MLWerke | 13. Kapitel | Inhalt | 15. Kapitel | Franz Mehring

Seitenzahlen nach: Franz Mehring - Gesammelte Schriften, Band 3. Berlin/DDR, 1960, S. 443-508.
1. Korrektur
Erstellt am 30.10.1999

Franz Mehring: Karl Marx - Geschichte seines Lebens

Vierzehntes Kapitel: Der Niedergang der Internationalen


1. Bis Sedan

|443| Über die Stellung, die Marx und Engels zum Kriege eingenommen haben, ist sehr viel geschrieben worden, obgleich im Grunde sehr wenig darüber zu sagen ist. Sie sahen im Kriege ein Element, nicht wie Moltke, von Gottes Ordnung, wohl aber von Teufels Ordnung, eine unzertrennliche Begleiterscheinung der Klassen- und ganz besonders der kapitalistischen Gesellschaft.

Als historische Köpfe standen sie natürlich nicht auf dem völlig unhistorischen Standpunkt: Krieg ist Krieg, und jeder Krieg ist an derselben Schablone zu messen. Für sie hatte jeder Krieg seine bestimmten Voraussetzungen und Folgerungen, von denen es abhing, wie sich die Arbeiterklasse zu ihm zu stellen habe. So auch war die Auffassung Lassalles, mit dem sie im Jahre 1859 über die tatsächlichen Bedingungen des damaligen Krieges gestritten hatten, alle drei aber unter dem entscheidenden Gesichtspunkte, wie dieser Krieg am gründlichsten für den proletarischen Emanzipationskampf auszunutzen wäre.

Durch denselben Gesichtspunkt war ihre Stellung zum Kriege von 1866 bestimmt. Nachdem es der deutschen Revolution im Jahre 1848 mißlungen war, eine nationale Einheit zu schaffen, bemühte sich die preußische Regierung, die deutsche Einheitsbewegung, die durch die ökonomische Entwicklung immer wieder erweckt wurde, für sich auszubeuten und statt eines einigen Deutschlands ein, wie der alte Kaiser Wilhelm sich ausdrückte, verlängertes Preußen herzustellen. Marx und Engels, Lassalle und Schweitzer, Liebknecht und Bebel waren völlig einig darin, daß die deutsche Einheit, deren das deutsche Proletariat als einer Vorstufe seines Emanzipationskampfes bedurfte, nur durch eine nationale Revolution zu erlangen sei, und sie haben demgemäß alle dynastisch-partikularistischen Bestrebungen der großpreußischen Politik aufs schärfste bekämpft. Allein nachdem die Entscheidung bei Königgrätz gefallen war, haben sie, früher oder später, je nach dem Maß ihrer Einsicht in die »tatsächlichen Voraussetzungen«, in diesen sauren Apfel |444| gebissen: sobald sich herausstellte, daß eine nationale Revolution durch die Feigheit der Bourgeoisie und die Schwäche des Proletariats ausgeschlossen sei, und das mit »Blut und Eisen« zusammengekittete Großpreußen dem Klassenkampfe des Proletariats günstigere Aussichten bot, als die - ohnehin natürlich unmögliche - Wiederherstellung des Deutschen Bundestags mit seiner kläglichen Winkelwirtschaft ihm je hätte bieten können. Marx und Engels zogen diesen Schluß sofort, und ebenso Schweitzer als Nachfolger Lassalles; sie nahmen den Norddeutschen Bund in all seiner verkrüppelten und verkümmerten Gestalt als eine zwar keineswegs willkommene oder gar begeisternde, aber als eine Tatsache hin, die dem Kampf der deutschen Arbeiterklasse festere Handhaben schuf, als die schauerliche Wirtschaft des Bundestags ihm geschaffen hatte. Dagegen hielten Liebknecht und Bebel noch an der großdeutsch-revolutionären Auffassung der Lage fest und arbeiteten in den Jahren nach 1866 unermüdlich an der Zerstörung des Norddeutschen Bundes.

Nach der Entscheidung, die Marx und Engels im Jahre 1866 getroffen hatten, war ihre Stellung zum Kriege von 1870 bis zu einem gewissen Grade gegeben. Über seine unmittelbaren Anlässe haben sie sich niemals ausgesprochen, weder über die von Bismarck gegen Bonaparte betriebene spanische Thronkandidatur des hohenzollernschen Prinzen noch über das von Bonaparte gegen Bismarck betriebene französisch-italienisch-österreichische Kriegsbündnis, weder über die eine noch über das andere war nach dem damals bekannten Stande der Dinge ein zutreffendes Urteil möglich. Aber insoweit als die bonapartistische Kriegspolitik sich gegen die nationale Einheit Deutschlands richtete, erkannten Marx und Engels an, daß sich Deutschland im Zustande der Verteidigung befände.

Ausführlich begründete Marx diese Auffassung in der von ihm verfaßten Adresse, die der Generalrat der Internationalen am 23. Juli erließ. Er nannte darin das »Kriegskomplott von 1870 eine verbesserte Auflage des Staatsstreichs von 1851«, aber es läute die Totenglocke des zweiten Kaiserreichs, das so enden werde, wie es begonnen habe, mit einer Parodie. Jedoch man solle nicht vergessen, daß es die Regierungen und die herrschenden Klassen gewesen seien, die Bonaparte befähigt hätten, achtzehn Jahre lang die grausame Posse des wiederhergestellten Kaiserreichs zu spielen. Wenn der Krieg auf deutscher Seite ein Verteidigungskrieg sei, wer habe Deutschland in die Zwangslage gebracht, sich verteidigen zu müssen, wer habe Louis Bonaparte ermöglicht, den Krieg gegen Deutschland zu führen? Preußen. Bismarck habe vor Königgrätz |445|* mit diesem selben Bonaparte konspiriert und nach Königgrätz nicht etwa einem geknechteten Frankreich ein freies Deutschland entgegengestellt, sondern allen eingeborenen Schönheiten seines alten Systems alle Kniffe des zweiten Kaiserreichs aufgepfropft, so daß nun auf beiden Seiten des Rheins das bonapartistische Regiment geblüht habe. Was anderes hätte daraus folgen können als Krieg? »Erlaubt die deutsche Arbeiterklasse dem gegenwärtigen Krieg, seinen streng defensiven Charakter aufzugeben und in einen Krieg gegen das französische Volk auszuarten, so wird Sieg oder Niederlage gleich unheilvoll sein. Alles Unglück, das auf Deutschland fiel nach den sogenannten Befreiungskriegen, wird wieder aufleben mit verstärkter Heftigkeit.«[1] Die Adresse verwies auf die Kundgebungen deutscher und französischer Arbeiter gegen den Krieg, die ein so trauriges Ergebnis nicht befürchten ließen. Sie hob dann noch hervor, daß im Hintergrunde des selbstmörderischen Kampfes die unheimliche Gestalt Rußlands lauere. Alle Sympathien, die die Deutschen mit Recht in einem Verteidigungskrieg gegen einen bonapartistischen Überfall beanspruchen könnten, würden sofort verscherzt sein, wenn sie der preußischen Regierung erlaubten, die Hilfe der Kosaken anzurufen oder anzunehmen.

Zwei Tage vor Erlaß dieser Adresse, am 21. Juli, waren vom Norddeutschen Reichstage 120 Millionen Taler Kriegskredite bewilligt worden. Die parlamentarischen Vertreter der Lassalleaner hatten, gemäß ihrer Politik seit dem Jahre 1866, dafür gestimmt. Dagegen hatten sich Liebknecht und Bebel, die parlamentarischen Vertreter der Eisenacher, der Stimme enthalten, weil sie durch ihre Genehmigung der preußischen Regierung, die durch ihr Vorgehen im Jahre 1866 den gegenwärtigen Krieg vorbereitet habe, ein Vertrauensvotum erteilen würden, während ihre Verweigerung als eine Billigung der frevelhaften und verbrecherischen Politik Bonapartes erachtet werden könnte. Liebknecht und Bebel faßten den Krieg wesentlich unter moralischem Gesichtspunkte auf, was durchaus der Überzeugung entsprach, die Liebknecht auch später in seiner Schrift über die Emser Depesche und Bebel in seinen »Denkwürdigkeiten« bekundet hat.

Damit stießen sie aber in ihrer eigenen Fraktion, und namentlich bei deren Leitung, dem Braunschweiger Ausschuß, auf entschiedenen Widerspruch. In der Tat war die Stimmenthaltung Liebknechts und Bebels keine praktische Politik, sondern eine moralische Kundgebung, die, so berechtigt sie an sich sein mochte, den politischen Anforderungen der Lage nicht entsprach. Was im privaten Leben möglich ist und je nachdem ausreicht, zwei Streitenden zu sagen: Ihr habt beide unrecht, und |446| ich mische mich nicht in euern Zank, das gilt nicht im staatlichen Leben, wo die Völker den Streit der Könige ausbaden müssen. Die praktischen Folgen einer unmöglichen Neutralität zeigten sich in der nichts weniger als klaren und konsequenten Haltung, die der Leipziger »Volksstaat«, das Organ der Eisenacher, in den ersten Kriegswochen einnahm. Dadurch verschärfte sich der Konflikt zwischen der Redaktion, will sagen Liebknecht, und dem Braunschweiger Ausschuß, der sich seinerseits an Marx um Beistand und Rat wandte.

Marx hatte bereits gleich nach Beginn des Krieges, am 20. Juli, also noch vor der Stimmenthaltung Liebknechts und Bebels, an Engels geschrieben, nach einer scharfen Kritik der »republikanischen Chauvinisten« in Frankreich: »Die Franzosen brauchen Prügel. Siegen die Preußen, so [ist] die Zentralisation der state power [Mehring übersetzt: Staatsgewalt] nützlich der Zentralisation der deutschen Arbeiterklasse. Das deutsche Übergewicht würde ferner den Schwerpunkt der westeuropäischen Arbeiterbewegung von Frankreich nach Deutschland verlegen, und man hat bloß die Bewegung von 1866 bis jetzt in beiden Ländern zu vergleichen, um zu sehn, daß die deutsche Arbeiterklasse theoretisch und organisatorisch der französischen überlegen ist. Ihr Übergewicht auf dem Welttheater über die französische wäre zugleich das Übergewicht unsrer Theorie über die Proudhons etc.« Als Marx nun aber die Anfrage des Braunschweiger Ausschusses erhielt, wandte er sich, wie immer in wichtigen Fragen, an Engels mit der Bitte um dessen Rat, und, ähnlich wie im Jahre 1866, entschied Engels im einzelnen die Taktik der beiden Freunde.

In seinem Antwortschreiben vom 15. August schrieb er: »Mir scheint der Kasus so zu liegen: Deutschland ist durch Badinguet (von Mehring eingefügt: Bonaparte) in einen Krieg um seine nationale Existenz hineingeritten. Unterliegt es gegen Badinguet, so ist der Bonapartismus auf Jahre befestigt und Deutschland auf Jahre, vielleicht auf Generationen, kaputt. Von einer selbständigen deutschen Arbeiterbewegung ist dann auch keine Rede mehr, der Kampf um Herstellung der nationalen Existenz absorbiert dann alles, und bestenfalls geraten die deutschen Arbeiter ins Schlepptau der französischen. Siegt Deutschland, so ist der französische Bonapartismus jedenfalls kaputt, der ewige Krakeel wegen Herstellung der deutschen Einheit endlich beseitigt, die deutschen Arbeiter können sich auf ganz anders nationalem Maßstab als bisher organisieren, und die französischen. Was auch für eine Regierung dort folgen mag, werden sicher ein freieres Feld haben als unter dem Bonapartismus. Die ganze Masse des deutschen Volkes aller Klassen hat eingesehn, daß |447| es sich eben um die nationale Existenz in erster Linie handelt, und ist darum sofort eingesprungen. Daß eine deutsche politische Partei unter diesen Umständen à la Wilhelm [von Mehring eingefügt: Liebknecht] die totale Obstruktion predigen und allerhand Nebenrücksichten über die Hauptrücksicht setzen, scheint mir unmöglich.«

Den französischen Chauvinismus, der sich bis tief in die republikanisch gesinnten Kreise hinein geltend machte, verurteilte Engels ebenso scharf wie Marx. »Badinguet hätte diesen Krieg nicht führen können ohne den Chauvinismus der Masse der französischen Bevölkerung, der Bourgeois, Kleinbürger, Bauern und des von Bonaparte in den großen Städten geschaffenen imperialistischen, Haußmannschen, aus den Bauern hervorgegangnen Bauproletariats. Solange dieser Chauvinismus nicht auf den Kopf gehauen, und das gehörig, ist Friede zwischen Deutschland und Frankreich unmöglich. Man konnte erwarten, daß eine proletarische Revolution diese Arbeit übernehmen würde; seitdem aber der Krieg da, bleibt den Deutschen nichts übrig, als dies selbst und sofort zu tun.«

Die »Nebenrücksichten«, daß nämlich der Krieg von Bismarck und Kompanie kommandiert und, falls sie ihn glücklich durchführten, ihnen zur augenblicklichen Glorie dienen würde, seien der Misere der deutschen Bourgeoisie verdankt. Es sei sehr eklig, aber nicht zu ändern. »Darum aber den Antibismarckismus zum alleinleitenden Prinzip erheben, wäre absurd. Erstens tut B[ismarck] jetzt, wie 1866, immer ein Stück von unsrer Arbeit, in seiner Weise und ohne es zu wollen, aber er tut's doch. Er schafft uns reineren Bord als vorher. Und dann sind wir nicht mehr Anno 1815. Die Süddeutschen treten jetzt notwendig in den Reichstag ein und damit erwächst dem Preußentum ein Gegengewicht ... Überhaupt, à la Liebknecht, die ganze Geschichte seit 1866 rückgängig machen zu wollen, weil sie ihm nicht gefällt, ist Blödsinn. Aber wir kennen ja unsere Mustersüddeutschen.«

Im Laufe des Briefes kam Engels dann noch einmal auf Liebknechts Politik zurück. »Amüsant ist bei Wilh[elm] die Behauptung, weil Bismarck ein ehemaliger Spießgeselle des Badinguet, sei der wahre Standpunkt, sich neutral zu halten. Wenn das die allgemeine Meinung in Deutschland, hätten wir bald wieder den Rheinbund, und der edle Wilhelm sollte einmal sehn, was er in dem für eine Rolle spielte und wo die Arbeiterbewegung bliebe. Ein Volk, das immer nur Hiebe bekommt und Tritte, ist allerdings das wahre, um eine soziale Revolution zu machen, und noch dazu in Wilhelms geliebten X-Kleinstaaten! ... Wilhelm hat offenbar auf Sieg des Bonaparte gerechnet, bloß damit sein Bismarck dabei draufgehe. Du erinnerst Dich, wie er ihm immer mit |448| den Franzosen drohte. Du bist natürlich auch auf Wilhelms Seite!« Der letzte Satz war ironisch gemeint; Liebknecht hatte sich nämlich darauf berufen, daß Marx mit seiner und Bebels Stimmenthaltung bei der Frage der Kriegskredite einverstanden gewesen sei.

Marx gab zu, daß er die »Erklärung« Liebknechts gebilligt habe. Es sei ein »Moment« gewesen, wo die Prinzipienreiterei ein acte de courage gewesen sei, woraus aber keineswegs folge, daß dieser Moment fortdauere, und noch viel weniger, daß die Stellung des deutschen Proletariats in einem Kriege, der national geworden sei, sich in Liebknechts Antipathie gegen die Preußen zusammenfasse. Marx sprach mit gutem Grunde von einer »Erklärung« und nicht von der Stimmenthaltung als solcher. Während die Lassalleaner die Kriegskredite im Chor der bürgerlichen Mehrheit bewilligt hatten, ohne ihre sozialistische Stellung irgendwie zu kennzeichnen, hatten Liebknecht und Bebel ein »motiviertes Votum« abgegeben. Sie begründeten darin nicht nur ihre Stimmenthaltung, sondern knüpften an sie »als Sozialrepublikaner und Mitglieder der Internationalen, die ohne Unterschied der Nationalität alle Unterdrücker bekämpfe, alle Unterdrückten zu einem gemeinsamen Bruderbunde zu einigen suche«, einen prinzipiellen Protest gegen diesen wie jeden dynastischen Krieg und sprachen die Hoffnung aus, daß die Völker Europas, durch die jetzigen unheilvollen Ereignisse belehrt, alles aufbieten würden, um sich ihr Selbstbestimmungsrecht zu erobern und die heutige Säbel- und Klassenherrschaft als die Ursache aller staatlichen und gesellschaftlichen Übel zu beseitigen. Mit dieser »Erklärung«, die zum erstenmal das Banner der Internationalen in einem europäischen Parlament, und noch dazu in einer weltgeschichtlichen Frage, frank und frei entfaltete, konnte Marx sicherlich sehr zufrieden sein.

Daß seine »Billigung« so gemeint war, ging schon aus der Wahl seiner Worte hervor. Die Stimmenthaltung war gar keine »Prinzipienreiterei«, sondern eher ein Kompromiß; Liebknecht hatte in der Tat die Kredite einfach verweigern wollen, und sich erst durch Bebel bereden lassen, sich nur der Abstimmung zu enthalten. Ferner legte die Stimmenthaltung ihre Urheber nicht nur für den »Moment« fest, wie ja die Politik des »Volksstaats« in jeder Nummer bewies. Endlich stellte sie auch keine »mutige Tat« in dem Sinne dar, daß sie als solche ihre Rechtfertigung schon in sich selber trug. Hätte Marx den acte de courage in solchem Sinne gemeint, so hätte er dasselbe Lob in noch höherem Grade dem braven Thiers erteilen müssen, der in der französischen Kammer lebhaft gegen den Krieg sprach, obgleich die Mamelucken des Kaiserreichs mit wilden Schmähungen um ihn tobten, oder den bürgerlichen |449| Demokraten vom Schlage der Favre und Grevy, die sich nicht der Abstimmung über die Kriegskredite enthielten, sondern sie einfach verweigerten, obgleich der patriotische Lärm in Paris mindestens so gefährlich war wie in Berlin.

Die Schlußfolgerungen, die Engels aus seiner Auffassung der Lage für die Politik der deutschen Arbeiter zog, faßten sich dahin zusammen: sich der nationalen Bewegung anzuschließen, soweit und solange sie sich auf die Verteidigung Deutschlands beschränke (was die Offensive bis zum Frieden unter Umständen nicht ausschließe); den Unterschied zwischen den deutsch-nationalen und dynastisch-preußischen Interessen dabei zu betonen; jeder Annexion von Elsaß und Lothringen entgegenzuwirken; sobald in Paris eine republikanische, nicht chauvinistische Regierung am Ruder sei, auf einen ehrenvollen Frieden mit ihr hinzuwirken; die Einheit der Interessen der deutschen und französischen Arbeiter, die den Krieg nicht gebilligt hätten und die sich auch nicht bekriegten, fortwährend hervorzuheben.

