion begeisterten, wie sie Bakunin vertrat.

Ein noch ergiebigeres Rekrutierungsfeld fand dieser unter den Uhrenarbeitern des Jura. Es waren keine qualifizierten Luxusarbeiter, sondern meist Hausindustrielle, deren kümmerliches Dasein schon durch die Maschinen der amerikanischen Konkurrenz bedroht wurde. In kleinen Nestern über die Berge verstreut, waren sie wenig geeignet für eine Massenbewegung mit politischen Zielen, und soweit sie es waren, wurden sie durch trübe Erfahrungen von der Politik zurückgeschreckt. Zuerst hatte ein Arzt Coullery die Agitation für die Internationale in ihre Kreise getragen, ein menschenfreundlich gesinnter Mann, aber politisch konfuser Kopf, der sie zu Wahlbündnissen nicht nur mit den Radikalen, sondern auch mit den monarchistischen Liberalen in Neuchâtel verleitet |422| hatte, wobei die Arbeiter regelmäßig übers Ohr gehauen wurden. Nach der gänzlichen Abwirtschaftung Coullerys hatten die jurassischen Arbeiter in James Guillaume, einem jungen Lehrer an der Industrie in Locle, einen neuen Führer gefunden, der sich völlig in ihre Denkweise einlebte und im »Progrès«, einem Blättchen, das er in Locle herausgab, das Ideal einer anarchischen Gesellschaft vertrat, in der alle Menschen frei und gleich wären. Als Bakunin zum ersten Male in den Jura kam, fand er den Boden vollkommen vorbereitet für seine Saat, und diese armen Teufel haben auf ihn vielleicht stärker abgefärbt als er auf sie, denn seine Verurteilung jeder politischen Tätigkeit trat von nun an viel schärfer hervor als vordem.

Einstweilen jedoch herrschte noch Friede in den Sektionen der romanischen Schweiz. Im Januar 1869 schlossen sie sich, in erster Reihe auf Betreiben Bakunins, zu einem Föderalrat zusammen und gaben eine Wochenschrift größeren Stils heraus, die »Égalité«, an der Bakunin, Becker, Eccarius, Varlin und andere namhafte Mitglieder der Internationalen mitarbeiteten. Bakunin war es auch, der den romanischen Föderalrat zu dem Antrage an den Londoner Generalrat veranlaßte, die Erbschaftsfrage auf die Tagesordnung des Baseler Kongresses zu setzen. Das war Bakunins gutes Recht, denn die Erörterung solcher Fragen gehörte zu den Hauptaufgaben der Kongresse, und der Generalrat ging darauf ein.

Marx freilich sah darin auch eine Art Kampfansage Bakunins, die er als solche jedoch durchaus willkommen hieß.

5. Der Baseler Kongreß

Auf ihrem Jahreskongreß, der vom 5. bis 6. September 1869 in Basel tagte, hielt die Internationale die Heerschau über ihr fünftes Lebensjahr ab.

Es war das bewegteste, daß sie bis dahin erlebt hatte, durchtobt, wie es war, von den »Guerillagefechten zwischen Kapital und Arbeit«, den Streiks, von denen unter den besitzenden Klassen Europas mehr und mehr die Rede ging, sie seien weder aus dem Elend des Proletariers entsprungen, noch aus dem Despotismus des Kapitals, sondern aus den geheimen Intrigen der Internationalen.

Um so mehr wuchs die brutale Lust, sie durch Waffengewalt niederzuschlagen. Selbst in England kam es zu blutigen Zusammenstößen |423| zwischen streikenden Grubenarbeitern und dem Militär. In den Kohlendistrikten der Loire richtete eine betrunkene Soldateska ein Blutbad bei Ricamarie an, bei dem zwanzig Arbeiter, darunter zwei Frauen und ein Kind, niedergeschossen und zahlreiche Arbeiter verwundet wurden. Am scheußlichsten ging es wieder in Belgien her, »dem Musterstaat des festländischen Konstitutionalismus, dem behaglichen, wohlumzäunten Paradies des Landherrn, des Kapitalisten und des Pfaffen«, wie es in einem wuchtigen, von Marx verfaßten Aufruf des Generalrats hieß, der die Arbeiter Europas und der Vereinigten Staaten zur Hilfe für die in Seraing und im Borinage hingemordeten Opfer einer zügellosen Profitwut aufrief. »Die Erde vollendet ihre jährliche Umdrehung nicht sicherer als die belgische Regierung ihre jährliche Arbeitermetzelei.«[2]

Die Blutsaat reifte die Ernte der Internationalen. In England hatten im Herbst 1868 die ersten Wahlen auf Grund des reformierten Wahlgesetzes stattgefunden und durchaus die Warnungen bestätigt, die Marx gegen die einseitige Politik der Reformliga geltend gemacht hatte. Kein einziger Arbeitervertreter wurde gewählt. Die »langen Geldbeutel« siegten, und Gladstone kam wieder ans Ruder. Er dachte aber nicht daran, in der irischen Frage gründliche Arbeit zu machen, oder den berechtigten Beschwerden der Trade Unions abzuhelfen. So bekam der Neue Unionismus frischen Wind in seine Segel. Auf dem Jahreskongreß, den die Trade Unions 1869 in Birmingham abhielten, luden sie die organisierten Arbeiterkörper des Königreichs aufs dringendste ein, sich der Internationalen anzuschließen. Und nicht nur, weil die Interessen der Arbeiterklasse überall dieselben, sondern auch weil die Prinzipien der Internationalen geeignet seien, den dauernden Frieden unter den Völkern der Erde zu sichern. Im Sommer 1869 hatte ein Krieg zwischen England und der Union gedroht und eine, ebenfalls von Marx verfaßte Adresse an die Nationale Arbeiterunion der Vereinigten Staaten veranlaßt, worin es hieß: »Die Reihe ist jetzt an euch, einem Kriege vorzubeugen, dessen klarstes Ergebnis sein würde, die emporsteigende Arbeiterbewegung auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans zurückzuschleudern.«[3] Die Adresse hatte einen lebhaften Widerhall jenseits des großen Teichs gefunden.

Auch in Frankreich marschierte die Arbeitersache gut voran. Die polizeilichen Verfolgungen der Internationalen hatten nur die übliche Wirkung, die Zahl ihrer Anhänger zu vermehren. Das hilfreiche Eingreifen des Generalrats bei den zahlreichen Streiks führte zur Gründung von Gewerkschaften, die nicht verboten werden konnten, sosehr der Geist der Internationalen in ihnen leben mochte. Bei den Wahlen von 1869 |424| beteiligten sich die Arbeiter noch nicht durch die Aufstellung eigener Kandidaten, sondern unterstützten die Kandidaten der äußersten bürgerlichen Linken, die ein sehr radikales Wahlprogramm aufgestellt hatte. Sie trugen damit wenigstens mittelbar zu der schweren Niederlage bei, die Bonaparte zumal in den großen Städten erlitt, wenn die Frucht ihrer Mühen einstweilen auch noch einmal der bürgerlichen Demokratie zufiel. Auch sonst begann das zweite Kaiserreich in allen Fugen zu krachen; von außen erhielt es einen schweren Stoß durch die spanische Revolution, die im Herbst 1868 die Königin Isabella aus dem Lande gejagt hatte.

Einen etwas anderen Verlauf nahmen die Dinge in Deutschland, wo der Bonapartismus noch nicht im Absteigen, sondern erst im Aufsteigen begriffen war. Die nationale Frage spaltete die deutsche Arbeiterklasse, und diese Spaltung war ein schweres Hindernis für die gewerkschaftliche Bewegung, die sich zu entfalten begonnen hatte. Schweitzer hatte sich durch den falschen Weg seiner Gewerkschaftsagitation in eine schiefe Lage gebracht, der er nicht mehr gewachsen war. Die grundlosen Denunziationen, die unaufhörlich gegen seine Ehrlichkeit gerichtet wurden, machten nun doch manche seiner Anhänger mißtrauisch, und er war schlecht genug beraten, sein immerhin doch nur erst wenig erschüttertes Ansehen durch einen kleinen Staatsstreich ernstlich zu gefährden.