Damit erklärte sich Marx vollkommen einverstanden und beschied in gleichem Sinne den Braunschweiger Ausschuß.

2. Nach Sedan

Ehe jedoch der Ausschuß von den Winken, die ihm aus London zugekommen waren, praktischen Gebrauch machen konnte, hatte die Lage der Dinge einen völligen Umschwung erfahren. Die Schlacht bei Sedan war geschlagen, Bonaparte gefangen, das Kaiserreich zusammengebrochen, und in Paris hatte sich eine bürgerliche Republik aufgetan. An ihrer Spitze standen die bisherigen Abgeordneten der französischen Hauptstadt, die sich selbst »als Regierung der nationalen Verteidigung« ausriefen.

Auf deutscher Seite war es jetzt am Ende mit dem Verteidigungskriege. In der feierlichsten Weise hatte der König von Preußen als Oberhaupt des Norddeutschen Bundes wiederholt erklärt, daß er nicht das französische Volk, sondern nur die Regierung des französischen Kaisers bekriege; auch erklärten sich die neuen Machthaber in Paris bereit, jede mögliche Geldsumme als Kriegsentschädigung zu zahlen. Allein Bismarck verlangte eine Abtretung von Land; er setzte den Krieg fort, um Elsaß-Lothringen zu erobern, mochte darüber auch der Verteidigungskrieg zum Kinderspott werden.

|450| Wenn er darin den Spuren Bonapartes folgte, so auch darin, daß er eine Art Plebiszit veranstaltete, das den König von Preußen seiner feierlichen Verpflichtungen entbinden sollte. »Notabilitäten« aller Art und Gattung erließen schon am Vorabend von Sedan »Massenkundgebungen« an den König, worin die Forderung »geschützter Grenzen« erhoben wurde. Die »einmütigen Wünsche des deutschen Volkes« machten denn auch einen solchen Eindruck auf den alten Herrn, daß er schon am 6. September nach Hause schrieb: »Wollten sich die Fürsten dieser Stimmung entgegenstemmen, so riskieren sie ihre Throne«, und am 14. September erklärte es die halbamtliche Provinzialkorrespondenz für »eine einfältige Zumutung«, daß sich das Oberhaupt des Norddeutschen Bundes durch seine eigenen, ausdrücklich und freiwillig abgegebenen Zusagen gebunden halten solle.

Um die »einmütigen Wünsche des deutschen Volkes« in vollkommener Reinheit darzustellen, wurde nun aber noch jeder Widerspruch gewaltsam unterdrückt. Am 5. September hatte der Braunschweiger Ausschuß einen Aufruf erlassen, worin er zu öffentlichen Kundgebungen der Arbeiterklasse für einen ehrenvollen Frieden mit der französischen Republik und gegen die Annexion Elsaß-Lothringens aufforderte; dem Aufrufe waren Teile des Briefes, worin Marx den Ausschuß beraten hatte, wörtlich einverleibt.[2] Am 9. September aber wurden die Unterzeichner des Aufrufs militärisch verhaftet und in Ketten nach der Festung Lötzen geschleppt. Ebendorthin wurde Johann Jacoby als Staatsgefangener transportiert, weil er in einer Königsberger Versammlung ebenfalls gegen jede gewaltsame Annexion französischen Ländergebiets gesprochen und sich die ketzerische Äußerung erlaubt hatte: »Vor wenigen Tagen noch war es ein Verteidigungskrieg, den wir führten, ein heiliger Kampf für das liebe Vaterland; heute ist es ein Eroberungskrieg, ein Kampf für die Oberherrschaft der germanischen Rasse in Europa.« Eine Menge Beschlagnahmen und Verbote, Haussuchungen und Verhaftungen vervollständigten das militärische Schreckensregiment, das die »einmütigen Wünsche des deutschen Volkes« vor jedem Zweifel schützen sollte.

An demselben Tage, an dem die Mitglieder des Braunschweiger Ausschusses verhaftet wurden, ergriff der Generalrat der Internationalen in einer zweiten, von Marx und teilweise von Engels verfaßten Adresse das Wort, um die neue Lage der Dinge zu beleuchten. Er durfte sich darauf berufen, wie schnell sich seine Vorhersage, daß dieser Krieg die Totenglocke des zweiten Kaiserreichs läute, erfüllt habe, aber wie schnell auch seine Zweifel, ob der Krieg auf deutscher Seite ein Verteidigungskrieg |451|* bleiben werde, bestätigt worden seien. Die preußische Militärkamarilla habe sich für die Eroberung entschieden, und wie habe sie den preußischen König von den Verpflichtungen befreit, die er selbst für einen Verteidigungskrieg übernommen habe? »Die Bühnenregisseure mußten ihn darstellen, als gebe er widerwillig einem unwiderstehlichen Gebot der deutschen Nation nach; der liberalen deutschen Mittelklasse mit ihren Professoren, ihren Kapitalisten, ihren Stadtverordneten, ihren Zeitungsmännern gaben sie sofort das Stichwort. Diese Mittelklasse, welche in ihren Kämpfen für die bürgerliche Freiheit von 1846 bis 1870 ein nie dagewesenes Schauspiel von Unschlüssigkeit, Unfähigkeit und Feigheit gegeben hat, war natürlich höchlichst entzückt, die europäische Bühne als brüllender Löwe des deutschen Patriotismus zu beschreiten. Sie nahm den falschen Schein staatsbürgerlicher Unabhängigkeit an, um sich zu stellen, als zwinge sie der preußischen Regierung auf - was? die geheimen Pläne eben dieser Regierung. Sie tat Buße für ihren jahrelangen und fast religiösen Glauben an die Unfehlbarkeit Louis Bonapartes, indem sie laut die Zerstückelung der französischen Republik forderte.«[3]

Die Adresse untersuchte dann »die plausibeln Vorwände«, die »diese kernhaften Patrioten« für die Annexion Elsaß-Lothringens vorbrächten. Daß die Elsaß-Lothringer sich nach der deutschen Umarmung sehnten, wagten sie freilich nicht zu behaupten, aber der Boden dieser Provinzen habe vor langer Zeit dem längst verstorbenen deutschen Reich angehört! »Soll die alte Karte von Europa einmal umgearbeitet werden nach dem historischen Recht, dann dürfen wir auf keinen Fall vergessen, daß der Kurfürst von Brandenburg seinerzeit für seine preußischen Besitzungen der Vasall der polnischen Republik war.«[4]

Am meisten würden »viele schwachsinnige Leute« dadurch verwirrt, daß »die schlauen Patrioten« Elsaß-Lothringen als »materielle Garantie« gegen französische Überfälle verlangten. In einer militär-wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die Engels zu ihr beigesteuert hat, wies die Adresse nach, daß Deutschland dieser Verstärkung seiner Grenzen gegen Frankreich gar nicht bedürfe, wie die Erfahrungen gerade auch dieses Krieges gezeigt hätten. »Wenn der jetzige Feldzug irgend etwas gezeigt hat, so die Leichtigkeit, Frankreich von Deutschland aus anzugreifen.«[5] Aber sei es nicht überhaupt eine Ungereimtheit, ein Anachronismus, wenn man militärische Rücksichten zu dem Prinzip erhebe, das die nationalen Grenzen bestimmen solle? »Wollten wir dieser Regel folgen, so hätte Österreich noch einen Anspruch auf Venetien und die Minciolinie, und Frankreich auf die Rheinlinie, zum Schutz von |452| Paris, welches sicherlich Angriffen von Nordosten mehr ausgesetzt ist als Berlin von Südwesten. Wenn die Grenzen durch militärische Interessen bestimmt werden sollen, werden die Ansprüche nie ein Ende nehmen, weil jede militärische Linie notwendig fehlerhaft ist und durch Annexion von weiterm Gebiet verbessert werden kann; und überdies kann sie nie endgültig und gerecht bestimmt werden, weil sie immer dem Besiegten vom Sieger aufgezwungen wird und folglich schon den Keim eines neuen Kriegs in sich führt.«[6]

Die Adresse erinnerte an die »materiellen Garantien«, die Napoleon in dem Frieden von Tilsit genommen habe. Und dennoch sei einige Jahre später seine gigantische Macht wie ein verfaultes Schilfrohr vor dem deutschen Volke zusammengebrochen. »Was sind die ›materiellen Garantien‹, die Preußen in seinen wildesten T räumen Frankreich aufzwingen kann oder darf, im Vergleich zu denen, welche Napoleon I. ihm selbst abzwang? Der Ausgang wird diesmal nicht weniger unheilvoll sein.«[7]

Nun sagten die Wortführer des volkstümlichen Patriotismus, man dürfe die Deutschen nicht mit den Franzosen verwechseln; die Deutschen wollten nicht Ruhm, sondern Sicherheit; sie seien ein wesentlich friedliebendes Volk. »Natürlich war es nicht Deutschland, welches 1792 in Frankreich einfiel mit dem erhabnen Zweck, die Revolution des 18. Jahrhunderts mit Bajonetten niederzumachen! War es nicht Deutschland, welches seine Hände bei der Unterjochung Italiens, der Unterdrückung Ungarns und der Zerstücklung Polens besudelte? Sein jetziges militärisches System, welches die ganze kräftige männliche Bevölkerung in zwei Teile teilt - eine stehende Armee im Dienst und eine andere stehende Armee im Urlaub -, beide gleichmäßig zu passivem Gehorsam gegen die Regenten von Gottes Gnaden verpflichtet, so ein militärisches System ist natürlich eine ›materielle Garantie‹ des Weltfriedens und obendrein das höchste Ziel der Zivilisation! In Deutschland wie überall, vergiften die Höflinge der bestehenden Gewalt die öffentliche Meinung durch Weihrauch und lügenhaftes Selbstlob. - Sie scheinen indigniert beim Anblick der französischen Festungen Metz und Straßburg - diese deutschen Patrioten -, aber sie sehen kein Unrecht in dem ungeheuren System moskowitischer Befestigungen von Warschau, Modlin und Iwangorod. Während sie vor den Schrecken bonapartistischer Einfälle schaudern, schließen sie die Augen vor der Schande zarischer Schutzherrschaft.«[8]

Daran anknüpfend führte die Adresse aus, daß die Annexion Elsaß-Lothringens die französische Republik in die Arme des Zarismus treiben werde. Glaubten die Deutschtümler wirklich, daß dadurch Freiheit und |453| Frieden Deutschlands gesichert sei? »Wenn das Glück der Waffen, der Übermut des Erfolgs und dynastische Intrigen Deutschland zu einem Raub an französischem Gebiet verleiten, bleiben ihm nur zwei Wege offen. Entweder muß es, was auch immer daraus folgt, der offenkundige Knecht russischer Vergrößerung werden, oder aber es muß sich nach kurzer Rast für einen neuen ›defensiven‹ Krieg rüsten, nicht für einen jener neugebackenen ›lokalisierten‹ Kriege, sondern zu einem Rassenkrieg gegen die verbündeten Rassen der Slawen und Romanen.«[9]

Die deutsche Arbeiterklasse habe den Krieg, den zu hindern nicht in ihrer Macht stand, energisch unterstützt als einen Krieg für Deutschlands Unabhängigkeit und für die Befreiung Deutschlands und Europas von dem erdrückenden Alp des zweiten Kaiserreichs. »Es waren die deutschen Industriearbeiter, welche mit den ländlichen Arbeitern zusammen die Sehnen und Muskeln heldenhafter Heere lieferten, während sie ihre halbverhungerten Familien zurückließen.«[10] Dezimiert durch die Schlachten, würden sie noch einmal dezimiert werden durch das Elend zu Hause. Sie verlangten nun ihrerseits Garantien, daß ihre ungeheuren Opfer nicht umsonst gebracht wären, daß sie die Freiheit erobert hätten, daß die Siege, die sie über die bonapartistischen Armeen errungen hatten, nicht in eine Niederlage des Volks verwandelt würden wie im Jahre 1815. Als erste dieser Garantien verlangten sie einen »ehrenvollen Frieden für Frankreich« und die »Anerkennung der französischen Republik«. Die Adresse verwies auf die Kundgebung des Braunschweiger Ausschusses. Unglücklicherweise sei auf keinen unmittelbaren Erfolg zu rechnen. Aber die Geschichte werde zeigen, daß die deutschen Arbeiter nicht von demselben biegsamen Stoff gemacht seien wie die deutsche Mittelklasse. Sie würden ihre Pflicht tun.

Danach wandte sich die Adresse der französischen Seite der neuen Lage zu. Die Republik habe nicht den Thron umgeworfen, sondern nur seinen leeren Platz eingenommen. Sie sei nicht als eine soziale Errungenschaft ausgerufen worden, sondern als eine nationale Verteidigungsmaßregel. Sie sei in den Händen einer provisorischen Regierung, zusammengesetzt teils aus notorischen Orleanisten, teils aus Bourgeoisrepublikanern, und unter diesen seien einige, denen die Juni-Insurrektion von 1848 ihr unauslöschliches Brandmal hinterlassen habe. Die Teilung der Arbeit unter den Mitgliedern der Regierung scheine wenig Gutes zu versprechen. Die Orleanisten hätten sich der starken Stellungen bemächtigt - der Armee und der Polizei -, während den angeblichen Republikanern die Schwatzposten zugeteilt seien. Einige ihrer ersten Handlungen bewiesen ziemlich deutlich, daß sie vom Kaiserreich nicht nur einen |454| Haufen Ruinen geerbt hätten, sondern auch seine Furcht vor der Arbeiterklasse.

»So findet sich die französische Arbeiterklasse in äußerst schwierige Umstände versetzt. Jeder Versuch, die neue Regierung zu stürzen, wo der Feind fast schon an die Tore von Paris pocht, wäre eine verzweifelte Torheit. Die französischen Arbeiter müssen ihre Pflicht als Bürger tun, aber sie dürfen sich nicht beherrschen lassen durch die nationalen Erinnerungen von 1792, wie die französischen Bauern sich trügen ließen durch die nationalen Erinnerungen des ersten Kaiserreichs. Sie haben nicht die Vergangenheit zu wiederholen, sondern die Zukunft aufzubauen. Mögen sie ruhig und entschlossen die Mittel ausnützen, die ihnen die republikanische Freiheit gibt, um die Organisation ihrer eignen Klasse gründlich durchzuführen. Das wird ihnen neue, herkulische Kräfte geben für die Wiedergeburt Frankreichs und für unsre gemeinsame Aufgabe - die Befreiung des Proletariats. Von ihrer Kraft und Weisheit hängt ab das Schicksal der Republik.«[11]

Diese Adresse fand einen lebhaften Widerhall unter den französischen Arbeitern. Sie verzichteten auf den Kampf gegen die provisorische Regierung und taten ihre Pflicht als Bürger, vor allem das Pariser Proletariat, das, als Nationalgarde bewaffnet, an der tapferen Verteidigung der französischen Hauptstadt den hervorragendsten Anteil hatte, aber sich durch die nationalen Erinnerungen von 1792 nicht blenden ließ, sondern eifrig an seiner Organisation als Klasse arbeitete. Nicht minder zeigten sich die deutschen Arbeiter auf der Höhe. Trotz aller Drohungen und Verfolgungen forderten die Lassalleaner wie die Eisenacher den ehrenvollen Frieden mit der Republik; als der Norddeutsche Reichstag im Dezember wieder zusammentrat, um neue Kriegskredite zu bewilligen, stimmten die parlamentarischen Vertreter beider Fraktionen mit einem runden Nein. Vor allem führten Liebknecht und Bebel diesen Kampf mit so glühendem Eifer und mit so herausfordernder Kühnheit, daß sich um deswillen - und nicht wie eine weitverbreitete Legende will, wegen ihrer Stimmenthaltung im Juli - der Ruhm dieser Tage in erster Reihe an ihre Namen knüpfte. Sie wurden nach Schluß des Reichstags unter der Anklage des Hochverrats verhaftet.

Marx war in diesem Winter wieder mit Überarbeit belastet. Im August hatten ihn die Ärzte ins Seebad geschickt, aber dort hatte ihn eine heftige Erkältung »krummgelegt«, und erst am letzten Tage dieses Monats war er nach London zurückgekehrt, wenn auch noch keineswegs wiederhergestellt. Gleichwohl mußte er fast die ganze internationale Korrespondenz des Generalrats übernehmen, da der größte Teil von |455| dessen Korrespondenten fürs Ausland nach Paris gegangen war. Er käme nie vor 3 Uhr nachts ins Bett, klagte er am 14. September dem Freunde Kugelmann. Eine Erleichterung für die Zukunft wenigstens konnte er von Engels erwarten, der in eben diesen Tagen dauernd nach London übersiedelte.

Unzweifelhaft hoffte Marx nunmehr auf den siegreichen Widerstand der französischen Republik gegen den preußischen Eroberungskrieg. Die deutschen Zustände, die damals selbst dem ultramontan-welfischen Parteiführer Windthorst den beißenden Witz eingaben, wenn Bismarck durchaus annektieren wolle, so solle er sich doch an Cayenne als den für seine Staatskunst geeignetsten Erwerb halten, erfüllten Marx mit großer Bitterkeit; »es scheint, daß man nicht nur den Bonaparte, seine Generale und seine Armee in Deutschland eingefangen, sondern mit ihm auch den ganzen Imperialismus mit allen seinen Gebresten im Land der Eichen und der Linden akklimatisiert hat«, schrieb er am 13. Dezember an Kugelmann. In diesem Briefe verzeichnete er mit offenbarer Befriedigung, daß die öffentliche Meinung in England, bei Beginn des Krieges ultrapreußisch, in ihr Gegenteil umgeschlagen sei. Abgesehen von der entschiedenen Sympathie der Volksmasse für die Republik und anderen Umständen »hat die Weise der Kriegführung - das System der Requisitionen, Niederbrennen der Dörfer, Erschießen der Franktireurs, Bürgennehmen und ähnliche Rekapitulationen aus dem Dreißigjährigen Krieg - hier allgemeine Entrüstung hervorgerufen. Of course [Mehring übersetzt: Natürlich] -, die Engländer haben dergleichen getan in Indien, Jamaika etc., aber die Franzosen sind weder Hindus noch Chinesen, noch Neger, und die Preußen sind keine heavenborn Englishmen [Mehring übersetzt: vorn Himmel stammenden Engländer]. Es ist eine echt hohenzollernsche Idee, daß ein Volk ein Verbrechen begeht, wenn es sich fortfährt zu verteidigen, sobald sein stehendes Heer alle geworden ist.« An dieser Idee habe schon der brave Friedrich Wilhelm der Dritte in dem preußischen Volkskriege gegen den ersten Napoleon gelitten.

Die Drohung Bismarcks, Paris zu bombardieren, nannte Marx »einen bloßen Trick. Auf die Stadt Paris selbst kann es nach allen Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung durchaus keinen ernsthaften Effekt machen. Werden ein paar Vorwerke niedergeschossen, Bresche gemacht, was nützt das in einem Falle, wo die Zahl der Belagerten größer ist als die der Belagerer? ... Die Aushungerung von Paris ist das einzig reale Mittel.« Beiläufig ein Bild zum Malen! Dieser »vaterlandslose Geselle«, der sich selbst in militär-wissenschaftlichen Fragen jedes selbständige |456|* Urteil absprach, kennzeichnete das von Bismarck geforderte Bombardement der französischen Hauptstadt als einen »bloßen Trick« aus denselben Gründen, aus denen es alle namhaften Generale des deutschen Heeres, mit der einzigen Ausnahme Roons, in einem heftigen, hinter den Kulissen des deutschen Hauptquartiers wochenlang tobenden Streit als »Fähnrichsstreich« verwarfen, während der ganze Troß von patriotischen Professoren und Zeitungsschreibern sich von Bismarcks Offiziösen in sittliche Entrüstung über die preußische Königin und die preußische Kronprinzessin jagen ließ, weil diese Frauen, sei es aus sentimentalen, sei es gar aus landesverräterischen Rücksichten, ihre Pantoffelhelden von Männern angeblich hinderten, Paris zu bombardieren!

Als Bismarck sich nun obendrein in der hochtrabenden Redensart erging, daß die französische Regierung die freie Meinungsäußerung in der Presse und durch Abgeordnete unmöglich mache, beleuchtete Marx in den »Daily News« vom 16. Januar 1871 diesen »Berliner Witz« mit einer beißenden Schilderung der Polizeiwirtschaft, die sich gleichzeitig in Deutschland austobte. Er schloß diese Schilderung: »Frankreich - und seine Sache ist glücklicherweise weit entfernt davon, verzweifelt zu sein - kämpft in diesem Moment nicht bloß für seine eigene nationale Unabhängigkeit, sondern für die Freiheit Deutschlands und Europas.«[12] In diesem Satze faßt sich die Stellung zusammen, die Marx und Engels nach Sedan zum Deutsch-Französischen Kriege eingenommen haben.

3. Der Bürgerkrieg in Frankreich

Am 28. Januar kapitulierte Paris. In dem Vertrage, der darüber zwischen Bismarck und Jules Favre abgeschlossen wurde, war ausdrücklich bestimmt, daß die Pariser Nationalgarde ihre Waffen behalten solle.

Die Wahlen zur Nationalversammlung ergaben eine monarchisch-reaktionäre Mehrheit, die den alten Ränkeschmied Thiers zum Präsidenten der Republik wählte. Seine erste Sorge, nach Annahme der Friedenspräliminarien - Abtretung Elsaß-Lothringens und fünf Milliarden Kriegsentschädigung - durch die Nationalversammlung, war die Entwaffnung von Paris. Denn für diesen eingefleischten Bourgeois und nicht minder für die Krautjunker der Versammlung war Paris in Waffen nichts anderes als die Revolution.

Am 18. März versuchte Thiers zunächst die Geschütze der Pariser Nationalgarde zu rauben, unter der dreisten Lüge, sie seien Staatseigentum, |457| während sie auf Kosten der Nationalgarde im Laufe der Belagerung hergestellt und als ihr Eigentum auch in dem Kapitulationsvertrage vom 28. Januar anerkannt worden waren. Indessen die Nationalgarde widersetzte sich und die zu dem Raubversuch befohlenen Truppen gingen zu ihr über. Damit war der Bürgerkrieg entbrannt. Paris wählte am 26. März seine Kommune, deren Geschichte ebenso reich ist an heldenhaftem Kämpfen und Dulden der Pariser Arbeiter wie an feiger Grausamkeit und Tücke der Versailler Ordnungsparteien.

Es ist überflüssig, erst hervorzuheben, mit welch brennender Teilnahme Marx diese Entwicklung der Dinge verfolgte. Am 12. April schrieb er an Kugelmann: »Welche Elastizität, welche historische Initiative, welche Aufopferungsfähigkeit in diesen Parisern! Nach sechsmonatlicher Aushungerung und Verruinierung durch innern Verrat noch mehr als durch den auswärtigen Feind, erheben sie sich, unter preußischen Bajonetten, als ob nie ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland existiert habe und der Feind nicht noch vor den Toren von Paris stehe! Die Geschichte hat kein ähnliches Beispiel ähnlicher Größe!« Wenn die Pariser unterlägen, so würde die Schuld an ihrer »Gutmütigkeit« liegen. Sie hätten sofort auf Versailles marschieren sollen, nachdem die Truppen und der reaktionäre Teil der Nationalgarde das Feld geräumt hatten. Aber sie hätten aus Gewissensbedenken den Bürgerkrieg nicht eröffnen wollen, als ob die boshafte Mißgeburt Thiers ihn nicht schon mit dem Entwaffnungsversuch von Paris begonnen hätte. Aber wenn auch unterliegend, so sei die Erhebung der Pariser die glorreichste Tat unserer Partei seit der Juni-Insurrektion. »Man vergleiche mit diesen Himmelsstürmern von Paris die Himmelssklaven des deutsch-preußischen heiligen römischen Reichs mit seinen posthumen Maskeraden, duftend nach Kaserne, Kirche, Krautjunkertum und vor allem Philistertum.«

Wenn Marx von dem Pariser Aufstand als einer Tat »unserer Partei« sprach, so durfte er es sowohl in dem allgemeinen Sinne tun, daß die Pariser Arbeiterklasse das Rückgrat der Bewegung war als auch in dem besonderen Sinne, daß die Pariser Mitglieder der Internationalen zu den einsichtigsten und tapfersten Kämpfern der Kommune gehörten, wenn sie in deren Rat auch nur eine Minderheit bildeten. Die Internationale war schon dermaßen als allgemeines Schreckgespenst berufen, mußte den herrschenden Klassen als Sündenbock für alle, ihnen mißliebigen Ereignisse herhalten, daß auch der Pariser Aufstand ihrer teuflischen Anstiftung geschuldet sein sollte. Seltsamerweise wollte aber ein Organ der Pariser Polizeipresse den »Grand chef« der Internationalen |458| von einer Teilnahme daran entlasten; es veröffentlichte am 19. März einen angeblichen Brief, worin Marx die Pariser Sektionen getadelt haben sollte, weil sie sich zuviel mit politischen und nicht genug mit sozialen Fragen beschäftigten. Marx beeilte sich, den Brief in der »Times« als eine »unverschämte Fälschung« zu kennzeichnen.

Niemand wußte besser als Marx, daß die Internationale die Kommune nicht gemacht hatte, aber er hat sie stets als Fleisch von ihrem Fleisch, und Blut von ihrem Blute anerkannt. Natürlich nur in dem Rahmen, der durch das Programm und die »Statuten der Internationalen« gezogen war, wonach jede Arbeiterbewegung, die auf die Emanzipation des Proletariats abziele, zu ihr gehöre. Zu seinen engeren Gesinnungsgenossen durfte Marx weder die blanquistische Mehrheit im Rate der Kommune zählen noch auch nur die Minderheit, die zwar zur Internationalen gehörte, aber wesentlich in den Gedankengängen Proudhons lebte und webte. Mit ihr hat Marx während der Kommune, soweit es unter den damaligen Umständen möglich war, geistige Fühlung behalten, doch haben sich davon leider nur sehr dürftige Reste erhalten.

Auf einen verlorenen Brief von ihm antwortete Leo Franckel, Delegierter für das Departement der öffentlichen Arbeiten, am 25. April u.a.: »Es wäre mir sehr erwünscht, wenn Sie mir irgendwie mit Ihrem Rate beistehen wollten, da ich gegenwärtig sozusagen allein, aber auch allein verantwortlich bin für alle Reformen, die ich im Departement der öffentlichen Arbeiten einführen will. Daß Sie Ihr möglichstes tun werden, um allen Völkern, allen Arbeitern und namentlich den deutschen begreiflich zu machen, daß die Kommune von Paris nichts mit der deutschen Zopfgemeinde zu tun hat, läßt sich schon aus einigen Zeilen Ihres letzten Briefes schließen. Damit werden Sie jedenfalls unserer Sache einen großen Dienst erwiesen haben.« Eine etwaige Antwort, die Marx auf diesen Brief erteilt oder gar ein Rat, den er gegeben hätte, hat sich nicht erhalten.

Dagegen ist ein Brief verloren, den Franckel und Varlin an Marx gerichtet haben, und den dieser am 13. Mai also beantwortete: »Ich habe mit dem Überbringer gesprochen. Würde es sich nicht empfehlen, die für die Kanaillen von Versailles so kompromittierenden Papiere an einen sichern Ort zu bringen? Solche Vorsichtsmaßregeln können niemals schaden. - Man hat mir von Bordeaux geschrieben, daß bei den letzten Gemeinderatswahlen vier Internationale gewählt worden sind. In den Provinzen beginnt es zu gären. Leider ist ihre Aktion lokal beschränkt und friedlich. - In Ihrer Sache schrieb ich einige hundert Briefe nach allen Ecken und Enden der Welt, wo wir Beziehungen haben. Die Arbeiterklasse |459|* war übrigens von Anfang an für die Kommune. Selbst die englischen bürgerlichen Blätter haben ihre anfänglich durchaus ablehnende Haltung aufgegeben. Es glückte mir, von Zeit zu Zeit einen günstigen Artikel bei ihnen einzuschmuggeln. - Die Kommune verschwendet, wie mir scheint, zuviel Zeit mit Kleinigkeiten und persönlichen Streitereien. Offenbar wirken noch andere Einflüsse mit als die der Arbeiter. All dies würde aber gar nichts ausmachen, wenn es Ihnen gelänge, die verlorene Zeit wieder einzuholen.« Marx wies schließlich darauf hin, daß möglichst schnelles Handeln schon deshalb geboten sei, weil drei Tage vorher der endgültige Friede zwischen Frankreich und Deutschland in Frankfurt a.M. abgeschlossen worden sei und Bismarck nun dasselbe Interesse wie Thiers an der Niederwerfung der Kommune habe, zumal da von diesem Zeitpunkt an die Abtragung der Kriegsentschädigung von fünf Milliarden beginnen sollte.

Soweit Marx in diesem Briefe Ratschläge erteilt, wird man eine gewisse vorsichtige Zurückhaltung spüren, und ohne Zweifel wird alles, was er an Mitglieder der Kommune geschrieben haben mag, auf denselben Ton gestimmt gewesen sein. Nicht als ob er sich gescheut hätte, die unbedingte Verantwortung für das Tun und Lassen der Kommune zu übernehmen - denn das hat er nach ihrer Niederlage sofort vor aller Öffentlichkeit in umfassender Weise getan -, sondern weil er vollkommen frei war von jedem Gelüste, diktatorische Manieren hervorzukehren und von außen her vorzuschreiben, was an Ort und Stelle, wo die Dinge am besten übersehen werden konnten, zu tun und zu lassen sei.

Am 28. Mai waren die letzten Verteidiger der Kommune gefallen, und bereits zwei Tage später legte Marx dem Generalrat die Adresse über den »Bürgerkrieg in Frankreich« vor, eine der glänzendsten Urkunden, die je aus seiner Feder geflossen sind, und alles in allem noch heute der Glanzpunkt der gewaltigen Literatur, die seitdem über die Pariser Kommune erschienen ist. Marx bewährte hier wieder an einem schwierigen und verwickelten Problem seine erstaunliche Fähigkeit, unter der täuschenden Oberfläche eines scheinbar unlöslichen Durcheinanders, mitten durch das Gewirr sich hundertfach kreuzender Gerüchte, den geschichtlichen Kern der Dinge sicher zu erkennen. Soweit es die Adresse mit Tatsachen zu tun hat - und ihre beiden ersten wie ihr vierter und letzter Abschnitt schildern die tatsächliche Entwicklung -, hat sie überall das Richtige erkannt und ist seither in keinem Punkte widerlegt werden.

Freilich gibt die Adresse keine kritische Geschichte der Kommune, aber das war auch nicht ihre Aufgabe. Sie sollte die Ehre und das Recht |460| der Kommune gegen die Schmach und das Unrecht ihrer Gegner in helles Licht stellen; sie sollte eine Kampfschrift und keine geschichtliche Abhandlung sein. Was die Kommune gefehlt und gesündigt hat, ist seitdem von sozialistischer Seite oft genug Gegenstand einer herben und mitunter selbst zu herben Kritik gewesen. Marx beschränkte sich auf die Andeutung: »In jeder Revolution drängen sich, neben ihren wirklichen Vertretern, Leute andern Gepräges vor. Einige sind die Überlebenden früherer Revolutionen, mit denen sie verwachsen sind; ohne Einsicht in die gegenwärtige Bewegung, aber noch im Besitz großen Einflusses auf das Volk durch ihren bekannten Mut und Charakter oder auch durch bloße Tradition. Andre sind bloße Schreier, die, jahrelang dieselben ständigen Deklamationen gegen die Regierung des Tages wiederholend, sich in den Ruf von Revolutionären des reinsten Wassers eingeschlichen haben. Auch nach dem 18. März kamen solche Leute zum Vorschein und spielten sogar in einigen Fällen eine hervorragende Rolle. Soweit ihre Macht ging, hemmten sie die wirkliche Aktion der Arbeiterklasse, wie sie die volle Entwicklung jeder frühern Revolution gehemmt haben.«[13] Sie seien ein unvermeidliches Übel, mit der Zeit schüttele man sie ab, aber gerade diese Zeit sei der Kommune nicht gelassen worden.

Ein besonderes Interesse beansprucht der dritte Abschnitt der Adresse, der sich mit dem geschichtlichen Wesen der Pariser Kommune beschäftigte. In scharf sinnigster Weise wurde dies Wesen unterschieden von dem Wesen früherer historischer Gebilde, die ihr äußerlich ähnlich sehen mochten - von der mittelalterlichen Kommune an bis zur preußischen Städteordnung. »Es konnte nur einem Bismarck einfallen, der, wenn nicht von seinen Blut- und Eisenintrigen in Anspruch genommen, gern zu seinem alten, seinem geistigen Kaliber so sehr zusagenden Handwerk als Mitarbeiter am ›Kladderadatsch‹ zurückkehrt - nur einem solchen Kopf konnte es einfallen, der Pariser Kommune eine Sehnsucht unterzuschieben nach jener Karikatur der alten französischen Städteverfassung von 1791, der preußischen Städteordnung, die die städtischen Verwaltungen zu bloßen untergeordneten Rädern in der preußischen Staatsmaschinerie erniedrigt.«[14] In der Mannigfaltigkeit der Deutungen, denen die Kommune unterlag, und der Mannigfaltigkeit der Interessen, die sich in ihr ausgedrückt fanden, erkannte die Adresse die Tatsache, daß sie eine durch und durch ausdehnungsfähige politische Form gewesen sei, während alle früheren Regierungsformen wesentlich unterdrückend gewesen seien. »Ihr wahres Geheimnis war dies: sie war wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse, das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte |461| politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte.«[15]

Den Beweis hierfür konnte die Adresse nicht durch ein ausdrückliches Regierungsprogramm der Kommune führen, zu dem diese nicht gelangt war und, vom ersten bis zum letzten Tage ihres Daseins in einem Kampfe um Leben und Tod stehend, auch nicht gelangen konnte. Sie führte ihn an der Hand der praktischen Politik, die die Kommune getrieben hatte, und das innerste Wesen dieser Politik sah sie in der Abwürgung des Staates, der in seiner prostituiertesten Form, dem zweiten Kaiserreich, nur noch einen »Schmarotzerauswuchs« am gesellschaftlichen Körper darstellte, dessen Kräfte aufsauge und dessen freie Entwicklung hemme. Das erste Dekret der Kommune verfügte die Unterdrückung des stehenden Heeres und dessen Ersetzung durch das bewaffnete Volk. Die Kommune entkleidete die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, aller politischen Funktionen und verwandelte sie in ihr verantwortliches Werkzeug. Nachdem sie das stehende Heer und die Polizei, die Werkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung, beseitigt hatte, brach sie ihr geistliches Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht; sie verfügte die Auflösung und Enteignung sämtlicher Kirchen, soweit sie besitzende Körperschaften waren. Sie öffnete dem Volke alle Unterrichtsanstalten unentgeltlich und befreite sie gleichzeitig von aller Einmischung des Staates wie der Kirche. Die staatliche Bürokratie aber rottete sie mit der Wurzel aus, indem sie alle Beamten, auch die Richter, wählen ließ, sie für jederzeit absetzbar erklärte und ihre Besoldungen auf ein Höchstmaß von 6.000 Franken beschränkte.

So geistreich diese Ausführungen im einzelnen waren, so standen sie doch in einem gewissen Widerspruch mit den Ansichten, die Marx und Engels seit einem Vierteljahrhundert vertreten und schon im »Kommunistischen Manifest« verkündet hatten. Dieser ihrer Auffassung gemäß gehörte zu den schließlichen Folgen der künftigen proletarischen Revolution allerdings die Auflösung der mit dem Namen: Staat bezeichneten politischen Organisation, aber doch nur die allmähliche Auflösung. Der Hauptzweck dieser Organisation war von jeher, die ökonomische Unterdrückung der arbeitenden Mehrzahl durch die ausschließlich begüterte Minderzahl durch bewaffnete Gewalt sicherzustellen. Mit dem Verschwinden einer ausschließlich begüterten Minderzahl verschwindet auch die Notwendigkeit einer bewaffneten Unterdrückungs- oder Staatsgewalt. Gleichzeitig aber betonten Marx und Engels, daß, um zu diesem und den anderen weit wichtigeren Zielen der künftigen sozialen Revolution zu gelangen, die Arbeiterklasse zuerst die organisierte politische Gewalt |462|* des Staates in Besitz nehmen, mit ihrer Hilfe den Widerstand der Kapitalistenklasse niederstampfen und die Gesellschaft neu organisieren müsse. Mit dieser Auffassung des »Kommunistischen Manifestes« ließ sich aber das Lob nicht vereinigen, das die Adresse des Generalrats der Pariser Kommune spendete, weil sie damit begonnen habe, den Schmarotzer Staat mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Natürlich waren sich Marx und Engels darüber vollkommen klar; in dem Vorworte zu einer neuen Ausgabe des »Kommunistischen Manifestes«, die im Juni 1872 noch unter dem frischen Eindruck der Kommune erschien, berichtigten sie sich unter ausdrücklichem Hinweis auf die Adresse dahin, daß die Arbeiterklasse die fertige Staatsmaschine nicht einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen könne. Später aber hat wenigstens Engels, nach dem Tode von Marx, im Kampfe mit anarchistischen Richtungen diesen Vorbehalt wieder fallenlassen und ganz die alten Anschauungen des »Manifestes« wiederholt. Es war begreiflich genug, daß die Anhänger Bakunins in ihrer Weise die Adresse des Generalrats verwerteten. Bakunin selbst spottete, daß Marx, dessen Ideen durch die Kommune alle über den Haufen geworfen worden seien, im Widerspruch mit aller Logik vor ihr den Hut ziehen, ihr Programm und ihr Ziel zu den seinigen machen müsse. In der Tat - wenn ein gar nicht einmal vorbereiteter, sondern durch einen brutalen Angriff plötzlich erzwungener Aufstand mit ein paar einfachen Dekreten die Unterdrückungsmaschinerie des Staates beseitigen konnte, war dann nicht bestätigt, was Bakunin zu wiederholen nicht müde wurde? Das ließ sich immerhin mit einigem guten oder schlechten Willen aus der Adresse des Generalrats herauslesen, die allzusehr, was der Möglichkeit nach im Wesen der Kommune lag, schon der Wirklichkeit nach als vorhanden schilderte. Jedenfalls aber, wenn die Agitation Bakunins im Jahre 1871 einen lebhafteren Aufschwung nahm, als jemals früher, so war das dem mächtigen Eindruck geschuldet, den die Pariser Kommune auf die europäische Arbeiterklasse machte.