Eine Minderheit des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins schied deshalb aus und verband sich mit den Nürnberger Vereinen zu einer neuen Sozialdemokratischen Partei, deren Mitglieder nach ihrem Gründungsort die Eisenacher genannt zu werden pflegten. Beide Fraktionen bekämpften sich zunächst sehr heftig untereinander, doch nahmen sie zur Internationalen ungefähr dieselbe Stellung ein: in der Sache eins, doch in der Form verschieden, solange die deutschen Vereinsgesetze bestanden. Marx und Engels waren im höchsten Grade unzufrieden, als Liebknecht den Generalrat der Internationalen gegen Schweitzer ausspielte, wozu er kein Recht habe. Wenn ihnen auch der »Auflösungsprozeß der Lassallekirche« willkommen war, so wußten sie doch auch mit der anderen Richtung nichts anzufangen, solange sie ihre Organisation nicht ganz entschieden von der Deutschen Volkspartei getrennt und sich mit diesen Leuten höchstens auf ein loses Kartellverhältnis gestellt habe. Daß Schweitzer als Debatter seinen sämtlichen Gegnern überlegen blieb, fanden sie nach wie vor.

Einhelliger entwickelte sich die österreichisch-ungarische Arbeiterbewegung, die erst seit den Niederlagen des Jahres 1866 entstanden war. Die Richtung Lassalles fand hier gar keinen Boden, aber um so |425| stärkere Massen drängten sich um die Fahne der Internationalen, wie ihr Generalrat in seinem Jahresbericht an den Baseler Kongreß feststellte.

So trat dieser Kongreß unter günstigen Aussichten zusammen. Er zählte zwar nur 78 Mitglieder, aber er hatte ein viel »internationaleres« Aussehen als die früheren Kongresse. Im ganzen waren 9 Länder vertreten. Vom Generalrat kamen wie immer, Eccarius und Jung, und daneben zwei der angesehensten Trade Unionisten, Applegarth und Lucraft. Frankreich sandte 26, Belgien 5, Deutschland 12, Österreich 2, die Schweiz 23, Italien 3, Spanien 4 und Nordamerika 1 Abgeordneten. Liebknecht vertrat die neue Fraktion der Eisenacher, Moses Heß die Sektion Berlin. Bakunin hatte außer einem französischen auch ein italienisches Mandat, Guillaume war von Locle gesandt. Den Vorsitz führte wieder Jung.

Die Verhandlungen beschäftigten sich zunächst mit organisatorischen Fragen. Auf Antrag des Generalrats beschloß der Kongreß einstimmig, allen Sektionen und angeschlossenen Gesellschaften die Abschaffung des Präsidentenamts in ihrer Mitte zu empfehlen, wie es der Generalrat an seinem Teile schon seit ein paar Jahren getan hatte; es sei einer Arbeiterassoziation nicht würdig, ein monarchisches und autoritäres Prinzip aufrechtzuerhalten; auch wo das Präsidentenamt ein bloßes Ehrenamt sei, schließe es eine Verletzung des demokratischen Prinzips ein. Dagegen schlug der Generalrat eine Erweiterung seiner Machtbefugnisse vor; er wollte ermächtigt sein, jede Sektion, die dem Geiste der Internationalen zuwiderhandle, bis zur Entscheidung des nächsten Kongresses auszuschließen. Der Antrag wurde mit der Einschränkung angenommen, daß die Föderalräte, wo es solche gebe, vor dem Ausschluß der Sektionen befragt werden müßten. Bakunin wie Liebknecht hatten den Antrag lebhaft befürwortet. Bei Liebknecht war das selbstverständlich, nicht so jedoch bei Bakunin. Er verstieß damit gegen sein anarchistisches Prinzip, gleichviel aus welchen opportunistischen Gründen. Am wahrscheinlichsten ist, daß er den Teufel durch Beelzebub bekämpfen wollte und auf die Hilfe des Generalrats gegen jede parlamentarisch-politische Tätigkeit rechnete, die für ihn reiner Opportunismus war; in dieser Ansicht konnte er durch die bekannte Rede Liebknechts bestärkt werden, die sich eben jetzt heftig gegen Schweitzers und auch Bebels Beteiligung an den Arbeiten des Norddeutschen Reichstags erklärt hatte. Aber Marx mißbilligte die Rede Liebknechts, und so hat Bakunin die Rechnung ohne den Wirt gemacht; er sollte schnell genug erfahren, daß sich prinzipielle Verstöße immer rächen.

|426| Von den theoretischen Problemen, mit denen der Kongreß sich zu befassen hatte, standen die Fragen des Gemeineigentums am Grund und Boden und des Erbrechts obenan. Die erste war tatsächlich schon in Brüssel entschieden worden; kürzer, als im Vorjahre, wurde jetzt mit 54 Stimmen beschlossen, die Gesellschaft habe das Recht, den Grund und Boden in Gemeineigentum zu verwandeln, und mit 53 Stimmen, diese Verwandlung sei im Interesse der Gesellschaft notwendig. Die Minderheit enthielt sich überwiegend der Abstimmung; gegen den zweiten Beschluß stimmten nur 8, gegen den ersten nur 4 Delegierte. Über die praktische Ausführung der Beschlüsse ergaben sich noch mannigfach verschiedene Ansichten, deren erschöpfende Beratung auf den nächsten Kongreß verschoben wurde, der in Paris tagen sollte.

In der Frage des Erbrechts hatte der Generalrat einen Bericht ausgearbeitet, der, so meisterhaft wie nur Marx es verstand, die entscheidenden Gesichtspunkte in wenigen Sätzen zusammenfaßte.[4] Wie jede andere bürgerliche Gesetzgebung seien die Erbschaftsgesetze nicht die Ursache, sondern die Wirkung, die juristische Folge der ökonomischen Organisation einer auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln gegründeten Gesellschaft. Das Recht der Erbschaft auf Sklaven sei nicht die Ursache der Sklaverei, sondern im Gegenteil sei die Sklaverei die Ursache der Erbschaft von Sklaven. Würden die Produktionsmittel in Gemeineigentum umgestaltet, so würde das Recht der Erbschaft, soweit es von sozialer Wichtigkeit sei, von selbst verschwinden, weil ein Mann nur das hinterlassen könne, was er bei Lebzeiten besessen habe. Das große Ziel bleibe deshalb die Aufhebung jener Einrichtungen, die einigen Leuten während ihrer Lebenszeit die ökonomische Macht verliehen, die Früchte der Arbeit von vielen auf sich zu übertragen. Die Abschaffung des Erbschaftsrechts als den Ausgangspunkt der sozialen Revolution proklamieren, wäre ein ebenso abgeschmacktes Ding, als wenn man die Gesetze der Kontrakte zwischen Käufern und Verkäufern aufheben wolle, solange der heutige Zustand des Warenaustausches fortdauere; es würde falsch in der Theorie und reaktionär in der Praxis sein. Ändern ließe sich nur am Erbschaftsrecht in Zeiten des Überganges, wo auf der einen Seite die gegenwärtige ökonomische Grundlage der Gesellschaft noch nicht umgestaltet sei, auf der anderen Seite aber die arbeitenden Klassen schon Kraft genug gesammelt hätten, um vorbereitende Maßregeln für eine radikale Umgestaltung der Gesellschaft durchzusetzen. Als solche Übergangsmaßregeln empfahl der Generalrat Erweiterung der Erbschaftssteuern und Beschränkung des testamentarischen Erbschaftsrechts, das, im Unterschiede vom Familienerbrechte, die Grundsätze |427|* des Privateigentums in abergläubischer und willkürlicher Weise übertreibe.