Die Adresse schloß: »Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft. Seine Märtyrer sind eingeschreint in dem großen Herzen der Arbeiterklasse. Seine Vertilger hat die Geschichte schon jetzt an jenen Schandpfahl genagelt, von dem sie zu erlösen alle Gebete ihrer Pfaffen ohnmächtig sind.«[16] Die Adresse erregte sofort nach ihrem Erscheinen das gewaltigste Aufsehen. »Sie macht einen Lärm vom Teufel, und ich habe die Ehre, in diesem Augenblick der bestverleumdete und meistbedrohte Mann von London zu sein«, schrieb Marx an Kugelmann. »Das |463| tut einem wahrhaft wohl nach der langweiligen zwanzigjährigen Sumpfidylle. Das Regierungsblatt - ›The Observer‹ - droht mir mit gerichtlicher Verfolgung. Mögen sie es wagen! Ich pfeife auf diese Kanaillen.« Marx hatte sich sofort nach dem ersten Anheben des Spektakels als Verfasser der Adresse genannt.

In späteren Jahren ist Marx auch von sozialdemokratischen, immerhin vereinzelten Stimmen getadelt worden, daß er die Internationale gefährdet habe, indem er sie mit der Verantwortung für die Kommune belastet habe, die sie gar nicht zu tragen hatte. Er hätte sie ja gegen ungerechte Angriffe verteidigen können, aber sich vor ihren eigenen Fehlern und Mißgriffen bekreuzigen müssen. Das wäre so die Taktik liberaler »Staatsmänner« gewesen, die Marx nicht befolgen konnte, eben weil er Marx war. Er hat nie daran gedacht, die Zukunft seiner Sache zu opfern, in der trügerischen Hoffnung, dadurch die Gefahren zu mindern, die ihr in der Gegenwart drohten.

4. Die Internationale und die Kommune

Indem die Internationale das Erbe der Kommune, ohne Sichtung des Nachlasses, unbesehen übernahm, trat sie einer Welt von Feinden gegenüber.

Am wenigsten kam es dabei noch auf die verleumderischen Angriffe an, womit die bürgerliche Presse aller Länder sie überschüttete. Im Gegenteile gewann sie dadurch in gewissem Sinne und bis zu einem gewissen Grade ein Mittel der Propaganda, indem der Generalrat durch öffentliche Erklärungen diese Angriffe zurückwies und damit wenigstens in der großen englischen Presse einiges Gehör fand.

Eine schwerere Last hatte der Generalrat an der Sorge für die zahlreichen Flüchtlinge der Kommune zu tragen, die sich zum Teil in Belgien und der Schweiz, vornehmlich aber in London eingefunden hatten. Bei dem immer schlechten Zustande seiner Finanzen konnte er nur mit der größten Mühe und Not die nötigen Mittel herbeischaffen und mußte lange Monate seiner Kraft und Zeit hierauf verwenden, unter Vernachlässigung seiner regelmäßigen Aufgaben, die um so dringendere Erledigung erheischten, als fast alle Regierungen gegen die Internationale mobilmachten.

Aber auch dieser Krieg der Regierungen war noch nicht die schwerste Sorge. Er wurde zunächst in den einzelnen Staaten des Festlandes mit |464| größerem oder geringerem Nachdruck geführt, aber die Versuche, alle Regierungen zu einer gemeinsamen Hetzjagd gegen das klassenbewußte Proletariat zu einigen, scheiterten vorläufig. Den ersten Vorstoß dieser Art unternahm die französische Regierung schon am 6. Juni 1871, in einem Rundschreiben Jules Favres, doch war dies Aktenstück so dumm und verlogen, daß es bei den übrigen Regierungen keinen Anklang fand, selbst bei Bismarck nicht, der, sonst für jede reaktionäre und nun gar arbeiterfeindliche Anregung sehr empfänglich, auch durch die Parteinahme der deutschen Sozialdemokratie für die Kommune, und zwar sowohl der Lassalleaner wie der Eisenacher, aus seinem Größenbewußtsein aufgeschreckt worden war.

Einige Zeit später unternahm die spanische Regierung einen zweiten Versuch, die europäischen Regierungen gegen die Internationale zusammenzuschweißen, wiederum durch ein Rundschreiben ihres Ministers für auswärtige Angelegenheiten. Es reiche nicht hin, heißt es darin, daß eine Regierung vereinzelt die strengsten Maßregeln gegen die Internationale ergreife und deren Sektionen in ihrem Bereich unterdrücke: alle Regierungen müßten zur Beseitigung des Übels ihre Bemühungen vereinigen. Dieser Lockruf hätte schon eher ein Echo gefunden, wenn ihn die englische Regierung nicht sofort erstickt hätte. Lord Granville erwiderte, die Internationale hätte »hier zu Lande« ihre Operationen hauptsächlich auf Ratschläge in Sachen von Arbeitseinstellungen beschränkt und verfüge zu deren Unterstützung nur über geringe Geldsummen, während die revolutionären Pläne, die einen Teil ihres Programms bildeten, mehr die Ansicht der auswärtigen Mitglieder als die Ansicht der britischen Arbeiter widerspiegelten, deren Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Lohnfragen gerichtet sei. Aber auch die Ausländer ständen, wie die britischen Untertanen, unter dem Schutze der Gesetze; würden sie gegen diese verstoßen, indem sie sich an Kriegsoperationen gegen irgendeinen Staat beteiligten, mit dem Großbritannien in Freundschaft lebe, so würden sie bestraft werden, jedoch läge kein Grund vor, außerordentliche Vorkehrungen gegen die Ausländer auf englischen Boden zu treffen. Diese vernünftige Abwehr einer unvernünftigen Zumutung veranlaßte Bismarcks offiziöses Leibblatt freilich zu der knurrigen Bemerkung, die Vorkehrungen zur Abwehr der Internationalen müßten im wesentlichen wirkungslos bleiben, solange der britische Boden eine Freistatt bilde, von wo aus die übrigen europäischen Staaten unter dem Schutze des englischen Gesetzes ungestraft beunruhigt werden dürften.

Wenn somit ein gemeinsamer Kreuzzug der Regierungen gegen die |465| Internationale sich nicht auf die Beine bringen ließ, so vermochte sie selbst doch auch nicht, eine geschlossene Phalanx herzustellen gegen die Verfolgungen, denen ihre Sektionen in den einzelnen Staaten des Festlandes ausgesetzt waren. Diese Sorge drückte am allerschwersten auf sie und nicht zum wenigsten deshalb, weil sie gerade auch in den Ländern, in deren Arbeiterklassen sie ihre sichersten Stützen gesehen hatte, den Boden unter den Füßen wanken fühlte: in England, Frankreich und Deutschland, wo die großindustrielle Entwicklung mehr oder minder weit vorgeschritten war und die Arbeiter ein mehr oder minder beschränktes Wahlrecht für die gesetzgebenden Körperschaften besaßen. Äußerlich bekundete sich die Wichtigkeit dieser Länder für die Internationale schon dadurch, daß in ihrem Generalrat 20 Engländer, 15 Franzosen, 7 Deutsche, dagegen nur je 2 Schweizer und Ungarn, und je 1 Pole, Belgier, Ire, Däne und Italiener saßen.

In Deutschland hatte Lassalle die Arbeiteragitation von vornherein auf nationalem Boden angelegt, was ihm von Marx zum bitteren Vorwurf angerechnet worden war, aber was, wie sich alsbald herausstellen sollte, der deutschen Arbeiterpartei über eine Krise hinweghalf, die die sozialistische Entwicklung in allen übrigen Ländern des Festlandes durchzumachen hatte. Einstweilen jedoch hatte der Krieg ein augenblickliches Stocken der deutschen Arbeiterbewegung hervorgerufen; ihre beiden Fraktionen hatten genug mit sich selber zu tun, so daß sie sich nicht viel um die Internationale kümmern konnten. Zudem hatten sich zwar beide gegen die Annexion Elsaß-Lothringens und für die Pariser Kommune erklärt, aber die Eisenacher, die vom Generalrat allein als Zweig der Internationalen anerkannt wurden, waren dabei so in den Vordergrund getreten, daß sie mit Anklagen wegen Hochverrats und ähnlichen schönen Dingen noch vor den Lassalleanern bedrängt wurden. War es doch Bebel gewesen, der durch die feurige Reichstagsrede, worin er die deutschen Sozialdemokraten mit den französischen Kommunards solidarisch erklärte, nach Bismarcks eigenem Geständnis zuerst dessen Argwohn erweckt hatte, der sich nun in wachsenden Gewaltschlägen gegen die deutsche Arbeiterbewegung entlud. Viel entscheidender jedoch war für die Stellung der Eisenacher zu der Internationalen, daß sie sich ihr mehr und mehr entfremdeten, seitdem sie sich als selbständige Partei innerhalb nationaler Grenzen aufgetan hatten.

In Frankreich hatten sich die Thiers und Favre von der Krautjunkerversammlung ein hartes Ausnahmegesetz gegen die Internationale bewilligen lassen, das die durch den furchtbaren Aderlaß der Versailler Metzeleien ohnehin bis auf den Tod erschöpfte Arbeiterklasse völlig |466| lähmte. Gingen diese Ordnungshelden in ihrer wilden Rachsucht sogar so weit, von der Schweiz und selbst von England die Auslieferung von Kommuneflüchtlingen als angeblich gemeinen Verbrechern zu verlangen, und hätten sie in der Schweiz damit beinahe Glück gehabt! So waren für den Generalrat alle Beziehungen zu Frankreich selbst abgerissen. Um das französische Element in seinem Schoße vertreten zu sehen, nahm er eine Anzahl Kommuneflüchtlinge auf, teils solche, die schon früher der Internationalen angehört, teils solche, die sich durch ihre revolutionäre Energie bekanntgemacht hatten, wodurch der Pariser Kommune gehuldigt werden sollte. Das war soweit sehr gut, führte aber zu keiner Stärkung, sondern nur zu einer Schwächung des Generalrats. Denn auch die Flüchtlinge der Kommune verfielen dem unvermeidlichen Schicksal aller Emigranten, nämlich sich durch inneren Hader aufzureiben. Marx hatte jetzt mit den französischen Emigranten eine ähnliche Misere durchzumachen wie zwanzig Jahre früher mit den deutschen. Er war sicherlich der letzte, je irgendeine Anerkennung für das zu beanspruchen, was zu tun er für seine Pflicht hielt, aber die ewigen Klüngeleien der französischen Flüchtlinge entrissen ihm im November 1871 doch einmal den Stoßseufzer: »Dies der Dank dafür, daß ich fast fünf Monate in Arbeiten für die Flüchtlinge verloren und durch die ›Adress on the Civilwar‹ [Mehring übersetzt: Adresse] als ihr Ehrenretter gewirkt habe.«

Endlich verlor die Internationale die Stütze, die sie bisher an den englischen Arbeitern gehabt hatte. Äußerlich trat der Bruch dadurch zuerst hervor, daß zwei angesehene Führer des Trade-Unionismus, Lucraft und Odger, die dem Generalrat seit Anbeginn zugehört hatten, Odger sogar als Vorsitzender, solange dieses Amt bestand, ihren Austritt erklärten, wegen der Adresse über den Bürgerkrieg. Daraus ist die Legende entstanden, daß die Trade Unions sich von der Internationalen getrennt hätten, aus sittlichem Abscheu über deren Parteinahme für die Kommune. Das Stückchen Wahrheit, das darin ist, enthielt jedoch keineswegs den entscheidenden Gesichtspunkt. Die Sache hatte einen viel tieferen Zusammenhang.

Das Bündnis zwischen der Internationalen und den Trade Unions war von Anfang an eine Vernunftehe. Man brauchte sich gegenseitig, aber keiner von beiden Teilen dachte daran, sich mit dem anderen auf Gedeih und Verderb zu verschmelzen. Mit meisterhafter Geschicklichkeit hatte Marx verstanden, in der »Inauguraladresse» und den »Statuten der Internationalen« ein gemeinsames Programm zu schaffen, aber wenn die Trade Unions dies Programm auch unterschreiben konnten, so entnahmen sie praktisch doch nur das daraus, was ihnen in ihren Kram paßte. |467| Dies Verhältnis schilderte Lord Granville in seiner Antwortdepesche an die spanische Regierung ganz richtig. Zweck der Trade Unions war Verbesserung der Arbeitsbedingungen auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft, und um diesen Zweck zu erreichen oder zu sichern, verschmähten sie auch nicht den politischen Kampf, aber in der Wahl ihrer Kampfgenossen und ihrer Kampfmittel waren sie vollkommen frei von allen grundsätzlichen Bedenken, soweit es nicht eben auf ihren eigentlichen Zweck ankam.

Marx mußte bald erkennen, daß diese spröde Eigenart der Trade Unions, die sich tief in der Geschichte und dem Wesen des englischen Proletariats verwurzelt hatte, nicht so leicht zu brechen sei. Die Trade Unions brauchten die Internationale, um die Wahlreform durchzusetzen, aber als die Wahlreform durchgesetzt war, begannen sie mit den Liberalen zu liebäugeln, ohne deren Hilfe sie nicht darauf rechnen konnten, Parlamentssitze zu erobern. Schon im Jahre 1868 schalt Marx über diese »Intriganten«, unter denen er auch schon Odger nannte, der wiederholt für das Parlament kandidierte. Ein andermal rechtfertigte Marx die Tatsache, daß einige Anhänger des Sektenhäuptlings Bronterre O'Brien im Generalrat saßen, mit den bezeichnenden Worten: »Diese O'Brienniten, trotz ihrer Narrheiten, bilden im Council ein oft nötiges Gegengewicht gegen die Trade-Unionisten. Sie sind revolutionärer, über die Landfrage entschiedener, weniger national und bürgerlicher Bestechung in einer oder der anderen Form nicht zugänglich. Sonst hätte man sie längst an die Luft gesetzt.« Und dem wiederholt auftauchenden Vorschlag, einen eigenen Föderalrat für England zu bilden, widersetzte sich Marx, wie er u.a. in dem Rundschreiben des Generalrats vom 1. Januar 1870 ausführte, vornehmlich aus dem Grunde, weil den Engländern der Geist der Verallgemeinerung und die revolutionäre Leidenschaft fehle, so daß solch Föderalrat ein Spielball radikaler Parlamentsmitglieder werden würde.

Nach dem Abfall der englischen Arbeiterführer hat Marx in derbster Weise den Vorwurf gegen sie erhoben, daß sie sich dem liberalen Ministerium verkauft hätten. Das mag auf einzelne zutreffen, auf andere trifft es aber selbst dann nicht zu, wenn man die Bestechung in »anderer Form« als barer Zahlung versteht. Applegarth war als Trade-Unionist mindestens ebenso angesehen wie Odger und Lucraft, und galt beiden Häusern des Parlaments sogar als offizieller Vertreter des Trade-Unionismus. Schon nach dem Baseler Kongreß war er von seinen parlamentarischen Gönnern interpelliert worden, wie er sich zu den Beschlüssen dieses Kongresses über das Gemeineigentum stelle, hatte sich aber durch |468| die kaum verhüllte Drohung nicht einschüchtern lassen. Und als er 1870 in die Königliche Kommission zur Beratung der Gesetze gegen venerische Krankheiten gewählt wurde und damit als erster Arbeiter den Anspruch erhielt, von dem Souverän als Unser Getreuer und Vielgeliebter angesprochen zu werden, unterzeichnete er gleichwohl die Adresse über den »Bürgerkrieg in Frankreich« und blieb überhaupt dem Generalrat bis zu dessen Ende treu.

Gerade aber an dem Beispiel dieses persönlich unantastbaren Mannes, der auch später die Berufung ins Handelsamt abgelehnt hat, zeigte sich, worin der Umfall der englischen Arbeiterführer bestand. Das nächste Ziel der Trade Unions war Rechtsschutz für ihre Verbände und ihre Kassen. Dies Ziel schienen sie erreicht zu haben, als im Frühjahr 1871 die Regierung einen Gesetzentwurf einbrachte, wonach jede Trade Union ein Recht auf gesetzliche Registrierung und Rechtsschutz für ihre Kassen haben sollte, sobald ihre Statuten nicht gegen die Strafgesetze verstießen. Aber indem die Regierung mit der einen Hand gab, nahm sie mit der anderen Hand.

In einem zweiten Teil des Gesetzes wurde die Koalitionsfreiheit aufgehoben, indem alle Kautschukbestimmungen, die je gegen Streiks ersonnen worden waren, das Verbot von »Gewaltanwendungen«, »Drohungen«, »Einschüchterung«, »Belästigungen«, »Behinderungen« usw. von neuem bestätigt und selbst verschärft wurden. Es war ein richtiges Ausnahmegesetz: Handlungen, die von Trade Unions begangen wurden oder ihre Zwecke fördern sollten, wurden unter Strafe gestellt, während dieselben Handlungen, wenn sie von anderen Verbindungen begangen wurden, straflos blieben. In ihrer immerhin höflichen Weise sagen die Historiker des englischen Trade-Unionismus: »Es schien von geringem Nutzen, die Existenz von Gewerkvereinen für gesetzlich zu erklären, wenn das Strafgesetz so gedehnt wurde, daß es sich auch auf die alltäglichen friedlichen Mittel erstreckte, durch die diese Vereine ihre Zwecke zu erreichen pflegten.« Zum ersten Male wurden die Gewerkvereine gesetzlich anerkannte und geschützte Körperschaften, aber die gegen die gewerkschaftliche Aktion gerichteten Gesetzesbestimmungen wurden ausdrücklich bestätigt und selbst noch verschärft.