Im Gegensatz dazu beantragte die Kommission, der die Frage zur Vorberatung überwiesen worden war, die Beseitigung des Erbrechts als eine Grundforderung der Arbeiterklasse aufzustellen, wußte diesen Antrag aber nur mit einigen ideologischen Schlagworten über »Vorrechte«, »politische und ökonomische Gerechtigkeit«, »soziale Ordnung« zu begründen. In der ziemlich kurzen Debatte sprachen für den Bericht des Generalrats neben Eccarius der Belgier de Paepe und der Franzose Varlin, während Bakunin für den Kommissionsantrag eintrat, der ja aus seinem Geiste geboren war. Er empfahl ihn namentlich aus angeblich praktischen, aber deshalb nicht weniger illusorischen Gründen; ohne Abschaffung des Erbrechts sei das Gemeineigentum nicht zu erlangen. Wolle man den Arbeitern ihr Land nehmen, so würden sie sich widersetzen, aber von der Beseitigung des Erbrechts würden sie sich nicht unmittelbar angegriffen fühlen und das private Grundeigentum würde allmählich absterben. Bei der namentlichen Abstimmung über den Kommissionsantrag ergab sich folgendes Ziffernverhältnis: 32 ja, 23 Nein, 13 Enthaltungen, 7 Abwesende, während bei der Abstimmung über den Antrag des Generalrats 19 ja, 37 Nein, 6 Enthaltungen und 13 Abwesende gezählt wurden. Eine absolute Mehrheit hatte also keiner der beiden Berichte gefunden, so daß die Verhandlung ohne greifbares Ergebnis blieb.

Der Baseler Kongreß rief einen noch viel lebhafteren Widerhall hervor als seine Vorgänger, in der bürgerlichen wie in der proletarischen Welt. Dort stellten die gelehrtesten Männer, halb mit Grauen und halb mit Schadenfreude, den endlich offenbarten kommunistischen Charakter der Internationalen fest; hier antwortete ein freudiges Echo den Beschlüssen über das Gemeineigentum am Grund und Boden. In Genf veröffentlichte die Sektionsgruppe deutscher Sprache ein Manifest an die landwirtschaftliche Bevölkerung, das in französischer, italienischer, spanischer, polnischer und russischer Sprache rasch und weit verbreitet wurde. In Barcelona wie in Neapel entstanden die ersten Sektionen von Feldarbeitern. In London wurde auf einem großen Meeting eine Land- und Arbeitsliga gegründet, in deren Komitee 10 Mitglieder des Generalrats saßen, mit der Losung: Das Land für das Volk!

In Deutschland tobten namentlich die edlen Mannen der Deutschen Volkspartei gegen die Baseler Beschlüsse. Dadurch ließ sich Liebknecht anfangs einschüchtern und zu der Erklärung hinreißen, die Eisenacher Fraktion sei an die Beschlüsse nicht gebunden. Glücklicherweise waren |428| die sichtlich empörten Biedermänner damit nicht zufrieden und verlangten eine ausdrückliche Verleugnung der Beschlüsse, worauf sich Liebknecht endlich von dieser Gesellschaft lossagte, wie Marx und Engels längst gewünscht hatten. Sein anfängliches Zögern war aber Wasser auf Schweitzers Mühle gewesen, der das Gemeineigentum am Grund und Boden im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein schon seit Jahren »gepredigt« hatte, und nicht erst jetzt, um seine Gegner zu verhöhnen, wie Marx annahm und ihm als »Unverschämtheit« anrechnete. Engels beherrschte seinen Ärger über den »Lumpen« wenigstens so weit, daß er es »sehr geschickt« fand, wenn Schweitzer sich theoretisch immer korrekt halte, wohl wissend, daß seine Gegner verraten und verkauft seien, sowie ein theoretischer Punkt aufkomme.

Einstweilen blieben die Lassalleaner nicht nur die organisatorisch geschlossenste, sondern auch die prinzipiell vorgeschrittenste der deutschen Arbeiterparteien.

6. Genfer Wirren

Soweit die Baseler Verhandlung über das Erbrecht eine Art geistigen Zweikampfes zwischen Bakunin und Marx gewesen war, hatte sie zwar keine Entscheidung gebracht, jedoch einen für Marx eher ungünstigen als günstigen Verlauf genommen. Wenn daraus aber gefolgert worden ist, dadurch sei Marx schwer getroffen worden und habe nun zu einem gewaltigen Schlage gegen Bakunin ausgeholt, so stimmt diese Behauptung nicht mit den Tatsachen.

Marx war mit dem Verlaufe des Baseler Kongresses ganz zufrieden. Er befand sich gerade mit seiner Tochter Jenny auf einer Erholungsreise in Deutschland und schrieb am 25. September aus Hannover an seine Tochter Laura: »Ich freue mich, daß der Baseler Kongreß vorüber und daß er verhältnismäßig so gut verlaufen ist. Ich bin immer in Sorge bei solcher öffentlichen Schaustellung der Partei ›mit allen ihren Geschwüren‹. Keiner der Akteure war à la hauteur des principes [Mehring übersetzt: auf der Höhe der Prinzipien], aber der Idiotismus der oberen Klassen macht die Fehler der arbeitenden Klasse wieder gut. Wir sind durch keine noch so kleine deutsche Stadt gekommen, deren Winkelblatt nicht voll von den Taten dieses ›schrecklichen Kongresses‹ gewesen wäre.«

Sowenig Marx durch den Verlauf des Baseler Kongresses enttäuscht worden ist, sowenig ist es Bakunin gewesen. Man hat gesagt, er habe |429| durch seinen Antrag in der Erbschaftsfrage Marx schlagen und durch diesen theoretischen Sieg die Übersiedelung des Generalrats von London nach Genf bewirken wollen; als ihm das mißlungen sei, habe er in der »Égalité« um so heftiger auf den Generalrat losgeschlagen. Diese Behauptungen sind so oft wiederholt worden, daß sie sich zu einer förmlichen Legende verdichtet haben. Gleichwohl ist kein wahres Wort daran. Nach dem Baseler Kongreß hat Bakunin überhaupt keine Zeile für die »Égalité« geschrieben; vor dem Baseler Kongreß, im Juli und August 1869, war er allerdings ihr Hauptredakteur, aber man wird in der langen Reihe von Artikeln, die er in ihr veröffentlicht hat, vergebens nach einer Spur gehässiger Gesinnung gegen den Generalrat oder Marx suchen. Im besonderen waren vier Artikel über die »Grundsätze der Internationalen« ganz in dem Geiste verfaßt, worin der große Bund gegründet worden war; wenn Bakunin darin gewisse Bedenken gegen den verhängnisvollen Einfluß dessen, was Marx »parlamentarischen Kretinismus« nannte, auf proletarische Volksvertreter äußerte, so sind diese Bedenken erstens seitdem oft genug bestätigt worden, und zweitens waren sie sehr harmlos, verglichen mit den heftigen Vorstößen, die Liebknecht gleichzeitig gegen die Beteiligung der Arbeiterklasse am bürgerlichen Parlamentarismus richtete.

Ferner mochte Bakunins Auffassung der Erbschaftsfrage noch so sehr Schrulle sein, so durfte er doch ihre Diskussion beanspruchen; auf den Kongressen der Internationalen sind noch viel ärgere Schrullen diskutiert worden, ohne daß ihren Bekennern deshalb hinterhältige Absichten unterstellt worden wären. Die Beschuldigung aber, daß Bakunin die Übersiedelung des Generalrats von London nach Genf geplant habe, hat er, als sie gegen ihn laut wurde, mit den kurzen und schlagenden Worten abgetan: »Wäre ein solcher Vorschlag laut geworden, so würde ich der erste gewesen sein, ihn mit aller möglichen Energie zu bekämpfen; so sehr würde er mir für die Zukunft der Internationalen als verhängnisvoll erschienen sein. Die Genfer Sektionen haben zwar, in sehr kurzer Zeit, ungeheure Fortschritte gemacht. Aber in Genf herrscht noch ein zu enger, zu spezifisch Genferischer Geist, als daß der Generalrat der Internationalen dorthin verpflanzt werden könnte. Zudem liegt es auf der Hand, daß, solange die gegenwärtige politische Organisation Europas dauert, London der einzige Platz sein wird, der für den Generalrat paßt, und man müßte wahrhaftig ein Narr oder ein Feind der Internationalen sein, wenn man versuchen wollte, ihn anderswohin zu verlegen.«

Nun gibt es Leute, die Bakunin für einen Lügner von Anbeginn halten und seine Äußerung für eine nachträgliche Ausrede erklären werden |430|*. Aber auch dieser etwaige Einwand fällt platt zu Boden, angesichts der Tatsache, daß Bakunin sich schon vor dem Baseler Kongreß entschieden hatte, nach dem Kongresse aus Genf nach Locarno überzusiedeln, und zwar aus zwingenden Gründen, die zu ändern gar nicht in seiner Macht stand. Er befand sich in der äußersten ökonomischen Bedrängnis und stand vor der Entbindung seiner Frau, die er in Locarno abwarten wollte. Er selbst beabsichtigte, dort den ersten Band des »Kapitals« ins Russische zu übersetzen. Ein junger Verehrer, Namens Lubawin, hatte einen russischen Verleger veranlaßt, für die Übersetzung ein Honorar von 1.200 Rubeln auszuwerfen, von denen Bakunin 300 als Vorschuß erhielt.

Sosehr damit alle angeblichen Intrigen, die Bakunin vor oder nach dem Baseler Kongreß gesponnen haben soll, in Nichts zerfallen, so hatte er allerdings einen bitteren Nachgeschmack von diesem Kongreß. Beeinflußt durch Borkheims Hetzereien, hatte Liebknecht vor Dritten die Äußerung getan, er habe Beweise dafür, daß Bakunin ein Agent der russischen Regierung sei, und Bakunin hatte in Basel den Zusammentritt eines Ehrengerichts veranlaßt, vor dem Liebknecht seine Beschuldigung begründen sollte. Das konnte Liebknecht nicht, und das Ehrengericht sprach einen scharfen Tadel über ihn aus. Dadurch ließ sich Liebknecht, der nach den Erfahrungen des Kölner Kommunistenprozesses und der Emigrantenzeit ein wenig leicht geneigt war, Spitzel zu wittern, nicht abhalten, dem Gegner die versöhnende Hand zu reichen, in die Bakunin ebenso ehrlich einschlug.

Um so mehr mußte es ihn erbittern, daß schon wenige Wochen später, am 2. Oktober, Moses Heß im Pariser »Reveil« mit dem alten Klatsch wieder angezogen kam. Heß, der als deutscher Delegierter in Basel gewesen war, wollte die geheime Geschichte des Kongresses geben; in diesem Zusammenhange erzählte er von den »Intrigen« Bakunins, die darauf abgezielt hätten, die prinzipiellen Grundlagen der Internationalen umzustürzen und den Generalrat von London nach Genf zu verlegen, aber die in Basel gescheitert seien, und schloß mit der nichtsnutzigen Verdächtigung, er wolle keineswegs die revolutionäre Gesinnung Bakunins anzweifeln, aber dieser Russe sei ein naher Verwandter Schweitzers, der eben in Basel von den deutschen Delegierten als überführter Agent der deutschen Regierung angeklagt worden war. Die gehässige Absicht dieser Denunziation sprang um so mehr in die Augen, als eine »nahe Verwandtschaft« zwischen der Agitation Bakunins und der Agitation Schweitzers zu entdecken unmöglich war. Auch persönlich hatten beide Männer nie die geringsten Berührungspunkte gehabt.

|431| Sicherlich hätte Bakunin klüger daran getan, den auch sonst ganz abgeschmackten Artikel nicht weiter zu beachten. Aber man kann es verstehen, daß er über die ewigen Anzweiflungen seiner politischen Ehrlichkeit nachgerade wütend wurde, und zwar um so mehr, je hämischer sie hintenherum gemacht wurden. Er setzte sich also hin und schrieb eine Erwiderung; sie fiel aber in der ersten Hitze so lang aus, daß er selbst einsah, der »Reveil« könne sie nicht aufnehmen. Es ging darin besonders heftig gegen die »deutschen Juden« her, wobei Bakunin jedoch »Riesen«, wie Lassalle und Marx, von dem Pygmäengeschlechte der Borkheim und Heß ausnahm. Bakunin entschloß sich, diese lange Auseinandersetzung als Einleitung zu einer größeren Schrift über sein revolutionäres Glaubensbekenntnis zu verwenden und schickte sie nach Paris an Herzen mit der Anfrage nach einem Verleger; für den »Reveil« fügte er eine kürzere Erklärung bei. Auch von dieser fürchtete Herzen noch, daß sie vom »Reveil« abgelehnt werden würde; er schrieb selbst eine Verteidigung Bakunins gegen Heß, die der Reveil« nicht nur aufnahm, sondern mit einer redaktionellen Nachschrift versah, die Bakunin vollkommen befriedigte.

Ganz und gar nicht zufrieden war Herzen aber mit dem größeren Manuskripte. Er mißbilligte die Ausfälle gegen die »deutschen Juden«, und war namentlich erstaunt, daß Bakunin sich mit so wenig bekannten Leuten, wie Borkheim und Heß, einließe, statt Marx vor die Klinge zu nehmen. Darauf erwiderte Bakunin am 28. Oktober, er halte Marx zwar auch für den Urheber dieser Polemiken, aber aus zwei Gründen habe er ihn geschont und selbst einen »Riesen« genannt. Der erste dieser Gründe sei die Gerechtigkeit. »Beiseite lassend alle schlechten Streiche, die er uns gespielt hat, dürfen wir, oder mindestens ich, die ungeheuren Dienste nicht verkennen, die er der Sache des Sozialismus geleistet hat, der er seit nahe an fünfundzwanzig Jahre mit Einsicht, Tatkraft und Reinheit dient, worin er uns alle unzweifelhaft übertroffen hat. Er ist einer der ersten Gründer und sicherlich der Hauptgründer der Internationalen gewesen, und das ist in meinen Augen ein ungeheures Verdienst, das ich stets anerkennen werde, was immer er gegen uns getan haben mag.«

Dann aber seien für ihn auch politische und taktische Gründe maßgebend gewesen gegenüber Marx, »der mich nicht leiden kann und niemanden liebt als sich selbst und vielleicht seine Nächsten. Marx wirkt unleugbar sehr nützlich in der Internationalen. Bis auf den heutigen Tag übt er auf seine Partei einen weisen Einfluß aus und ist die festeste Stütze des Sozialismus, das stärkste Bollwerk gegen das Eindringen bürgerlicher Absichten und Gedanken. Und ich würde mir niemals verzeihen |432|*, wenn ich bloß versucht hätte, seinen wohltätigen Einfluß auszurotten oder auch nur zu schwächen, zu dem einfältigen Zwecke, mich an ihm zu rächen. Indessen könnte es kommen, und sogar binnen kurzer Frist, daß ich einen Streit mit ihm anfinge, wohlverstanden, nicht um ihn persönlich anzugreifen, sondern um einer Prinzipienfrage willen, wegen des Staatskommunismus, dessen glühendste Anhänger er und die Engländer und Deutschen sind, die er leitet. Das würde ein Kampf auf Leben und Tod werden. Aber alles hat seine Zeit, und die Stunde dieses Kampfes hat noch nicht geschlagen.«

In letzter Reihe führt Bakunin dann einen taktischen Beweggrund an, der ihn hindere, Marx anzugreifen. Ginge er gegen diesen offen vor, so würden die Mitglieder der Internationalen zu drei Vierteln gegen ihn sein. Umgekehrt würde die Mehrheit für ihn sein, wenn er gegen das Bettelvolk vorginge, das sich um Marx schare, und dieser würde selbst seinen Spaß daran haben, oder seine »Schadenfreude«, wie sich Bakunin mit dem deutschen Worte in dem französisch geschriebenen Briefe ausdrückt.