Natürlich wiesen die Trade Unions und ihre Führer dies Danaergeschenk zurück. Jedoch erreichten sie mit ihrem Widerstande nicht mehr, als daß die Regierung ihre Vorlage in zwei Teile zerlegte: ein Gesetz, das die Gewerkvereine legalisierte, und eine Strafgesetznovelle, die jede gewerkschaftliche Aktion mit schwerer Ahndung bedrohte. Das war natürlich kein wirklicher Erfolg, sondern eine Falle, in die die Gewerkschaftsführer |469|* gelockt werden sollten und in die sie auch wirklich hineintappten. Ihre Kassen standen ihnen höher als ihre gewerkschaftlichen Prinzipien; sie alle, und Applegarth war dabei sogar voran, ließen ihre Vereine auf Grund des neuen Gesetzes einregistrieren, und im September 1871 löste sich die Konferenz der amalgamierten Gewerkschaften, die Vertretung des »Neuen Unionismus«, der ehedem die Verbindung zwischen der Internationalen und den Trade Unions vermittelt hatte, in aller Form auf, weil »die Aufgaben erfüllt seien, zu deren Lösung sie ins Leben gerufen« worden sei.

Die Führer der Trade Unions mochten ihr Gewissen damit beschwichtigen, daß sie in ihrer allmählichen Verbürgerlichung sich daran gewöhnt hatten, in den Streiks nur noch rohe Formen der gewerkschaftlichen Bewegung zu sehen. Schon 1867 hatte einer von ihnen vor einer Königlichen Kommission erklärt, die Streiks bedeuteten für Arbeiter wie Unternehmer eine absolute Verschwendung an Geld. Sie bremsten deshalb auch mit allen Kräften, als im Jahre 1871 eine gewaltige Bewegung für den Neunstundentag durch das englische Proletariat ging, dessen Massen die »staatsmännische« Entwicklung ihrer Führer nicht mitgemacht hatten und durch die neue Strafgesetznovelle aufs äußerste gereizt wurden. Die Bewegung begann am 1. April mit einem Streik der Maschinenbauer in Sunderland, verbreitete sich schnell in den Maschinenbaudistrikten und gipfelte in dem Streik von Newcastle, der nach fünf Monaten mit einem vollständigen Siege der Arbeiter endete. Der große Verein der Maschinenbauer verhielt sich aber zu dieser Massenbewegung durchaus ablehnend; erst nach vierzehn Wochen erhielten die streikenden Arbeiter, die Mitglieder des Vereins waren, eine Streikunterstützung von fünf Schillingen wöchentlich außer der gewöhnlichen Arbeitslosenunterstützung. Die Bewegung, die sich schnell auf eine ganze Zahl anderer Berufe erstreckte, wurde fast ausschließlich von der Neunstundenliga getragen, die sich für diesen Kampf gebildet hatte und in John Burnett einen sehr fähigen Leiter gewann.

Um so lebhafteres Entgegenkommen fand die Neunstundenliga bei dem Generalrat der Internationalen, der seine Mitglieder Cohn und Eccarius nach Dänemark und Belgien sandte, um die Anwerbung ausländischer Arbeiter durch die Agenten der Fabrikanten zu hintertreiben. Das gelang ihnen auch in weitem Umfange. Bei den Verhandlungen mit Burnett konnte Marx die bittere Bemerkung nicht unterdrücken, es sei ein eigenes Mißgeschick, daß die organisierten Körperschaften der Arbeiter sich abseits der Internationalen hielten, bis sie in Verlegenheit gerieten; kämen sie rechtzeitig, so könnten alle Vorbeugungsmaßregeln |470| rechtzeitig getroffen werden. Indessen gewann es ganz den Anschein, als ob die Internationale einen überreichen Ersatz für das, was sie an den Führern verloren hatte, an den Massen gewinnen würde; immer neue Sektionen bildeten sich, und die bestehenden Sektionen gewannen eine wachsende Zahl neuer Mitglieder. Doch wurde dabei auch immer dringlicher die Forderung gestellt, England müsse seinen eigenen Föderalrat haben.

Marx machte nun endlich dies Zugeständnis, dem er sich lange widersetzt hatte; da nach dem Fall der Kommune eine neue Revolution nicht mehr in absehbarer Nähe lag, scheint er nicht mehr so großen Wert darauf gelegt zu haben, daß der Generalrat unmittelbar die Hand auf dem stärksten Hebel der Revolution habe. Aber seine alten Bedenken erwiesen sich doch als gerechtfertigt; mit der Einrichtung des Föderalrats sollte sich offenbaren, daß die Spuren der Internationalen in England früher verschwanden als in irgendeinem anderen Lande.

5. Die bakunistische Opposition

Hatte die Internationale schon in Deutschland, Frankreich und England nach dem Fall der Pariser Kommune mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, so vollends in anderen Ländern, wo sie erst schwachen Fuß gefaßt hatte. Der kleine Krisenherd, der sich schon vor Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges in der romanischen Schweiz gebildet hatte, dehnte sich über Italien, Spanien, Belgien und andere Länder aus; es gewann den Anschein, als ob es die Tendenzen Bakunins über die Tendenzen des Generalrats davontragen sollten.

Nicht als ob diese Entwicklung der agitatorischen Tätigkeit Bakunins oder, wie der Generalrat annahm, seinen Intrigen geschuldet wäre. Zwar unterbrach Bakunin seine Übersetzungsarbeit am »Kapital« schon in den ersten Tagen des Jahres 1871, um sich neuer politischer Tätigkeit zu widmen, aber diese Tätigkeit hatte nichts mit der Internationalen zu tun und verlief so, daß sie das politische Ansehen Bakunins schwer erschütterte. Es handelte sich um die berufene Affäre Netschajew, über die nicht so leicht hinwegzukommen ist, wie die begeisterten Verehrer Bakunins versuchen, indem sie ihm nur »zu große Intimität durch zu große Güte« vorwerfen.

Netschajew war ein junger Mann von einigen zwanzig Jahren, als Leibeigener aufgewachsen, aber durch das Wohlwollen liberaler Personen |471|* auf dem Seminar für den Lehrerberuf vorbereitet. Er geriet in die damalige russische Studentenbewegung, in der ihm weder seine dürftige Bildung noch sein mäßiger Verstand, aber wohl seine wilde Energie und sein unbändiger Haß gegen die zarische Unterdrückung eine gewisse Stellung verschafften. Seine hervorragendste Eigenschaft war jedoch die Freiheit von allen moralischen Bedenken, wenn es seine Sache zu fördern galt. Persönlich begehrte er nichts und entbehrte alles, wenn es nötig war, aber er scheute vor keiner noch so verwerflichen Handlung zurück, wenn er sich einbildete, dadurch revolutionär zu wirken.

Er war schon im Frühling 1869 in Genf erschienen, im doppelten Glanze eines aus der Peter-Pauls-Festung entkommenen Staatsverbrechers und des Abgesandten eines allmächtigen Komitees, das angeblich im geheimen die Revolution ganz Rußlands vorbereite. Beides war erfunden; weder gab es ein solches Komitee, noch hatte Netschajew in der Peter-Pauls-Festung gesessen. Nach der Verhaftung einiger seiner engeren Genossen war er ins Ausland gegangen, nach seiner eigenen Angabe, um die alten Emigranten zu beeinflussen, mit ihren Namen und ihren Schriften die russische Jugend zu begeistern. Diesen Zweck erreichte er bei Bakunin in einem schier unbegreiflichen Maße. Dem imponierte der »junge Wilde«, der »kleine Tiger«, wie er Netschajew zu nennen pflegte, als der Vertreter eines neuen Geschlechts, das mit revolutionärer Tatkraft das alte Rußland über den Haufen werfen würde. Bakunin glaubte so unbedingt an das »Komitee«, daß er sich dessen Befehlen, die ihm durch Netschajew übermittelt würden, ohne jede Einrede zu unterwerfen verpflichtete, und war sofort bereit, gemeinsam mit Netschajew eine Reihe schärfster revolutionärer Schriften zu veröffentlichen und über die russische Grenze zu werfen.

Für diese Literatur ist Bakunin zweifellos mitverantwortlich, und es ist von keinem entscheidenden Interesse, zu untersuchen, ob einige ihrer ärgsten Leistungen von ihm oder von Netschajew herrühren. Zudem ist seine Autorschaft weder bestritten an dem Aufrufe, der die russischen Offiziere aufforderte, dem »Komitee« denselben unbedingten Gehorsam zu leisten, zu dem Bakunin selbst sich verpflichtet hatte, noch an der Flugschrift, die das russische Räuberwesen idealisierte, noch an dem revolutionären Katechismus, worin sich Bakunins Vorliebe für grausige Vorstellungen und schreckliche Worte bis zum Übermaß austobte, Nicht erwiesen ist jedoch, daß Bakunin je irgendeinen Anteil an Netschajews demagogischer Praxis gehabt hat, deren Opfer er selbst werden sollte, und deren allzu späte Erkenntnis ihn dem »kleinen Tiger« die Wege weisen ließ. Wenn Bakunin und Netschajew vom Generalrat der Internationalen |472|* beschuldigt worden sind, daß sie unschuldige Personen in Rußland ins Verderben gestürzt hätten, indem sie ihnen Briefe, Druckschriften oder Telegramme in einer Form zusandten, die notwendig die Aufmerksamkeit der russischen Polizei erregen mußte, so hätte ein Mann wie Bakunin vor solchen Vorwürfen billigerweise geschützt sein sollen. Den wirklichen Sachverhalt gab Netschajew bei seiner Entlarvung selbst zu; er bekannte sich mit eiserner Stirn zu seiner nichtswürdigen Methode, alle, die nicht vollständig solidarisch mit ihm seien, zu kompromittieren, um sie zu vernichten oder ganz in die Bewegung hineinzureißen. Nach derselben Methode ließ er von Personen, die ihm vertrauten, in Augenblicken der Aufregung kompromittierende Erklärungen unterzeichnen oder stahl ihnen vertrauliche Briefe, in deren Besitz er einen erpresserischen Druck auf sie ausüben konnte.

Zur Kenntnis dieser Methode war Bakunin noch nicht gekommen, als Netschajew im Herbst 1869 nach Rußland zurückkehrte. Er nahm eine schriftliche Beglaubigung Bakunins mit, worin dieser ihn als »bevollmächtigten Vertreter«, natürlich nicht der Internationalen, und selbst nicht einmal der Allianz der sozialistischen Demokratie, sondern einer Europäischen revolutionären Allianz anerkannte, die Bakunins erfindungsreicher Geist gewissermaßen als Ableger der Allianz für russische Angelegenheiten gegründet hatte. Sie bestand vermutlich erst auf dem Papier, aber der Name Bakunins war wirksam genug, um der Agitation Netschajews unter der studierenden Jugend einen gewissen Nachdruck zu geben. In der Hauptsache arbeitete er aber auch jetzt mit dem Schwindel des »Komitees«, und als einer seiner neu gewonnenen Anhänger, der Student Iwanow, an der Existenz dieser geheimen Obrigkeit zu zweifeln begann, schaffte er den unbequemen Zweifler durch Meuchelmord aus dem Wege. Die Auffindung der Leiche führte zu zahlreichen Verhaftungen, doch entkam Netschajew über die Grenze.

In den ersten Tagen des Januar 1870 erschien er wieder in Genf, und nun begann das alte Spiel. Bakunin trat mit Feuereifer dafür ein, daß die Tötung Iwanows ein politisches, aber kein gemeines Verbrechen sei, wegen dessen die Schweiz die von der russischen Regierung beanspruchte Auslieferung Netschajews nicht bewilligen dürfe. Einstweilen hielt sich Netschajew so gut versteckt, daß die Polizei seiner nicht habhaft werden konnte. Er selbst aber spielte seinem Beschützer einen bösen Streich. Er veranlaßte Bakunin, die Übersetzung des »Kapitals« aufzugeben, um seine ganze Kraft der revolutionären Propaganda zu widmen, und versprach, in Sachen des bereits gezahlten Vorschusses sich mit dem Verleger zu einigen. Bakunin, der damals selbst in den kümmerlichsten Umständen |473|* lebte, konnte dies Versprechen nur dahin auffassen, daß Netschajew oder sein geheimnisvolles »Komitee« dem Verleger die 300 Rubel Vorschuß zurückerstatten werde. Netschajew aber sandte einen »offiziellen Beschluß« des »Komitees«, auf einem Bogen, der mit dessen Briefkopfe versehen und dazu mit einem Beil, einem Dolch und einem Revolver verziert war, nicht an den Verleger selbst, sondern an Lubawin, der den Verleger vermittelt hatte. Diesem wurde darin verboten, die Rückerstattung des Vorschusses von Bakunin zu verlangen, falls er nicht des Todes gewärtig sein wolle. Erst durch einen beleidigenden Brief Lubawins erfuhr Bakunin davon. Er beeilte sich, durch einen neuen Empfangsschein seine Schuld anzuerkennen, und ebenso seine Verpflichtung, sie zurückzuzahlen, sobald es in seinen Kräften stände, brach aber mit Netschajew, von dem er inzwischen auch andere Dinge erfahren hatte, wie den Plan, die Simplonpost zu überfallen und zu berauben.

Für Bakunin hatte die unbegreifliche und für einen politischen Kopf unverzeihliche Leichtgläubigkeit, die er in dieser abenteuerlichsten Episode seines Lebens bewiesen hatte, sehr unangenehme Folgen. Marx erfuhr schon im Juli 1870 davon, und zwar diesmal durch eine sehr lautere Quelle: nämlich den braven Lopatin, der im Mai, bei einem Aufenthalt in Genf, sich vergebens bemüht hatte, Bakunin zu überzeugen, daß kein »Komitee« in Rußland existiere, daß Netschajew nie in der Peter-Pauls-Festung gesessen habe, daß die Erwürgung Iwanows ein ganz zweckloser Mord gewesen sei, und wenn einer, so mußte Lopatin von diesen Dingen unterrichtet sein. Marx mußte dadurch in der ungünstigen Meinung, die er sich nunmehr über Bakunin gebildet hatte, wesentlich bestärkt werden. Die russische Regierung aber nutzte die günstige Gelegenheit aus, als sie durch die zahlreichen Verhaftungen nach Iwanows Ermordung hinter das Treiben Netschajews gekommen war. Um die russischen Revolutionäre vor aller Welt zu blamieren, ließ sie zum ersten Male eine politische Gerichtsverhandlung öffentlich und vor Geschworenen führen; im Juli 1871 begannen die Verhandlungen des sogenannten Prozesses Netschajew in Petersburg, die gegen mehr als achtzig Angeklagte, zumal Studenten, geführt wurden und den meisten von ihnen schwere Verurteilungen zu Gefängnis oder auch zu Zwangsarbeit in den sibirischen Bergwerken eintrugen.

Netschajew selbst war damals noch auf freien Füßen, er hielt sich abwechselnd in der Schweiz, in London und in Paris auf, wo er die Zeit der Belagerung und der Kommune verlebte; erst im Herbst 1872 wurde er in Zürich durch einen Spitzel verraten. Daß Bakunin jetzt noch mit seinen Freunden bei Schabelitz in Zürich ein Flugblatt erscheinen |474| ließ, um die Auslieferung des Verhafteten wegen gemeinen Mordes zu hindern, gereicht ihm nicht zur Unehre. Ebensowenig daß er, als die Auslieferung dennoch erfolgte, an Ogarew schrieb, der sich ebenfalls von Netschajew hatte betören lassen und ihm sogar den Batmetjewschen Fonds, über den er nach Herzens Tode verfügen durfte, ganz oder teilweise ausgeliefert hatte: »Eine gewisse innere Stimme sagt mir, daß Netschajew, der unrettbar verloren ist und dies ohne Zweifel weiß, diesmal aus der Tiefe seines Wesens, das verworren, versumpft, aber nicht niedrig ist, seine ganze ursprüngliche Energie und Standhaftigkeit wieder hervorrufen wird. Er wird als Held zugrunde gehen und diesmal niemand und nichts verraten.« Dieser Erwartung hat Netschajew in zehn furchtbaren Kerkerjahren bis an seinen Tod entsprochen; er hat seine früheren Sünden nach Möglichkeit gutzumachen gesucht und eine stählerne Energie bewährt, die selbst seine Wachmannschaften seinem Willen fügsam machte.

Zur selben Zeit, wo der Bruch zwischen Bakunin und Netschajew erfolgte, brach der Deutsch-Französische Krieg aus. Er gab den Gedanken Bakunins sofort eine andere Richtung; der alte Revolutionär rechnete jetzt darauf, daß der Einmarsch der deutschen Heere das Signal zur sozialen Revolution in Frankreich geben werde. Gegenüber einer aristokratischen, monarchischen, militärischen Invasion dürften die französischen Arbeiter nicht untätig bleiben, wenn sie nicht nur ihre eigene Sache, sondern auch die Sache des Sozialismus nicht verraten wollten; der Sieg Deutschlands sei der Sieg der europäischen Reaktion. Wenn Bakunin mit Recht bestritt, daß eine Revolution im Innern den Widerstand des Volkes nach außen lähmen würde und sich hierfür gerade auf die französische Geschichte berufen konnte, so bewegten sich seine Vorschläge, die bonapartistisch und reaktionär gesinnte Bauernklasse zum gemeinsamen revolutionären Vorgehen mit den städtischen Arbeitern aufzustürmen, doch durchaus nur im Luftreich des Traums. Man solle den Bauern nicht mit irgendwelchen Dekreten oder kommunistischen Vorschlägen oder Organisationsformen kommen; das würde nur ihren Aufstand gegen die Städte bewirken. Man solle vielmehr aus ihrer Seele die Revolution hervorlocken, und was dergleichen phantastische Redensarten mehr waren.

Nach dem Fall des Kaiserreichs erließ Guillaume einen Aufruf in der »Solidarité«, mit bewaffneten Freischaren der französischen Republik zu Hilfe zu eilen. Es war ein richtiger Narrenstreich, zumal im Munde eines Mannes, der wahrhaft fanatisch die Enthaltung der Internationalen von aller Politik predigte; auch hatte er keine andere Wirkung, als ausgelacht |475|* zu werden. Nicht jedoch darf man den Versuch Bakunins, am 26. September eine revolutionäre Kommune in Lyon auszurufen, unter demselben Gesichtspunkt betrachten. Bakunin war von revolutionären Elementen dorthin berufen worden. Man hatte sich des Stadthauses bemächtigt, die »Verwaltungs- und Regierungsmaschinerie des Staates« abgeschafft und dafür die »Revolutionäre Föderation der Gemeinde« ausgerufen, als der Verrat des Generals Cluseret und die Feigheit einiger anderer Personen einen leichten Sieg der Nationalgarde über die Bewegung ermöglichte. Vergebens hatte Bakunin zu energischen Maßregeln gedrängt und in erster Reihe gefordert, die Vertreter der Regierung zu verhaften. Er selbst wurde gefangengenommen, aber durch eine Abteilung freier Schützen wieder befreit. Er hielt sich noch einige Wochen in Marseille auf, in der Hoffnung, daß die Bewegung wieder erwachen werde, und als sich seine Hoffnung nicht erfüllte, kehrte er Ende Oktober nach Locarno zurück.