Gleich nach diesem Briefe siedelte Bakunin nach Locarno über. Beansprucht durch seine persönlichen Angelegenheiten, hatte er in den wenigen Wochen, die er nach dem Baseler Kongreß noch in Genf lebte, sich an der dortigen Arbeiterbewegung so gut wie gar nicht mehr beteiligt, namentlich keine Zeile mehr für die »Égalité« geschrieben. Sein Nachfolger in der Redaktion wurde Robin, ein belgischer Lehrer, der erst das Jahr vorher nach Genf übersiedelt war, und neben diesem etwa noch Perron, derselbe Emailmaler, der schon vor Bakunin das Blatt redigiert hatte. Beide waren Gesinnungsgenossen Bakunins, handelten und sprachen aber keineswegs in seinem Sinne. Bakunin war bestrebt gewesen, die Arbeiter der gros métiers, in denen der proletarisch-revolutionäre Geist viel lebendiger war als in den Arbeitern der fabrique, aufzuklären und zu selbsttätigem Handeln aufzumuntern, im Gegensatz sogar zu ihren eigenen Komitees - was Bakunin über die objektiven Gefahren einer solchen »Instanzenpolitik«, wie wir heute sagen würden, auszuführen wußte, ist heute noch sehr lesenswert -, geschweige denn im Gegensatze zur fabrique, die die gros métiers in deren Streiks unterstützt hatte, aber aus diesem unbestreitbaren Verdienste die unberechtigte Schlußfolgerung zog, daß ihr die gros métiers auf Schritt und Tritt folgen müßten. Diese Tendenzen hatte Bakunin bekämpft, namentlich auch mit Rücksicht auf die unausrottbare Neigung der fabrique zu Bündnissen mit dem bürgerlichen Radikalismus; Robin und Perron aber glaubten, den Gegensatz zwischen der fabrique und den gros métiers, der nicht von Bakunin geschaffen worden war, sondern in einem sozialen |433| Gegensatze wurzelte, übertünchen und verkleistern zu können. Dadurch gerieten sie in ein Schaukelsystem, das weder der fabrique noch den gros métiers genug tat, wohl aber allen möglichen Intrigen Tür und Tor öffnete.

Ein Meister solcher Intrigen war ein russischer Flüchtling, der damals in Genf lebte, namens Nikolas Utin. Er hatte in den russischen Studentenunruhen im Anfange der sechziger Jahre mitgetan, war dann aber, als die Sache brenzlich wurde, ins Ausland geflüchtet, und lebte hier bequem von einer namhaften Jahresrente - zwölf- bis fünfzehntausend Franken werden genannt -, die er aus dem Schnapshandel seines Vaters bezog. Hierdurch gewann der eitle und schwatzschweifige Patron eine Position, die er mit seinen geistigen Fähigkeiten nie hätte gewinnen können; Erfolge blühten ihm nur auf dem Terrain des Privatklatsches, wo, wie Engels einmal sagt, »Leute, die etwas zu tun haben, denen, die den ganzen Tag zum Klüngeln haben, nie gewachsen sind«. An Bakunin hatte Utin sich anfangs herangedrängt, war aber bei diesem gründlich abgefallen, und so bot ihm Bakunins Entfernung aus Genf eine um so günstigere Gelegenheit, den grimmig gehaßten Mann auf dem Wege des Privatklatsches zu verfolgen. Für dies edle Ziel hat er denn auch nicht vergebens seinen Schweiß vergossen, worauf er sich, demütig um Gnade flehend, zu den Füßen des Zaren warf. Der war seinerseits nicht unversöhnlich, und Utin gedieh im russisch-türkischen Kriege von 1877 zum zarischen Kriegslieferanten, wodurch er vermutlich noch reicheren, aber sicherlich nicht reinlicheren Mammon gewann als aus dem väterlichen Schnapshandel.

Mit Leuten wie Robin und Perron, hatte Utin um so leichteres Spiel, als sie in der Tat bei aller Ehrlichkeit ein unglaubliches Ungeschick bekundeten. Zu allem Überfluß begannen sie einen Krakeel mit dem Generalrat der Internationalen und zwar wegen Fragen, die den Arbeitern der französischen Schweiz wirklich nicht auf den Fingern brannten. Die »Égalité« beschwerte sich, daß der Generalrat sich zu sehr für die irische Frage interessiere, daß er keinen Föderalrat für England einrichte, daß er den Streit zwischen Liebknecht und Schweitzer nicht entscheide usw. Bakunin hatte mit alledem nichts zu tun, und der falsche Schein, als ob er diese Angriffe billige oder gar angeregt habe, konnte nur dadurch entstehen, daß Robin und Perron zu seinen Anhängern zählten und James Guillaumes Blättchen in dieselbe Kerbe hieb.

In einem privaten, vom 1. Januar 1870 datierten Rundschreiben, das außer nach Genf nur noch an die Föderalräte französischer Zunge versandt wurde, tat der Generalrat die Angriffe Robins ab. Scharf in der |434| Form, hielt dies Schreiben durchaus die Grenzen sachlicher Auseinandersetzung inne. Bemerkenswert daraus sind heute noch die Gründe, aus denen der Generalrat sich weigerte, einen englischen Föderalrat einzusetzen. Er führte aus, daß, obgleich die revolutionäre Initiative wahrscheinlich von Frankreich ausgehen werde, doch England allein als Hebel für eine ernsthafte ökonomische Revolution dienen könne. Es sei das einzige Land, wo es keine Bauern mehr gebe und wo der Grundbesitz in wenigen Händen konzentriert sei. Es sei das einzige Land, wo die kapitalistische Form sich fast der ganzen Produktion bemächtigt habe, wo die große Masse der Bevölkerung aus Lohnarbeitern bestehe. Es sei das einzige Land, wo der Klassenkampf und die Organisation der Arbeiterklasse durch die Trade Unions einen gewissen Grad der Allgemeinheit und der Reife erlangt habe. Endlich wirke, dank seiner Herrschaft auf dem Weltmarkte, jede Revolution seiner ökonomischen Verhältnisse unmittelbar auf die ganze Welt zurück.

Wenn somit die Engländer alle notwendigen materiellen Vorbedingungen der sozialen Revolution besäßen, so fehle ihnen doch der Geist der Verallgemeinerung und die revolutionäre Leidenschaft. Ihnen diesen Geist und diese Leidenschaft einzuflößen, sei die Aufgabe des Generalrats, und daß er ihr gerecht würde, zeige die Klage der angesehensten bürgerlichen Blätter in London darüber, daß er den englischen Geist der Arbeiterklasse vergifte und diese zum revolutionären Sozialismus dränge. Ein englischer Föderalrat würde zwischen dem Generalrat der Internationalen und dem Generalrat der Trade Unions kein Ansehen genießen, dagegen würde der Generalrat seinen Einfluß auf den großen Hebel der proletarischen Revolution verlieren. Er lehne die Torheit ab, diesen Hebel in englische Hände fallen zu lassen und an die Stelle ernster und ungesehener Arbeit die laute Marktschreierei zu setzen.

Ehe noch dies Rundschreiben an seine Adresse gelangte, war in Genf selbst die Katastrophe ausgebrochen. In dem Redaktionskomitee der »Égalité« gehörten sieben Mitglieder zu den Anhängern Bakunins und nur zwei zu seinen Gegnern; wegen eines ganz nebensächlichen, politisch gleichgültigen Zwischenfalls stellte die Mehrheit die Kabinettsfrage, aber nunmehr zeigte sich, daß Robin und Perron sich mit ihrer schwankenden Politik zwischen zwei Stühle gesetzt hatten. Die Minderheit wurde durch den Föderalrat gedeckt, und die sieben Mitglieder der Mehrheit schieden aus, unter ihnen auch der alte Becker, der, solange Bakunin in Genf lebte, mit diesem gute Freundschaft gehalten, aber in dem Treiben der Robin und Perron manches Haar gefunden hatte. Die Leitung der »Égalité« geriet danach in die Hände Utins.

7. Die Konfidentielle Mitteilung

|435| Inzwischen setzte Borkheim seine Hetzereien gegen Bakunin fort.

Am 18. Februar beklagte er sich bei Marx, daß die »Zukunft«, das Organ Johann Jacobys, einen, wie Marx an Engels schrieb, »Monsterbrief über Russica, ein unsägliches vom Hundertsten ins Tausendste überpurtelndes Sammelsurium« nicht habe aufnehmen wollen. Zugleich verdächtigte Borkheim auf die Autorität Katkows hin, der in seiner Jugend zu den Gesinnungsgenossen Bakunins gehört, aber sich dann auf die reaktionäre Seite geschlagen hatte, Bakunin »wegen gewisser Geldgeschichten«, worauf Marx keinen Wert legte und ebensowenig Engels, der mit philosophischer Gelassenheit bemerkte: »Die Geldpumperei ist ein zu gewöhnliches russisches Lebensmittel, als daß ein Russe dem andern darüber Vorwürfe machen sollte.« In unmittelbarem Anschluß an seine Mitteilungen über Borkheims Hetzereien schrieb Marx, der Generalrat solle darüber entscheiden, ob ein gewisser Richard, der sich später wirklich als falscher Bruder entpuppt hat, in Lyon mit Recht aus der Internationalen ausgeschlossen worden sei, und fügte hinzu, außer seinem sklavischen Anschluß an Bakunin und einer damit verbundenen Überweisheit wisse er nicht, was dem Richard vorzuwerfen sei. »Es scheint, daß unser letztes Rundschreiben viel Sensation gemacht hat und in Schweiz wie Frankreich eine Hetzjagd auf die Bakunisten eingetreten ist. Doch est modus in rebus [Mehring übersetzt: es ist ein Maß in den Dingen], und ich werde dafür sorgen, daß kein Unrecht passiert.«

In schroffem Gegensatze zu dieser guten Absicht stand eine Konfidentielle Mitteilung [5], die Marx wenige Wochen später, am 28. März, durch Vermittlung Kugelmanns an den Braunschweiger Vorstand der Eisenacher richtete. Ihren Kern bildete das Rundschreiben des Generalrats vom 1. Januar, das nur für Genf und die Föderalräte französischer Zunge bestimmt gewesen war, seinen praktischen Zweck inzwischen längst erreicht, und darüber hinaus jene »Hetzjagd« auf die Bakunisten erregt hatte, die Marx mißbilligte. Weshalb er dies Rundschreiben nun noch trotz dieser unliebsamen Erfahrung nach Deutschland sandte, war vorab nicht einzusehen, da es in Deutschland überhaupt keine Anhänger Bakunins gab.

Viel unverständlicher noch war, daß Marx in seiner Konfidentiellen Mitteilung dem Rundschreiben eine Einleitung und ein Schlußwort mit auf den Weg gab, die weit mehr geeignet waren, eine »Hetzjagd« namentlich, gegen Bakunin anzufeuern. Die Einleitung begann mit bitteren |436| Vorwürfen an die Adresse Bakunins, der sich erst in die Friedens- und Freiheitsliga einzuschmuggeln versucht habe, in deren Vollziehungsausschuß er jedoch als »russisch verdächtig« überwacht worden sei. Nachdem er bei dieser Liga mit seinen programmatischen Absurditäten abgeblitzt sei, habe er sich der Internationalen angeschlossen, um sie zu seinem Privatwerkzeuge zu machen. Zu diesem Zwecke habe er die Allianz der sozialistischen Demokratie gegründet. Nachdem der Generalrat sich geweigert habe, diese anzuerkennen, habe sie sich nominell aufgelöst, bestünde aber faktisch unter der Leitung Bakunins fort, der nun auf anderem Wege seinen Zweck zu erreichen gesucht habe. Er habe die Erbschaftsfrage auf das Programm des Baseler Kongresses setzen lassen, um den Generalrat theoretisch zu schlagen und damit dessen Übersiedelung nach Genf anzubahnen. Bakunin habe »eine förmliche Konspiration« ins Werk gesetzt, um sich eine Mehrheit auf dem Baseler Kongreß zu sichern, doch habe er seine Vorschläge nicht durchgedrückt, und der Generalrat sei in London geblieben. »Der Ärger über diesen Fehlschlag - mit dessen Gelingen Bakunin vielleicht allerlei Privatspekulationen verknüpft hatte -« [6] habe sich dann in den Angriffen der »Égalité« auf den Generalrat kundgetan, worauf dieser in seinem Rundschreiben von 1. Januar geantwortet habe.

Marx schaltete nun dies Rundschreiben wörtlich in die Konfidentielle Mitteilung ein und fuhr dann fort, schon vor dessen Eintreffen in Genf sei die Krise eingetreten; der romanische Förderalrat habe die Angriffe der »Égalité« auf den Generalrat mißbilligt und werde das Blatt unter strenger Aufsicht halten, worauf sich Bakunin von Genf in den Tessin zurückgezogen habe. »Bald darauf starb Herzen. Bakunin, der seit der Zeit, wo er als Lenker der europäischen Arbeiterbewegung sich aufwerfen wollte, seinen alten Freund und Patron Herzen verleugnet hatte, stieß sofort nach dessen Tode in die Lobesposaune. Warum? Herzen, trotz seines persönlichen Reichtums, ließ sich jährlich 25.000 Francs für Propaganda von der ihm befreundeten pseudo-sozialistischen, panslawistischen Partei in Rußland zahlen. Durch sein Lobesgeschrei hat Bakunin diese Gelder auf sich gelenkt und damit die ›Erbschaft Herzens‹, - malgre sa haine de l'héritage - [Mehring übersetzt: so sehr er die Vererbung haßt], ... sine beneficio inventarii [von Mehring übersetzt: ohne Vorbehalt] angetreten.«[7] Indessen habe sich in Genf eine junge russische Flüchtlingskolonie angesiedelt, Studenten, die es wirklich ehrlich meinten und die Bekämpfung des Panslawismus als Hauptpunkt in ihr Programm aufgenommen hätten. Sie hätten sich als Zweig der Internationaler angemeldet und Marx zu ihrem vorläufigen Vertreter im Generalrat |437| vorgeschlagen, was beides genehmigt worden sei. Sie hätten zugleich erklärt, daß sie nächstens dem Bakunin öffentlich die Maske abreißen würden; so werde das Spiel dieses höchst gefährlichen Intriganten, wenigstens auf dem Gebiete der Internationalen, bald ausgespielt sein. Damit schloß die Konfidentielle Mitteilung.

Es erübrigt, die zahlreichen Irrtümer aufzuzählen, die sie über Bakunin enthält. Die Vorwürfe, die sie gegen diesen erhebt, sind im allgemeinen um so grundloser, je belastender sie zu sein scheinen. Das gilt namentlich von dem Vorwurfe der Erbschleicherei. Es hat niemals eine pseudo-sozialistische panslawistische Partei in Rußland gegeben, die an Herzen jährlich 25.000 Franken Propagandagelder gezahlt hätte; der winzige Kern dieser Fabel war, daß ein junger Sozialist Batmetjew in den fünfziger Jahren einen Revolutionsfonds von 20.000 Franken gestiftet hatte, den Herzen verwaltete. Daß Bakunin je ein Gelüste danach verraten hätte, diesen Fonds in seine persönliche Tasche zu stecken, ist durch nichts erwiesen und kann am wenigsten durch den herzlichen Nachruf erwiesen werden, den er in der »Marseillaise« Rocheforts dem politischen Gegner gewidmet hatte, der sein Jugendfreund gewesen war. Höchstens könnte man ihm deshalb den Vorwurf der Sentimentalität machen wie denn überhaupt alle Fehler und Schwächen Bakunins, soviel er ihrer haben mochte, so ziemlich das gerade Gegenspiel der Eigenschaften waren, die einen »äußerst gefährlichen Intriganten« ausmachen.