Der Spott über diesen mißlungenen Versuch hätte billigerweise der Reaktion überlassen werden sollen. Ein Gegner Bakunins, dem alle Abneigung gegen den Anarchismus noch nicht die Unbefangenheit des Urteils geraubt hat, schreibt zutreffend: »Leider ließen sich auch in der sozialdemokratischen Presse spöttische Stimmen hören, was Bakunin durch seinen Versuch wahrlich nicht verdient hat. Selbstverständlich können und müssen diejenigen, die die anarchistischen Ansichten Bakunins und seiner Anhänger nicht teilen, sich kritisch zu seinen grundlosen Hoffnungen verhalten. Doch abgesehen davon war sein damaliges Auftreten ein mutiger Versuch, die eingeschlafene Energie des französischen Proletariats zu wecken, und sie gleichzeitig gegen den äußern Feind und die kapitalistische Gesellschaftsordnung zu richten. Ungefähr dasselbe versuchte später die Kommune, die Marx bekanntlich warm begrüßte.« Das ist jedenfalls sachlicher und vernünftiger gesprochen, als wenn der Leipziger »Volksstaat« die von Bakunin in Lyon erlassene Proklamation nach bekannter Melodie ansang, sie hätte im Berliner Preßbüro nicht passender für Bismarck gemacht werden können.

Sein Scheitern in Lyon entmutigte Bakunin aufs tiefste. Er sah die Revolution, die er schon mit Händen greifen zu können geglaubt hatte, in weite Ferne entschwinden, zumal als auch der Aufstand der Kommune niedergeworfen wurde, der für den Augenblick neue Hoffnungen in ihm erweckt hatte. Sein Haß gegen die revolutionäre Propaganda, wie sie Marx trieb, wuchs in demselben Maße an, als er ihr die Hauptschuld an der seines Erachtens schläfrigen Haltung des Proletariats gab. Dazu war seine materielle Lage überaus kläglich; seine Brüder halfen ihm |476| nicht, und es gab Tage, wo er nicht mehr als fünf Centimes in der Tasche hatte und nicht die gewohnte Tasse Tee trinken konnte. Seine Frau fürchtete, daß er seine Energie verlieren und sich moralisch zerstören würde. Er selbst aber entschloß sich, in einem Werke, das er stückweise in freien Augenblicken niederschrieb, seine Ansichten über den Werdegang der Menschheit, der Philosophie, die Religion, den Staat und die Anarchie zu entwickeln. Es sollte sein Vermächtnis sein.

Indessen ist es nicht vollendet worden; diesem unruhigen Geiste war kein langes Feiern beschieden. Utin hatte seine Hetzereien in Genf fortgesetzt und im August 1870 erreicht, daß Bakunin und einige seiner Freunde aus der Genfer Zentralsektion ausgeschlossen wurden, weil sie der Sektion der Allianz angehörten. Dann hatte Utin den Schwindel in die Welt gesetzt, daß die Sektion der Allianz niemals vom Generalrat in die Internationale aufgenommen worden sei; die Dokumente, die sie darüber von Eccarius und Jung erhalten zu haben behaupte, seien gefälscht. Nun war inzwischen Robin nach London übergesiedelt und in den Generalrat aufgenommen worden, den er in der »Égalité« heftig bekämpft hatte. Damit gab der Generalrat einen Beweis seiner Unbefangenheit, denn Robin hatte nicht aufgehört, ein geschworener Anhänger der Allianz zu sein. Er hatte schon am 14. März 1871 beantragt, eine private Konferenz der Internationalen zur Entscheidung des Genfer Streits einzuberufen. Diesen Antrag hatte der Generalrat zwar am Vorabend der Kommune ablehnen zu sollen geglaubt, aber am 25. Juli beschloß er, die Genfer Sache einer Konferenz zu unterbreiten, die für den September einberufen werden sollte. In derselben Sitzung bestätigte er auf Verlangen Robins die Schreiben als echt, in denen Eccarius und Jung der Genfer Sektion der Allianz ihre Aufnahme in die Internationale mitgeteilt hatten.

Kaum war dieser Brief in Genf eingetroffen, als die Sektion der Allianz sich am 6. August freiwillig auflöste und diesen Beschluß sofort dem Generalrat mitteilte. Die Sache sollte sehr großartig aussehen; nachdem die Sektion durch den Generalrat ihre Genugtuung gegen die Lügen Utins erhalten hatte, opferte sie sich selbst im Interesse des Friedens und der Versöhnung. Tatsächlich entschieden aber andere Beweggründe, die Guillaume später offen zugegeben hat. Die Sektion war zu völliger Bedeutungslosigkeit herabgesunken und erschien namentlich den Kommuneflüchtlingen in Genf als der tote Rest persönlicher Zänkereien. In eben diesen Flüchtlingen sah Guillaume geeignete Elemente, um auf breiterer Basis den Kampf gegen den Genfer Föderalrat zu führen. Deshalb wurde die Sektion der Allianz aufgelöst, und in der Tat vereinigten sich ihre Trümmer wenige Wochen später mit Kommunards |477| zu einer neuen »Sektion der revolutionären sozialistischen Propaganda und Aktion«, die sich zwar mit den allgemeinen Prinzipien der Internationalen einverstanden erklärte, aber sich die volle Freiheit vorbehielt, die ihr die Statuten und die Kongresse der Internationalen gewährten.

Mit alledem hatte Bakunin zunächst gar nichts zu tun. Es kennzeichnet seine angebliche Allmacht als Oberhaupt der Allianz, daß die Genfer Sektion nicht einmal für nötig hielt, bei ihm in Locarno anzufragen, ehe sie sich auflöste. Nicht jedoch aus verletzter Empfindlichkeit, sondern weil er die Auflösung der Sektion unter den gegebenen Umständen für einen feigen und hinterhältigen Streich hielt, protestierte Bakunin in einem scharfen Schreiben gegen sie; »begehen wir keine Feigheit, unter dem Vorwande, die Einheit in der Internationalen zu retten«. Zugleich aber machte er sich daran, in einer umfangreichen Darstellung der Genfer Wirren die Prinzipien klarzustellen, um die es sich nach seiner Meinung bei dem Streite handelte als Leitfaden für seine Anhänger auf der Londoner Konferenz.

Von dieser Arbeit haben sich beträchtliche Bruchstücke erhalten, die sich sehr zu ihrem Vorteil von den russischen Flugschriften unterscheiden, die Bakunin ein Jahr vorher mit Netschajew fabriziert hatte. Sie sind bis auf gelegentliche kräftige Ausdrücke ruhig und sachlich geschrieben, und wie man immer zu Bakunins besonderer Auffassung stehen mag, so führen sie jedenfalls den überzeugenden Nachweis, daß der Ursprung der Genfer Wirren in tieferem Boden wurzelte, als in dem Flugsande persönlicher Krakeelereien, und daß, soweit solche mitspielten, der wesentliche Teil der Schuld auf Utin und Konsorten fiel.

Den tiefen Gegensatz, der ihn von Marx und dessen »Staatskommunismus« trennte, verleugnete Bakunin keinen Augenblick, und er sprang nicht sanft mit dem Gegner um. Aber immerhin stellte er ihn nicht als ein nichtswürdiges Subjekt hin, das nichts als seine eigenen, verwerflichen Zwecke im Auge hätte. Indem er nachwies, daß die Internationale im Schoße der Massen selbst entstanden und dann durch gescheite und der Volkssache ergebene Männer entbunden worden sei, fügte er hinzu: »Wir ergreifen diese Gelegenheit, den berühmten Führern der deutschen Kommunistenpartei zu huldigen, den Bürgern Marx und Engels vor allem, und ebenso dem Bürger Ph. Becker, unserem früheren Freunde und jetzigen unversöhnlichen Gegner, die, soweit es einzelnen gegeben ist, etwas zu schaffen, die wahren Schöpfer der Internationalen gewesen sind. Wir huldigen ihnen um so lieber, als wir gezwungen sein werden, sie bald zu bekämpfen. Unsere Achtung für sie ist rein und tief, aber sie |478| geht nicht bis zur Götzenanbetung und wird uns niemals dazu hinreißen, ihnen gegenüber die Rolle von Sklaven zu übernehmen. Und obgleich wir volle Gerechtigkeit den ungeheuren Diensten widerfahren lassen, die sie der Internationalen geleistet haben und selbst jetzt noch leisten, so werden wir doch bis aufs Messer bekämpfen ihre falschen autoritären Theorien, ihre diktatorischen Anmaßungen und jene Manier unterirdischer Intrigen, eitler Umtriebe, elender Persönlichkeiten, unreiner Beleidigungen und infamer Verleumdungen, die auch sonst die politischen Kämpfe fast aller Deutschen kennzeichnen und die sie unglücklicherweise in die Internationale verschleppt haben.« Das war gewiß hinlänglich grob, aber nie hat sich Bakunin dazu hinreißen lassen, die unsterblichen Verdienste zu bestreiten, die sich Marx als Gründer und Leiter der Internationalen erworben hat.

Indessen auch diese Arbeit hat Bakunin nicht vollendet. Er war noch dabei, sie niederzuschreiben, als Mazzini in einer Wochenschrift, die er in Lugano herausgab, harte Angriffe gegen die Kommune und die Internationale veröffentlichte. Sofort antwortete Bakunin in der »Antwort eines Internationalen an Mazzini«, der er andere Flugschriften in gleichem Sinne folgen ließ, als Mazzini und dessen Anhang die Polemik aufnahm. Nach allen Fehlschlägen der letzten Zeit hatte Bakunin nunmehr einen vollen Erfolg: die Internationale, die bisher in Italien nur kümmerlich gediehen war, breitete sich in dem Lande schnell aus. Das verdankte Bakunin aber nicht seinen »Intrigen«, sondern den beredten Worten, womit er die revolutionäre Spannung zu lösen verstand, in die namentlich die italienische Jugend durch die Pariser Kommune versetzt worden war.

In Italien hatte sich die große Industrie erst wenig entwickelt; im keimenden Proletariat erwachte nur langsam ein Klassenbewußtsein, und ihm fehlten alle gesetzlichen Waffen zu Schutz und Trutz. Dagegen hatten die Kämpfe eines halben Jahrhunderts um die nationale Einheit in den bürgerlichen Klassen eine revolutionäre Überlieferung genährt und wach erhalten; in unzähligen Aufständen und Verschwörungen war um dies Ziel gerungen worden, bis es endlich in einer Form erreicht wurde, die für alle revolutionären Kreise eine große Enttäuschung sein mußte: unter dem Schutze erst französischer und dann deutscher Waffen hatte der reaktionärste Staat der Halbinsel eine italienische Monarchie geschaffen. Aus dieser verdrossenen Stimmung wurde die revolutionäre Jugend durch die heldenhaften Kämpfe der Pariser Kommune emporgerissen. Mochte sich Mazzini am Rande des Grabes unwirsch von dem neuen Lichte abwenden, das seinen alten Sozialistenhaß |479|* reizte, so huldigte Garibaldi, der in weit höherem Grade der nationale Held war, um so, aufrichtiger der »Sonne der Zukunft«, der Internationalen.

Bakunin wußte recht gut, aus welchen Schichten der Nation sein Anhang strömte. »Was Italien bisher gefehlt hat«, schrieb er im April 1872, »das waren nicht die Instinkte, sondern gerade die Organisation und die Idee. Beide bilden sich jetzt derart, daß Italien nächst Spanien, mit Spanien in dieser Stunde vielleicht das revolutionärste Land ist. In Italien existiert, was den andern Ländern fehlt: eine glühende, energische Jugend, ohne jede Stellung, ohne Karriere, ohne Ausweg, die trotz ihrer Bourgeois-Herkunft nicht moralisch und intellektuell erschöpft ist wie die Bourgeois-Jugend anderer Länder. Heute stürzt sie sich kopfüber in den revolutionären Sozialismus mit unserm ganzen Programm, dem Programm der Allianz.« Diese Zeilen Bakunins waren an einen spanischen Gesinnungsgenossen gerichtet, den sie anfeuern sollten, doch war es keine ermunternde Vorspiegelung, sondern eine unanfechtbare Tatsache, wenn Bakunin seine Erfolge in Spanien, wo er nicht einmal persönlich, sondern nur durch einige Freunde wirken konnte, ebenso hoch, wenn nicht noch höher schätzte als seine Erfolge in Italien.

Auch in Spanien war die industrielle Entwicklung noch sehr im Hintertreffen, und wo es schon ein modernes Proletariat gab, war es an Händen und Füßen gefesselt, aller und jeder Rechte bar, so daß ihm in seiner Not nur der bewaffnete Aufstand als letzte Hilfe blieb; Barcelona, die größte spanische Fabrikstadt, zählte in seiner Geschichte mehr Barrikadenkämpfe als irgendeine andere Stadt der Welt. Dazu kamen die langjährigen Bürgerkriege, die das Land zerrissen hatten, und die gewaltige Enttäuschung aller revolutionären Elemente, die die bourbonische Dynastie im Herbst 1868 nur verjagt hatten, um nunmehr unter der - immerhin sehr wackeligen - Herrschaft eines fremden Königs zu stehen. Auch in Spanien fielen die Feuerfunken, die der Brand des revolutionären Paris verstreute, in hochgehäuften Zündstoff.

Anders als in Italien und Spanien lagen die Dinge in Belgien insofern, als es hier schon eine proletarische Massenbewegung gab. Aber sie beschränkte sich fast ganz auf den wallonischen Teil des Landes; ihr Rückgrat bildeten die äußerst revolutionär gesinnten Bergarbeiter der Borinage, denen der Gedanke, auf gesetzlichem Wege eine Hebung ihrer Klassenlage zu erreichen, durch die Blutbäder, in denen ihre Streiks jahraus jahrein ertränkt worden waren, schon im Keim erstickt wurde. Ihre Führer aber waren Proudhonisten und neigten deshalb schon den Ansichten Bakunins zu.

|480| Verfolgt man die bakunistische Opposition, wie sie sich nach dem Falle der Pariser Kommune innerhalb der Internationalen entwickelte, so findet man, daß sie von Bakunin eben nur den Namen trug, weil sie in seinen Anschauungen die Lösung der sozialen Gegensätze und Spannungen, denen sie tatsächlich entsprang, zu finden glaubte.

6. Die zweite Konferenz in London

Die Konferenz, die der Generalrat der Internationalen für den Monat September nach London zu berufen beschlossen hatte, war bestimmt, den fälligen Jahreskongreß zu ersetzen.

In Basel war 1869 beschlossen worden, den nächsten Kongreß in Paris abzuhalten. Aber die Hetzjagd, die der würdige Ollivier zur Feier des Plebiszits gegen die französischen Sektionen veranstaltete, veranlaßte den Generalrat, im Juli 1870, kraft seiner Befugnis, den Ort des Kongresses zu verlegen, ihn nach Mainz einzuberufen. Zugleich schlug der Generalrat den nationalen Föderationen vor, seinen Sitz aus London in ein anderes Land zu verlegen, was jedoch einstimmig abgelehnt wurde. Dann vereitelte der Ausbruch des Krieges auch den Mainzer Kongreß, und der Generalrat wurde von den Föderalräten beauftragt, je nach den Ereignissen die Zeit des nächsten Kongresses zu bestimmen

Die Ereignisse entwickelten sich jedoch nicht so, daß es ratsam erschien, schon für den Herbst 1871 den Kongreß einzuberufen. Es war zu erwarten, daß der Druck, unter dem die Mitglieder der Internationalen in den einzelnen Ländern lebten, ihnen die Beschickung des Kongresses nur in winzigem Maße erlauben würde und daß die wenigen Mitglieder, die gleichwohl erscheinen möchten, damit erst recht der Rache ihrer einheimischen Regierungen denunziert werden würden. Die Zahl ihre Opfer zu vermehren, hatte die Internationale aber um so geringeren Anlaß, als jetzt schon die Sorge für ihre Märtyrer die äußersten Ansprüche an ihre Kräfte und Mittel stellte.

So entschied sich der Generalrat dafür, statt eines öffentlichen Kongresses zunächst eine geschlossene Konferenz nach London zu berufen wie schon im Jahre 1865, und ihr spärlicher Besuch bestätigte seine Befürchtungen. Die Konferenz, die vom 17. bis 23. September tagte, war nur mit 23 Delegierten beschickt, darunter 6 Belgiern, 2 Schweizern, 1 Spanier und 13 Mitgliedern des Generalrats, von denen 6 jedoch nur beratende Stimme hatten.

|481| Von den umfang- und zahlreichen Beschlüssen der Konferenz hatten einige, die sich auf eine allgemeine Statistik der Arbeiterklasse, die internationalen Beziehungen der Gewerkschaften und die Ackerbauer bezogen, unter den obwaltenden Umständen nur eine akademische Bedeutung. Worauf es vor allem ankam, war die Rüstung der Internationalen gegen den tobenden Ansturm der äußeren Feinde und ihre innere Festigung gegen zersetzende Elemente im eigenen Schoße, Aufgaben, die im wesentlichen zusammenfielen.