Wodurch Marx in diese Irrtümer versetzt worden ist, geht schon aus den Schlußsätzen der Konfidentiellen Mitteilung hervor. Sie waren ihm von dem russischen Flüchtlingskomitee in Genf mitgeteilt worden. Will sagen von Utin oder durch dessen Vermittlung von Becker. Wenigstens scheint aus einer brieflichen Mitteilung Marxens an Engels hervorzugehen, daß er die schlimmste Verdächtigung Bakunins, die Erbschleicherei an Herzen, von Becker erhalten hat. Damit will dann freilich nicht stimmen, daß Becker in einem gleichzeitigen Briefe an Jung, der sich erhalten hat, zwar sehr über die Verworrenheit der Genfer Zustände, über die Gegensätze zwischen der fabrique und den gros métiers, über »nervenschwache Blendlichter wie Robin, und harte Querköpfe wie Bakunin«, klagt, schließlich aber doch gerade von diesem rühmt, er sei »besser und brauchbarer geworden, als er war«. Die Briefe Beckers und der russischen Flüchtlingskolonie an Marx selbst sind nicht erhalten; in seiner offiziellen wie in seiner privaten Antwort an den neuen Zweig der Internationalen hielt Marx für sicherer, kein Wort von Bakunin zu sagen; er empfahl der russischen Sektion als Hauptaufgabe, für Polen zu arbeiten, das heißt Europa von ihrer eigenen Nachbarschaft zu befreien |438|*. Er empfand es nicht ohne Humor, Vertreter des jungen Rußlands zu sein, und meinte, der Mensch wisse nie, in welche seltsame Kameradschaft er geraten könne.

Trotz dieser scherzhaften Wendung ist es für Marx augenscheinlich eine große Genugtuung gewesen, daß die Internationale unter den russischen Revolutionären ihre Anker zu werfen begann. Es ist sonst nicht zu verstehen, daß er dem ihm noch ganz unbekannten Utin ähnliche Verdächtigungen gegen Bakunin glaubte, wie er sie abgewehrt hatte, solange sie von seinem alten Freunde Borkheim vorgebracht wurden. Ein merkwürdiger Zufall wollte, daß sich Bakunin zu gleicher Zeit von einem russischen Flüchtling, weil er in ihm eine Schwalbe der kommenden russischen Revolution sah, irreführen und sogar in ein Abenteuer verstricken ließ, das für seinen Ruf bedenklicher werden sollte als irgendein anderer Zwischenfall seines bewegten Lebens.

Ein paar Tage, nachdem die Konfidentielle Mitteilung geschrieben worden war, trat der zweite Jahreskongreß der romanischen Föderation am 4. April in La Chaux-de-Fonds zusammen. Hier kam es zum offenen Bruch. Die Genfer Sektion der Allianz, die bereits durch den Generalrat in die Internationale aufgenommen worden war, verlangte ihre Aufnahme in die romanische Föderation und die Teilnahme ihrer beiden Delegierten an den Beratungen des Kongresses. Dem widersetzte sich Utin unter heftigen Angriffen auf Bakunin, als dessen Intrigiermaschine er die Genfer Sektion der Allianz denunzierte, fand aber einen entschlossenen Gegner in Guillaume, der, ein engbrüstiger Fanatiker, sich namentlich in späteren Jahren an Marx nicht weniger versündigt hat als Utin an Bakunin, aber immerhin nach Bildung und Fähigkeit ein anderer Mann war als sein armseliger Gegner. Er siegte denn auch mit einer Mehrheit von 21 gegen 18 Stimmen. Jedoch die Minderheit weigerte sich, den Willen der Mehrheit anzuerkennen und spaltete den Kongreß. Nun tagten zwei Kongresse nebeneinander; der Mehrheitskongreß beschloß, den Sitz des Föderalrats von Genf nach La Chaux-de-Fonds zu verlegen und zum Organ des Verbandes die »Solidarité« zu erheben, die Guillaume in Neuenburg herausgeben sollte.

Die Minderheit stützte ihre Obstruktion darauf, daß es sich um ein reine Zufallsmehrheit handle, da nur fünfzehn Sektionen in La Chaux-de-Fonds vertreten gewesen seien, während Genf allein deren dreißig zähle, die alle oder fast alle die Sektion der Allianz nicht in der romanischen Föderation haben wollten. Die Mehrheit dagegen pochte darauf, daß eine Sektion, die vom Generalrat zugelassen worden sei, nicht von einem Föderalrat abgewiesen werden könne. Der alte Becker meinte im |439| »Vorboten«, es sei ein ärgerlicher Krakeel um nichts und wieder nichts, der nur durch einen Mangel an brüderlicher Gesinnung auf beiden Seiten verschuldet worden sei. Die Sektion der Allianz, die es wesentlich auf prinzipielle Propaganda abgesehen habe, könne darauf verzichten, in einen nationalen Verband aufgenommen zu werden, zumal da sie einmal als Intrigiermaschine Bakunins gelte, der in Genf längst unbeliebt geworden sei. Aber wenn sie gleichwohl aufgenommen werden wolle, so sei es engherzig und kindisch, sie abzuweisen oder ihre Aufnahme zum Anlaß einer Spaltung zu machen.

So einfach wie Becker meinte, lag die Sache nun aber doch nicht. Die Beschlüsse, die die beiden getrennten Kongresse faßten, berührten sich zwar noch mannigfach, unterschieden sich aber gerade in der entscheidenden Frage, dem Gegensatz, aus dem die Genfer Wirren entstanden waren. Der Mehrheitskongreß vertrat den Standpunkt der gros métiers, er verzichtete auf jede Politik, die lediglich die soziale Umgestaltung durch nationale Reformen bezwecke, denn jeder politisch organisierte Staat sei nichts weiter als ein Mittel zur kapitalistischen Ausbeutung auf Grund des bürgerlichen Rechts, deshalb diene jede Beteiligung des Proletariats an der bürgerlichen Politik zur Befestigung des heutigen Systems und lähme die revolutionäre proletarische Aktion. Dagegen vertrat der Minderheitskongreß den Standpunkt der fabrique; er bekämpfte die politische Enthaltung als Schädigung der Arbeiterbewegung und empfahl die Beteiligung an den Wahlen, nicht weil auf diesem Wege die Emanzipation der Arbeiterklasse erreicht werden könne,sondern weil die parlamentarische Arbeitervertretung ein agitatorisches Propagandamittel sei, das in taktischer Hinsicht nicht vernachlässigt werden dürfe.

Der neue Föderalrat in La Chaux-de-Fonds beanspruchte nun vom Generalrat seine Anerkennung als Leiter der romanischen Föderation. Der Generalrat entsprach jedoch diesem Ansuchen nicht, sondern verfügte am 28. Juni, daß der Genfer Föderalrat, hinter dem die Mehrzahl der Genfer Sektionen stehe, in seinen bisherigen Funktionen aufrechterhalten werde, der neue Föderalrat dagegen irgendeinen örtlichen Namen anzunehmen habe. Dieser Entscheidung, die billig genug und zudem von ihm selbst herausgefordert worden war, fügte sich jedoch der neue Föderalrat nicht, sondern erhob lebhaft Klage über die Herrschsucht, den »Autoritarismus« des Generalrats, womit das zweite Stichwort - neben der politischen Enthaltung - für die Opposition innerhalb der Internationalen gegeben war.

Der Generalrat seinerseits brach nunmehr jede Verbindung mit dem Föderalrat in La Chaux-de-Fonds ab.