Der wichtigste Beschluß der Konferenz bezog sich auf die politische Wirksamkeit der Internationalen. Er berief sich zunächst auf die »Inauguraladresse«, die »Statuten«, den Beschluß des Lausanner Kongresses und andere offizielle Kundgebungen des Bundes, in denen die politische Emanzipation der Arbeiterklasse für untrennbar von ihrer sozialen Emanzipation erklärt worden war. Dann führte er aus, daß die Internationale einer zügellosen Reaktion gegenüberstehe, die jedes Emanzipationsstreben der Arbeiterklasse schamlos unterdrücke und durch rohe Gewalt den Klassenunterschied und die auf ihm gegründete Herrschaft der besitzenden Klassen zu verewigen suche; daß die Arbeiterklasse gegen diese Gesamtgewalt der besitzenden Klassen nur als Klasse handeln könne, indem sie sich selbst als besondere politische Partei konstituiere, im Gegensatz zu allen alten Parteibildungen der besitzenden Klassen; daß diese Konstituierung der Arbeiterpartei als politische Partei unerläßlich sei für den Triumph der sozialen Revolution und ihres Endziels: Abschaffung der Klassen; daß endlich die Vereinigung der Einzelkräfte, die die Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Punkte bereits durch ihre ökonomischen Kräfte hergestellt habe, auch als Hebel für ihren Kampf gegen die politische Gewalt ihrer Ausbeuter benutzt werden müsse. Aus allen diesen Gründen erinnerte die Konferenz alle Mitglieder der Internationalen daran, daß in dem streitenden Stand der Arbeiterklasse ihre ökonomische Bewegung und ihre politische Betätigung untrennbar verbunden seien. In organisatorischer Beziehung ersuchte die Konferenz den Generalrat, sich in der Zahl der Mitglieder zu beschränken, durch die er sich ergänze, und dabei nicht zu ausschließlich dieselbe Nationalität zu berücksichtigen. Der Name eines Generalrats solle ihm allein zustehen; die Föderalräte der einzelnen Länder sollten nach diesen, die örtlichen Sektionen nach ihren Ortsnamen bezeichnet werden; alle Sektennamen, wie Positivisten, Mutualisten, Kollektivisten, Kommunisten usw. schloß die Konferenz aus. Jedes Mitglied der Internationalen solle wie bisher, jährlich einen Penny für den Generalrat zahlen.

|482| Für Frankreich empfahl die Konferenz eine lebhafte Werkstättenagitation und Verbreitung von Druckschriften, für England die Bildung eines eigenen Föderalrats, den der Generalrat bestätigen werde, sobald er von den Zweigen in den Provinzen und den Trade Unions anerkannt worden sei. Ferner erklärte die Konferenz, daß die deutschen Arbeiter während des Deutsch-Französischen Krieges ihre Pflicht erfüllt hätten. Dagegen lehnte sie jede Verantwortung für die sogenannte Verschwörung des Netschajew ab und beauftragte Utin, einen gedrängten Bericht über den Prozeß Netschajew, nach den russischen Quellen, in der Genfer »Égalité« zu veröffentlichen, ihn jedoch vor der Veröffentlichung dem Generalrat zu unterbreiten.

Die Frage der Allianz erklärte die Konferenz für erledigt, nachdem sich ihre Genfer Sektion freiwillig aufgelöst habe und die Annahme von Sektennamen usw., durch die eine besondere, von den gemeinsamen Zwecken der Internationalen verschiedene Mission beansprucht werde, verboten worden sei. Was die Jurasektionen anbetraf, so billigte die Konferenz den Beschluß des Generalrats vom 29. Juni 1870, der den Genfer Föderalrat der romanischen Schweiz als allein berechtigt anerkannt hatte, aber sie rief gleichzeitig den Geist der Einigkeit und Solidarität an, der gegenüber den Verfolgungen, denen die Internationale gegenwärtig ausgesetzt sei, mehr als je die Arbeiter durchdringen müsse. Sie riet deshalb den braven Arbeitern der Jurasektionen, sich dem Genfer Föderalrat wieder anzuschließen. Sollte sich dies aber nicht ermöglichen lassen, so entschied die Konferenz, daß die ausgetretenen Sektionen sich Jurassische Föderation nennen sollten. Dann aber erklärte die Konferenz, daß der Generalrat gehalten sein werde, alle angeblichen Organe der Internationalen zu verleugnen, die wie der »Progrès« und die »Solidarité« im Jura vor dem Bourgeoispublikum innere Fragen der Internationalen erörterten.

Schließlich überließ die Konferenz der Entscheidung des Generalrats, Ort und Zeit des nächsten Kongresses oder der ihn etwa ersetzenden Konferenz zu bestimmen.

Im ganzen und großen läßt sich den Beschlüssen der Konferenz ein Geist sachlicher Mäßigkeit nicht bestreiten; der Ausweg, den sie den Jurasektionen vorschlug, nämlich sich Jurassische Föderation zu nennen, war von diesen selbst schon erwogen worden. Nur die Beschlüsse wegen Netschajews enthielten eine persönliche Spitze, die sich durch sachliche Gesichtspunkte nicht begründen ließ. Wenn die Enthüllungen des Prozesses Netschajews von der bürgerlichen Presse gegen die Internationale ausgebeutet wurden, so handelte es sich um eine Verleumdung, wie sie |483| ihr damals täglich zu Dutzenden an den Kopf flogen, ohne daß sie sich sonst zum Gegenbeweis verpflichtet gefühlt hätte; in ähnlichen Fällen genügte es ihr, den Unrat mit einem verächtlichen Fußtritt in die Gosse zu schleudern. Wollte sie aber einmal eine Ausnahme von der Regel machen, so durfte sie nicht einen gehässigen Intriganten zu ihrem Berichterstatter bestellen, von dem gegenüber Bakunin etwa dasselbe Maß von Wahrheitsliebe zu erwarten war wie von der bürgerlichen Presse.

Utin leitete die ihm aufgetragene Arbeit denn auch mit einer, seiner würdigen Mordgeschichte ein. In Zürich, wo er seine Arbeit auszuführen beabsichtigte und wo er keine anderen Feinde zu haben behauptete als einige allianzistische Slawen unter dem Befehle Bakunins, überfielen ihn angeblich acht slawisch redende Individuen eines schönen Tages an einem einsamen Orte in der Nähe eines Kanals, verwundeten ihn, warfen ihn zu Boden und würden ihn vollends getötet und seine Leiche in den Kanal versenkt haben, wenn nicht vier deutsche Studenten des Weges gekommen wären und dies kostbare Leben für die künftigen Dienste des Zaren gerettet hätten.

Sieht man von dieser Ausnahme ab, so boten die Beschlüsse der Konferenz zweifellos einen Boden der Verständigung, zumal in einer Zeit, wo es für die gesamte Arbeiterbewegung hieß: Feinde ringsum! Indessen schon am 20. Oktober meldete sich die Sektion der revolutionären sozialistischen Propaganda und Aktion, die sich in Genf aus den Trümmern der Allianz und einigen Kommuneflüchtlingen gebildet hatte, mit dem Gesuch um Aufnahme in die Internationale an den Generalrat. Sie wurde abschlägig beschieden, nachdem der Generalrat ein Gutachten des Genfer Föderalrats eingeholt hatte, und nun begann in der »Révolution Sociale«, die an die Stelle der entschlafenen »Solidarité« getreten war, ein heftiges Kreuzfeuer gegen das »deutsche Komitee, geleitet von einem Bismarckschen Gehirn«, was nach Ansicht dieses trefflichen Blattes der Generalrat der Internationalen sein sollte. Die famose Parole fand übrigens schnellen Anklang, so daß Marx einem amerikanischen Freunde schreiben konnte: »Die bezieht sich auf das unverzeihliche Faktum, daß ich von Haus aus ein Deutscher bin und in der Tat einen entscheidenden intellektuellen Einfluß auf den Generalrat ausübe. (Notabene: das deutsche Element ist im Council numerisch zwei Drittel schwächer als das englische und ditto schwächer als das französische. Die Sünde besteht also darin, daß die englischen und französischen Elemente theoretisch vom deutschen Element beherrscht (!) sind und diese Herrschaft, i.e. die deutsche Wissenschaft, sehr nützlich und selbst unentbehrlich finden.)«

|484| Einen Hauptstoß unternahmen dann die Jurasektionen auf einem Kongreß, den sie am 12. November in Sonvillier abhielten. Es waren ihrer allerdings nur 9 von 22 durch 16 Delegierte vertreten, und auch unter dieser Minderheit litten die meisten an galoppierender Schwindsucht. Um so weiter aber rissen sie den Mund auf. Sie fühlten sich tief gekränkt, daß ihnen die Londoner Konferenz einen Namen aufdrängte, den sie selbst schon anzunehmen erwogen hatten, beschlossen jedoch, sich nichtsdestoweniger zu fügen und sich fortan Jurassische Föderation zu nennen. Sie rächten sich dafür, indem sie die Romanische Föderation für aufgelöst erklärten, was natürlich nur ein Schlag ins Wasser war. Die Hauptleistung des Kongresses aber war die Abfassung und Absendung eines Rundschreibens an sämtliche Föderationen der Internationalen, worin gegen die Gesetzmäßigkeit der Londoner Konferenz protestiert und von ihr an einen allgemeinen Kongreß appelliert wurde, der binnen kürzester Frist berufen werden sollte.

Dies von Guillaume entworfene Schriftstück ging davon aus, daß sich die Internationale auf einer abschüssigen, verhängnisvollen Bahn befände. Ursprünglich habe sie ein »ungeheurer Protest gegen jede Autorität« sein sollen; in den »Statuten« sei jeder Sektion oder jeder Gruppe von Sektionen die Selbständigkeit verbürgt, der Generalrat als ausführende Gruppe mit ganz beschränkten Befugnissen ausgestattet worden. Allmählich jedoch habe man sich daran gewöhnt, ihm ein blindes Vertrauen zu schenken, das in Basel zur freiwilligen Abdankung des Kongresses geführt habe, indem man dem Generalrat das Recht erteilt habe, bis zur Entscheidung des nächsten Kongresses Sektionen anzunehmen, abzulehnen oder aufzulösen. Dieser Beschluß des Baseler Kongresses war allerdings nach lebhafter Befürwortung durch Bakunin und unter Zustimmung Guillaumes gefaßt worden.

Danach betrachte sich der Generalrat, der seit fünf Jahren aus denselben Menschen bestehe und an demselben Orte tage, als »legitimes Haupt« der Internationalen. Da sie in ihren eigenen Augen zu einer Art Regierung geworden seien, so erachteten sie natürlich ihre absonderlichen Gedanken als die offizielle Theorie, die in der Internationalen allein berechtigt sei. Die abweichenden Ansichten, die in anderen Gruppen auftauchten, erschienen ihnen kurzweg als Ketzereien. So habe sich allmählich eine Orthodoxie gebildet, deren Sitz in London und deren Vertreter die Mitglieder des Generalrats seien. Man brauche nicht ihre Absichten anzuklagen, denn sie handelten nach den Ansichten ihrer besonderen Schule, aber bekämpfen müsse man sie aufs entschiedenste, denn ihre Allmacht wirke notwendig korrumpierend; es sei völlig unmöglich |485|*, daß ein Mensch, der solche Macht über seinesgleichen habe, ein moralischer Mensch bleiben könne.

Die Londoner Konferenz habe das Werk des Baseler Kongresses fortgesetzt und Beschlüsse gefaßt, die aus der Internationalen, einem freien Bündnis selbständiger Sektionen, eine autoritäre und hierarchische Organisation in der Hand des Generalrats machen sollten. Und um das Gebäude zu krönen, habe sie beschlossen, daß der Generalrat sogar den Ort und den Zeitpunkt des nächsten Kongresses oder der Konferenz, die ihn ersetzen solle, bestimmen solle; damit sei es in die Willkür des Generalrats gestellt, die allgemeinen Kongresse, die großen öffentlichen Gerichtstage der Internationalen, durch geheime Konferenzen zu ersetzen. Deshalb sei es nötig, den Generalrat auf seine ursprüngliche Bestimmung zu beschränken, nämlich eines einfachen Büros für Korrespondenz und Statistik, und jene Einheit, die man durch die Diktatur und die Zentralisation erreichen möchte, durch die freie Verbindung selbständiger Gruppen zu verwirklichen. Darin müsse die Internationale bereits ein Vorbild der zukünftigen Gesellschaft sein.

Trotz aller Schwarzmalerei, oder auch wegen ihrer, erreichte dies Rundschreiben der Jurassier seinen eigentlichen Zweck nicht; mit seiner Forderung eines so schnell wie möglich einzuberufenden Kongresses fand es selbst in Belgien, Italien und Spanien keinen Anklang. In Spanien argwöhnte man hinter den scharfen Angriffen auf den Generalrat Eifersüchteleien zwischen Bakunin und Marx, in Italien wollte man sich so wenig vom Jura wie von London aus kommandieren lassen, und nur in Belgien entschied man sich für eine Statutenänderung in dem Sinne, daß die Internationale ausdrücklich für eine Vereinigung völlig unabhängiger Föderationen und der Generalrat als »Zentrum für Korrespondenz und Auskunftserteilung« erklärt werde.

Um so größeren Beifall fand das Rundschreiben von Sonvillier in der europäischen Bourgeoispresse, die sich darüber herstürzte wie über einen seltenen Leckerbissen. Alle Lügen, die sie über die unheimliche Gewalt des Generalrats, namentlich seit dem Falle der Pariser Kommune, verbreitet hatte, wurden jetzt aus dem Schoße der Internationalen selbst bestätigt. Das »Bulletin Jurassien«. das inzwischen an die Stelle der schnell verschiedenen »Révolution Soziale« getreten war, hatte wenigstens die Genugtuung, begeisterte Zustimmungsartikel bürgerlicher Zeitungen abzudrucken.

Dies lärmende Echo des Rundschreibens von Sonvillier veranlaßte den Generalrat, darauf zu antworten, ebenfalls in einem Rundschreiben, unter dem Titel: Die angeblichen Spaltungen in der Internationalen.

7. Der Spaltpilz der Internationalen

|486| Soweit sich dies Rundschreiben mit den Vorwürfen befaßte, die dem Generalrat in Sonvillier und sonst wegen Überschreitung oder gar Fälschung der »Statuten«, wegen fanatischer Unduldsamkeit und dergleichen mehr gemacht worden waren, führte es eine durchaus siegreiche Polemik, von der man nur bedauern kann, daß sie an großenteils ganz nichtige Dinge verschwendet werden mußte.

In der Tat kostet es heute eine gewisse Überwindung, sich mit diesem Kleinkram überhaupt noch zu befassen. So hatten die Pariser Mitglieder bei Gründung der Internationalen aus Scheu vor der bonapartistischen Polizei aus dem Satze der Statuten, wonach sich der ökonomischen Emanzipation der Arbeiterklasse jede politische Bewegung als Mittel unterzuordnen habe, die Worte »als Mittel« in dem französischen Texte fortgelassen. Die Sache lag ganz einfach und klar, aber gleichwohl wurde nun bis zum Überdruß die Lüge breitgetreten, der Generalrat habe die Worte als »Mittel« nachträglich hineingefälscht. Oder wenn die Londoner Konferenz anerkannt hatte, daß die deutschen Arbeiter während des Krieges ihre Pflicht getan hätten, so wurde daran eine Denunziation wegen des »Pangermanismus« geknüpft, der im Generalrat herrschen sollte.

Sein Rundschreiben räumte mit diesen Nichtigkeiten gründlich auf, und wenn man erwog, daß sie vorgebracht wurden, um die Zentralisation des in seinen Grundfesten wankenden Bundes zu unterminieren, die ihn allein noch gegenüber den reaktionären Angriffen aufrechterhalten konnte, so begriff man die Bitterkeit seiner Schlußsätze, worin dir Allianz beschuldigt wurde, der internationalen Polizei in die Hände zu arbeiten. »Sie verkündet die Anarchie in den proletarischen Reihen als das unfehlbarste Mittel, um die mächtige Konzentration der politischen und sozialen Kräfte zu zerbrechen, die sich in den Händen der Ausbeuter befinden. Unter diesem Vorwande fordert sie von der Internationalen, in dem Augenblick, wo die alte Welt diese zu vernichten sucht, ihre Organisation durch die Anarchie zu ersetzen.«[17] Je härter die Internationale von außen her bedrängt wurde, um so frivoler erschienen die Angriffe von innen, gerade auch je haltloser sie waren.

Das grelle Licht, das auf diese Seite der Sache fiel, verdunkelte jedoch den Blick des Rundschreibens nach einer anderen Richtung hin. Wie schon sein Titel andeutete, wollte es nur von »angeblichen« Spaltungen innerhalb der Internationalen wissen; es führte den ganzen Konflikt, wie es Marx schon in der Konfidentiellen Mitteilung getan hatte, auf die |487| Umtriebe »einiger Intriganten« zurück, besonders Bakunins, es betonte nochmals die alten Anklagen gegen diesen wegen der »Gleichmachung der Klassen«, wegen des Baseler Kongresses usw., beschuldigte ihn, gemeinschaftlich mit Netschajew unschuldige Leute an die russische Polizei verraten zu haben und widmete einen besonderen Abschnitt der Tatsache, daß zwei Anhänger Bakunins sich als bonapartistische Spitzel entpuppt hatten, was für Bakunin sicherlich sehr unangenehm, aber doch ebensowenig kompromittierend war wie für den Generalrat selbst die Tatsache, daß er wenige Monate später mit zweien seiner Anhänger das gleiche Pech hatte. Und wenn das Rundschreiben den »jungen Guillaume« beschuldigte, die »Fabrikarbeiter« von Genf als hassenswerte »Bourgeois« verschrien zu haben, so nahm es doch nicht die geringste Notiz davon, daß in Genf unter der fabrique eine Schicht gut gelohnter Luxusarbeiter verstanden wurde, die mehr oder weniger anfechtbare Wahlkompromisse mit bürgerlichen Parteien geschlossen hatte.

Die weitaus schwächste Seite des Rundschreibens war jedoch seine Verteidigung gegen den Vorwurf der »Orthodoxie«, der gegen den Generalrat erhoben worden war. Es berief sich darauf, daß die Londoner Konferenz ja gerade allen Sektionen die Annahme von Sektennamen verboten habe. Das war gewiß insofern gerechtfertigt, als die Internationale ein recht buntes Konglomerat von Gewerkschaftsverbänden, Genossenschaften, Bildungs- und Propagandavereinen bildete. Aber die Auslegung, die das Rundschreiben des Generalrats diesem Beschlusse des Generalrats gab, war im höchsten Grade anfechtbar.

Es sagte darüber wörtlich: »Der erste Abschnitt in dem Kampfe des Proletariats gegen die Bourgeoisie wird durch die Sektenbewegung gekennzeichnet. Sie hat ihr Recht in der Zeit, wo das Proletariat noch nicht entwickelt genug ist, um als Klasse zu handeln. Vereinzelte Denker unternehmen die Kritik der sozialen Widersprüche und wollen sie beseitigen durch phantastische Lösungen, die die Masse der Arbeiter nur anzunehmen, zu verbreiten und ins Werk zu setzen hat. Es liegt in der Natur der Sekten, die sich um solche Bahnbrecher bilden, daß sie sich abschließen und sich jeder wirklichen Tätigkeit, der Politik, den Streiks, den Gewerkschaften, mit einem Worte, jeder Massenbewegung entfremden. Die Masse des Proletariats bleibt ihrer Propaganda gegenüber gleichgültig oder selbst feindlich. Die Arbeiter von Paris und Lyon wollten ebensowenig von den Saint-Simonisten, den Fourieristen, den Ikariern wissen wie die englischen Chartisten und Trade-Unionisten von den Oweniten. In ihrem Ursprung Hebel der Bewegung, werden sie ihr Hindernis, sobald sie von ihr überholt werden. Dann werden sie |488| reaktionär. Zeugen dessen sind die Sekten in Frankreich und England und letzthin die Lassalleaner in Deutschland, die, nachdem sie jahrelang die Organisation des Proletariats gehemmt haben, schließlich einfache Werkzeuge der Polizei geworden sind.«[18] An einer anderen Stelle des Rundschreibens werden die Lassalleaner dann noch »Bismärckische Sozialisten« genannt, die außerhalb ihres Polizeiorgans, des »Neuen Sozialdemokraten« die weißen Blusen des preußisch-deutschen Kaiserreichs spielten.