8. Irische Amnestie und französisches Plebiszit

|440| Der Winter von 1869 auf 1870 war für Marx wieder eine Zeit mannigfacher körperlicher Beschwerden, aber die ewigen Geldsorgen war er nun wenigstens los. Am 30. Juni 1869 hatte sich Engels von dem »hündischen Kommerz« frei gemacht und schon ein halbes Jahr vorher bei Marx angefragt, ob dieser mit 350 Pfund jährlich auskommen könne; Engels wollte dann mit seinem Sozius so abschließen, daß er diese Summe auf fünf bis sechs Jahre für Marx abstoßen könne. Wie das Abkommen schließlich getroffen worden ist, geht aus dem Briefwechsel beider Männer nicht hervor; jedenfalls aber hat Engels nicht nur fünf oder sechs Jahre, sondern bis an den Tod seines Freundes dessen ökonomische Lage völlig sichergestellt.

Politisch beschäftigten sich beide in dieser Zeit viel mit der irischen Frage. Engels trieb eingehende Studien über ihren geschichtlichen Zusammenhang, deren Früchte leider nicht veröffentlicht worden sind, und Marx machte den Generalrat der Internationalen scharf für die irische Bewegung, die die Amnestie der formlos verurteilten und im Zuchthaus infam behandelten Fenier verlangte. Der Generalrat drückte der festen, hochherzigen und mutigen Art, in der das irische Volk diese Bewegung betreibe, seine Bewunderung aus und brandmarkte die Politik Gladstones, der trotz aller bei den Wahlen gemachten Versprechungen die Amnestie verweigere oder an Bedingungen knüpfe, die die Opfer der Mißregierung und das irische Volk beleidigten; in schärfster Weise wurde dem leitenden Minister vorgehalten, daß er, nachdem er trotz seiner verantwortlichen Stellung der Rebellion der amerikanischen Sklavenhalter seinen begeisterten Beifall gespendet habe, nunmehr dem englischen Volke die Doktrin der Unterwerfung predige, daß sein ganzes Verhalten in der Frage der irischen Amnestie ein echtes und wahres Produkt jener »Eroberungspolitik« sei, durch deren flammende Brandmarkung Gladstone seine Toryrivalen von der Regierung verdrängt habe. Er habe Gladstone jetzt ebenso angegriffen wie ehedem Palmerston, schrieb Marx an Kugelmann; »die hiesigen demagogischen refugees [Mehring übersetzt: Flüchtlinge] lieben es, über die kontinentalen Despoten von sicherer Entfernung aus herzufallen. Dergleichen hat für mich nur Reiz, wenn es vultu instantis tyranni [Mehring übersetzt: dem Tyrannen ins Angesicht] geschieht.«

Eine besondere Freude war es für Marx, daß seine älteste Tochter in diesem irischen Feldzuge einen großen Erfolg davontrug. Da die englische Presse die an den gefangenen Feniern verübten Schändlichkeiten |441| hartnäckig totschwieg, so sandte Jenny Marx unter dem Decknamen Williams, den ihr Vater in den fünfziger Jahren zu gebrauchen pflegte, einige Artikel an die »Marseillaise« Rocheforts, in denen sie mit glühenden Farben schilderte, wie politische Verbrecher in dem freien England behandelt würden. Diese Enthüllung in dem damals vielleicht gelesensten Blatt des Festlandes ertrug Gladstone nicht; wenige Wochen später waren die meisten gefangenen Fenier frei und auf dem Wege nach Amerika.

Die »Marseillaise« hatte sich ihren europäischen Ruf dadurch erworben, daß sie die kühnsten Vorstöße gegen das in allen Fugen krachende Kaiserreich richtete. Mit dem Beginn des Jahres 1870 hatte Bonaparte den letzten verzweifelten Versuch unternommen, sein blut- und schmutztriefendes Regiment durch Zugeständnisse an die Bourgeoisie zu retten, indem er den liberalen Schwätzer Ollivier zum leitenden Minister machte. Der versuchte es mit sogenannten »Reformen«, aber da die Katze nun einmal, selbst in Todesnot, das Mausen nicht lassen kann, so verlangte Bonaparte, daß diese »Reformen« die echt bonapartistische Weihe eines Plebiszits erhalten sollten. Ollivier war schwach genug, sich zu fügen, und empfahl den Präfekten sogar eine »verzehrende« Tätigkeit für das Gelingen des Plebiszits, Aber die bonapartische Polizei wußte besser als der eitle Schwätzer, wie man Plebiszite gelingen läßt; am Vorabend der großen Haupt- und Staatsaktion entdeckte sie ein angebliches Bombenkomplott, das namentlich von Mitgliedern der Internationalen gegen das Leben Bonapartes geplant worden sein sollte. Ollivier war feig genug, sich auch unter die Polizei zu ducken, zumal soweit es gegen Arbeiter ging; überall in Frankreich wurden die »Führer« der Internationalen, soweit sie als solche bekannt waren, mit Haussuchungen und Verhaftungen überfallen.

Der Generalrat beeilte sich, am 3. Mai einen Protest gegen den Schwindel zu erlassen, worin es hieß: »Unsere Statuten verpflichten alle Sektionen unserer Assoziation, öffentlich zu handeln. Wären die Statuten über diesen Punkt nicht klar, so würde dennoch das Wesen einer Assoziation, die sich mit der Arbeiterklasse selbst identifiziert, jede Möglichkeit der Form geheimer Gesellschaften ausschließen. Wenn die Arbeiterklassen konspirieren, die die große Masse jeder Nation bilden, die allen Reichtum erzeugen und in deren Namen selbst die usurpierenden Gewalten angeblich regieren, so konspirieren sie öffentlich, wie die Sonne gegen die Finsternis konspiriert, in dem vollen Bewußtsein, daß außerhalb ihres Bereichs keine legitime Macht besteht ... Die lärmenden Gewaltmaßregeln gegen unsere französischen Sektionen sind ausschließlich |442| berechnet, einem einzigen Zwecke zu dienen, der Manipulation des Plebiszits.«[8] So war es in der Tat, aber das nichtswürdige Mittel erreichte noch einmal seinen nichtswürdigen Zweck: das »liberale Kaiserreich« wurde durch 7 Millionen gegen 11/2 Millionen Stimmen eingeweiht.

Danach mußte man den Schwindel des Bombenkomplotts aber doch fallenlassen. Wenn die Polizei bei Mitgliedern der Internationalen ein chiffriertes Wörterbuch gefunden haben wollte, aus dem sie nichts entziffern konnte als einzelne Namen wie Napoleon, und einzelne chemische Ausdrücke wie Nitroglyzerin, so war dieser Blödsinn immerhin doch zu arg, als daß er selbst bonapartistischen Gerichtshöfen geboten werden durfte. Die Anklage schrumpfte deshalb auf dasselbe angebliche Vergehen zusammen, wegen dessen schon zweimal französische Mitglieder der Internationalen angeklagt und verurteilt worden waren: Teilnahme an geheimen oder unerlaubten Gesellschaften.

Nach einer glänzenden Verteidigung, die diesmal durch den Kupferschmied Chalain, ein späteres Mitglied der Pariser Kommune, geführt wurde, erfolgte am 9. Juli auch eine Anzahl von Verurteilungen, im Höchstmaße zu einem Jahr Gefängnis und einem Jahr Ehrverlust, doch gleichzeitig brach der Gewittersturm los, der das zweite Kaiserreich vom Erdboden fegte.


[1] Friedrich Engels: Revolution und Konterevolution in Deutschland, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 100. <=

[2] Karl Marx: Die belgischen Metzeleien, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 350. <=

[3] Karl Marx: Adresse an die Nationale Arbeiterunion der Vereinigten Staaten, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 355. <=

[4] Karl Marx: Bericht des Generalrats über das Erbrecht, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 367-369. <=

[5] Karl Marx: Konfidentielle Mitteilung, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 409-420. <=

[6] Karl Marx: Konfidentielle Mitteilung, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 412. <=

[7] Karl Marx: Konfidentielle Mitteilung, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 420. <=

[8] Karl Marx: [Proklamation des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation über die Verfolgungen der Mitglieder der französischen Sektionen], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 16, S. 422. <=


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