Es ist nirgends ausdrücklich bezeugt, daß Marx das Schriftstück verfaßt hat; nach Inhalt und Stil könnte Engels einen mehr oder minder großen Anteil daran gehabt haben. Aber die Ausführung über die Sekten rührt jedenfalls von Marx her; in ganz gleicher Weise findet sich derselbe Gedanke in seinem gleichzeitigen Briefwechsel mit Parteifreunden, und zum ersten Male hatte er ihn schon in seiner Streitschrift gegen Proudhon entwickelt. An und für sich ist darin die geschichtliche Bedeutung des sozialistischen Sektenwesens auch treffend gekennzeichnet, aber Marx irrte darin, daß er die Bakunisten und nun gar die Lassalleaner mit den Fourieristen und Oweniten in denselben Topf warf.

Man mag über den Anarchismus so wegwerfend denken wie man will, und ihn einfach, wo immer er auftritt, für eine Erkrankung der Arbeiterbewegung halten, so kann man doch nicht - und am wenigsten heute, nach den Erfahrungen eines halben Jahrhunderts - sich vorstellen, daß ihr der Krankheitsstoff von außen her eingeimpft worden ist, sondern vielmehr nur, daß die Anlage zu dieser Krankheit ihr an- und eingeboren ist, um sich unter günstigen oder vielmehr ungünstigen Umständen zu entfalten. Aber selbst schon im Jahre 1872 war ein Irrtum darüber schwer verständlich. Bakunin am wenigsten war der Mann einer fertigen Schablone oder eines fertigen Systems, das die Arbeiter einfach anzunehmen und ins Werk zu setzen hätten; Marx selbst wurde ja nicht müde, zu wiederholen, daß Bakunin theoretisch eine Null und nur als Intrigant in seinem Element, daß sein Programm ein von rechts und links oberflächlich zusammengeraffter Mischmasch sei!

Das entscheidende Kennzeichen der Sektenstifter ist ihr feindlicher Gegensatz zu jeder proletarischen Massenbewegung: feindlich insofern, als sie von einer solchen Bewegung nichts wissen wollen wie auch insofern, als eine Massenbewegung von ihnen nichts wissen will. Selbst wenn es wahr wäre, daß Bakunin sich der Internationalen nur für seine Zwecke habe bemächtigen wollen, so würde er damit doch immer nur bewiesen haben, daß er als Revolutionär nur mit Massen rechnete. Er hat es, so erbittert sich der Kampf zwischen ihm und Marx gestaltete, |489| diesem doch fast bis zuletzt als ein unsterbliches Verdienst angerechnet, in der Internationalen den Rahmen einer proletarischen Massenbewegung geschaffen zu haben. Was ihn von Marx unterschied, war die Verschiedenheit ihrer Ansichten über die Taktik, die diese Massenbewegung verfolgen müsse, um an ihr Ziel zu gelangen; aber so verkehrt Bakunins Ansichten darüber sein mochten, so hatten sie doch mit Sektenspielerei nichts zu tun.

Und nun gar die Lassalleaner! Sie standen im Jahre 1872 sicherlich noch nicht auf der Höhe des sozialistischen Prinzips, aber sie waren jeder anderen gleichzeitigen Arbeiterpartei in Europa an theoretischer Einsicht und organisatorischer Kraft überlegen, auch der Eisenacher Fraktion, deren geistige Hauptnahrung immer noch die Agitationsschriften Lassalles bildeten. Lassalle hatte seine Agitation auf den breiten Boden des proletarischen Klassenkampfs gestellt, wodurch allem Sektenwesen Tor und Tür gesperrt worden waren; sein Nachfolger Schweitzer war so durchdrungen von der Untrennbarkeit des politischen und des sozialen Kampfes, daß ihm von Liebknecht der Vorwurf des »Parlamentelns« gemacht wurde, und wenn Schweitzer in der Gewerkschaftsfrage zu seinem Unheil die Warnungen Marxens mißachtet hatte, so war er seit Jahr und Tag aus der Bewegung geschieden, und die Lassalleaner begannen, namentlich durch die siegreichen Bauarbeiterstreiks in Berlin, auch diesen Fehler aus ihrer Rechnung zu beseitigen. Sie hatten die kurze Störung ihrer Agitation durch den Krieg überwunden, und in immer dichteren Haufen strömten ihnen die Massen zu.

Man brauchte die Ausfälle gegen die Lassalleaner insoweit nicht besonders hervorzuheben, als Marx nun einmal gegen Lassalle und alles Lassallesche eine unüberwindliche Abneigung hegte, aber in dem Zusammenhange, worin sie das Rundschreiben des Generalrats vorbrachte, gewannen sie doch eine eigentümliche Bedeutung. Sie warfen ein helles Licht auf den eigentlichen Spaltpilz der Internationalen, auf den unlöslichen Widerspruch, in den der große Bund durch den Fall der Pariser Kommune geraten war. Seitdem hatte die ganze reaktionäre Welt gegen die Internationale mobilgemacht, und gegen diesen Ansturm konnte sie sich nur wehren, indem sie ihre Kräfte straff zusammenfaßte. Aber der Fall der Kommune hatte auch die Notwendigkeit des politischen Kampf es erwiesen, und dieser Kampf war nicht möglich ohne eine weitgehende Lockerung der internationalen Bande, denn er ließ sich nur innerhalb nationaler Grenzen führen.

Wie die Forderung der politischen Enthaltung, so sehr sie immer übertrieben werden mochte, doch im letzten Grunde aus einem berechtigten |490|* Mißtrauen gegen die Fallstricke des bürgerlichen Parlamentarismus entstanden war - einem Mißtrauen, dem Liebknecht noch in seiner bekannten Rede von 1869 den schärfsten Ausdruck gegeben hatte -, so entsprang auch der Mißmut über die Diktatur des Generalrats, der sich nach dem Falle der Pariser Kommune ziemlich in allen Ländern äußerte, bei aller Übertreibung dem mehr oder minder klaren Bewußtsein, daß eine nationale Arbeiterpartei zunächst an ihre Existenzbedingungen innerhalb der Nation gebunden sei, von der sie einen Teil bilde, daß sie sich über diese Existenzbedingungen ebensowenig hinwegsetzen könne, wie der Mensch über seinen Schatten zu springen vermöge, daß sie mit andern Worten nicht vom Auslande her geleitet werden könne. Und obwohl Marx schon in den »Statuten der Internationalen« die Untrennbarkeit des politischen und des sozialen Kampfes festgestellt hatte, so knüpfte er praktisch doch überall an die sozialen Forderungen an, die den Arbeiterklassen aller Länder mit kapitalistischer Produktionsweise gemeinsam waren, und berührte politische Fragen nur insofern, als sie sich, wie etwa die gesetzliche Verkürzung des Arbeitstags, aus solchen sozialen Forderungen ergaben. Politische Fragen im eigentlichen und unmittelbaren Sinne des Wortes, Fragen, wie sie sich namentlich auf die Staatsverfassung bezogen und in den verschiedenen Ländern ganz verschieden lagen, hielt Marx zurück, bis das Proletariat durch die Internationale zu größerer Klarheit erzogen worden sei; tadelte er doch schwer an Lassalle, daß dieser seine Agitation auf ein einzelnes Land zugeschnitten habe!

Man hat die Vermutung ausgesprochen, daß Marx diese Zurückhaltung noch lange beobachtet haben würde, wenn ihm nicht die politische Frage durch den Fall der Pariser Kommune und die Agitation Bakunins aufgedrängt worden wäre. Das ist sehr wohl möglich und selbst wahrscheinlich, aber getreu seiner ganzen Art nahm er den Kampf auf, wie er ihm aufgedrängt wurde. Nur verkannte er dabei, daß die Aufgabe, die er zu lösen hatte, sich mit der damaligen Verfassung der Internationalen nicht lösen ließ, daß diese nach innen in demselben Maße zerfiel, wie sie sich straffer gegen ihre äußeren Feinde zusammenfaßte. Wenn der leitende Kopf des Generalrats die in seinem eigenen Sinne entwickeltste Arbeiterpartei, noch dazu in seinem Heimatlande, als eine feile Polizeitruppe versah, so war damit ein schlagender Beweis dafür geliefert, daß die historische Stunde der Internationalen geschlagen hatte.

Aber es war nicht der einzige Beweis. Überall, wo sich nationale Arbeiterparteien zu bilden begannen, zerfiel die Internationale. Mit wie |491| heftigen Vorwürfen war einst Schweitzer wegen seiner angeblichen Lauheit gegenüber der Internationalen von Liebknecht überschüttet worden! Jetzt, wo Liebknecht selbst an der Spitze der Eisenacher Fraktion stand, hatte er von Engels genau dieselben Vorwürfe einzustecken und antwortete darauf, nach Schweitzers Vorbild sich auf die deutschen Vereinsgesetze berufend: »Es fällt mir nicht ein, wegen dieser Frage jetzt die Existenz unserer eigenen Organisation aufs Spiel zu setzen.« Hätte sich der unglückliche Schweitzer je so dreister und gottesfürchtiger Rede unterfangen - er hat es nie getan -, so wäre es noch ganz anders über den »Schneiderkönig« hergegangen, der durchaus seine »eigene Partei« haben wolle. Die Gründung der Eisenacher Fraktion hatte der »Sektionsgruppe deutscher Sprache« in Genf den ersten Stoß gegeben; den letzten Stoß gab dieser ältesten und stärksten Organisation, die die Internationale auf dem Festlande besaß, die Gründung einer schweizerischen Arbeiterpartei, die sich im Jahre 1871 vollzog. Schon am Ende dieses Jahres mußte Becker den »Vorboten« eingehen lassen.

Diesen Zusammenhang haben Marx und Engels im Jahre 1872 noch nicht erkannt. Doch verdunkelten sie nur ihr eigenes Recht, wenn sie behaupteten, die Internationale sei an den Umtrieben eines einzelnen Demagogen untergegangen, während sie in allen Ehren vom geschichtlichen Schauplatz abtreten konnte, nach Erfüllung einer großen Aufgabe, die über sie selbst hinausgewachsen war. Man muß es in der Tat mit den heutigen Anarchisten halten, wenn sie sagen, es sei nichts unmarxistischer als die Vorstellung, daß ein ungewöhnlich boshaftes Individuum, ein »höchst gefährlicher Intrigant«, eine proletarische Organisation wie die Internationale, habe zerrütten können, und nicht mit jenen gläubigen Seelen, denen jeder Zweifel daran, daß Marx und Engels immer genau das Pünktchen aufs i gesetzt haben, die Haut schaudern macht. Die beiden Männer selbst freilich würden, wenn sie heute sprechen könnten, nur ätzenden Hohn übrig haben für den Anspruch, daß die rücksichtslose Kritik, die immer ihre schärfste Waffe gewesen ist, vor ihnen selbst abdanken solle.

Ihre wahre Größe besteht nicht darin, niemals geirrt zu haben, sondern vielmehr darin, sich niemals im Irrtum versteift zu haben, sobald sie ihn erkannten. Schon im Jahre 1874 gab Engels zu, die Internationale habe sich überlebt. »Um eine neue Internationale in der Weise der alten, eine Allianz aller proletarischen Parteien aller Länder hervorzubringen, dazu gehörte ein allgemeines Niederschlagen der Arbeiterbewegung, wie es 1849 bis 1864 vorgeherrscht. Dazu ist jetzt die proletarische Welt zu groß, zu weitläufig geworden.« Er tröstete sich, |492| daß die Internationale zehn Jahre europäischer Geschichte nach einer Seite hin - nach der Seite hin, worin die Zukunft liege - beherrscht habe und stolz auf ihre Arbeit zurückschauen könne. Und im Jahre 1878 bekämpfte Marx in einer englischen Zeitschrift die Behauptung, daß die Internationale ein Mißerfolg gewesen und nunmehr tot sei, mit den Worten: »In Wirklichkeit bilden die sozialdemokratischen Arbeiterparteien in Deutschland, der Schweiz, Dänemark, Portugal, Italien, Belgien, Holland und Nordamerika, mehr oder weniger innerhalb nationaler Grenzen organisiert, ebenso viele internationale Gruppen, nicht mehr vereinzelte Sektionen, dünn verstreut über verschiedene Länder und zusammengehalten durch einen Generalrat an der Peripherie, vielmehr die arbeitenden Massen selbst in stetigem, aktivem, direktem Verkehr, zusammengekettet durch den Austausch von Ideen, gegenseitige Hilfsleistungen und gemeinsame Ziele ... So ist die Internationale, anstatt abzusterben, nur aus einer ersten Periode in eine höhere getreten, wo ihre ursprünglichen Tendenzen zum Teil verwirklicht worden sind. Im Laufe dieser fortschreitenden Entwicklung wird sie noch manche Veränderungen durchzumachen haben, bis das letzte Kapitel ihrer Geschichte geschrieben werden kann.« [19]

In diesen Zeilen bewährte Marx wieder seinen echten prophetischen Blick. Zur Zeit, wo die nationalen Arbeiterparteien doch nur erst aufkeimten, mehr als ein Jahrzehnt, ehe die neue Internationale sich bildete, sah er ihr historisches Wesen voraus, aber auch ihrer zweiten Form verhieß er keine Ewigkeitsdauer, sicher nur des einen, daß immer neues Leben aus den Ruinen blühen würde, bis sich die Zeiten erfüllet hätten.

8. Der Haager Kongreß

In dem Rundschreiben des Generalrats vom 5. März war die Einberufung des Jahreskongresses auf den Anfang des September angekündigt worden. In der Zwischenzeit entschlossen sich Marx und Engels, die Verlegung des Generalrats von London nach New York zu beantragen. Über die Notwendigkeit und Nützlichkeit dieses Vorschlags ist viel gestritten worden, und damit auch über seine Beweggründe. Man hat ihn als eine Art Begräbnis erster Klasse für die Internationale aufgefaßt; Marx habe dadurch verschleiern wollen, daß sie nicht mehr zu retten sei. Dem widerspricht aber die Tatsache, daß Marx und Engels |493| auch, nachdem der Generalrat nach New York verlegt worden war, ihn mit allen Kräften unterstützt und am Leben zu erhalten gesucht haben. Dann ist gesagt worden, Marx habe die Tätigkeit für die Internationale satt gehabt, um sich wieder ungestört seiner wissenschaftlichen Arbeit zu Widmen, und hierfür hat Engels in gewissem Sinne gezeugt; in einem Brief an Liebknecht vom 27. Mai 1872 erwähnte er einen belgischen Antrag, den Generalrat ganz abzuschaffen, und fügte hinzu: »Wäre mir persönlich ganz recht, ich und M[arx] gehn doch nicht wieder hinein, wie die Sache jetzt ist, haben wir keine Zeit zum Arbeiten und das muß aufhören.« Indessen das war eine beiläufige Äußerung, die in einem Anfluge von Ärger hingeworfen wurde. Selbst wenn Marx und Engels eine Wiederwahl in den Generalrat ablehnten, war dessen Verlegung von London noch nicht notwendig, aber um seiner wissenschaftlichen Arbeit willen die Internationale hintanzustellen, ehe sie denn in festen Geleisen sei, hatte Marx wiederholt abgelehnt; nunmehr, in der schwersten Krise, die sie noch befallen hatte, hat er sicherlich nicht daran gedacht, sie aus solchem Grunde zu verlassen.

Eher traf es zum Richtigen, wenn er selbst am 29. Juli an Kugelmann schrieb: »Auf dem Internationalen Kongreß (Haag, eröffnet 2. September) handelt es sich um Leben oder Tod der Internationalen, und bevor ich austrete, will ich sie wenigstens vor den auflösenden Elementen schützen.« Zu diesem Schutz vor den »auflösenden Elementen« gehörte auch die Verlegung des Generalrats von London, wo er wachsendem Hader verfiel. Allerdings hatten die bakunistischen Tendenzen in ihm keine oder so schwache Vertretung, daß von ihnen nichts zu befürchten war. Aber auch unter seinen deutschen, englischen und französischen Mitgliedern gab es einen solchen Wirrwarr, daß er schon ein eigenes Subkomitee zur Entscheidung der ewigen Streitigkeiten hatte einsetzen müssen.

Selbst zwischen Marx und den beiden Mitgliedern des Generalrats, die lange Jahre hindurch seine geschicktesten und getreuesten Helfer gewesen waren, Eccarius und Jung, war eine Entfremdung entstanden, die bei Eccarius schon im Mai 1872 zum offenen Bruch führte. Eccarius lebte in sehr kümmerlichen Verhältnissen und hatte seine Stellung als Generalsekretär der Internationalen gekündigt, da er sich für unentbehrlich hielt und seinen bescheidenen Wochenlohn von 15 Schilling auf das Doppelte erhöhen wollte. Indessen wurde an seine Stelle der Engländer John Hales gewählt, wofür Eccarius mit Unrecht Marx verantwortlich machte. Marx hatte ihn im Gegenteil gegen die Engländer stets verteidigt. Dagegen hatte Marx ihn wiederholt gerüffelt, weil Eccarius |494| Mitteilungen über innere Vorgänge der Internationalen, so namentlich über die geheimen Verhandlungen der Londoner Konferenz, der Presse verhökert hatte. Jung wieder hat Engels und dessen selbstherrliches Auftreten für die Entfremdung von Marx verantwortlich gemacht. Daran mag etwas Wahres sein. Seitdem Marx täglich mit Engels verkehren konnte, mag er ohne böse Absicht die Eccarius und Jung nicht mehr so häufig wie früher herangezogen haben; der »General« selbst aber, wie Engels mit einem vertraulichen Spitznamen genannt wurde, liebte auch nach dem Zeugnis seiner guten Freunde einen militärisch kurz angebundenen Ton; wenn der wechselnde Vorsitz im Generalrat an ihr kam, pflegte man sich auf stürmische Szenen gefaßt zu machen.

Seitdem Hales zum Generalsekretär ernannt worden war, bestand zwischen ihm und Eccarius eine tödliche Feindschaft, wobei Eccarius übrigens einen Teil der englischen Mitglieder auf seiner Seite hatte. Dagegen fand Marx keine Stütze an dem neuen Generalsekretär. Vielmehr als gemäß den Beschlüssen der Londoner Konferenz eine englische Föderation gegründet worden war, die ihren ersten, mit 21 Delegierten beschickten Kongreß am 21. und 22. Juli in Nottingham abhielt, beantragte Hales, getreu der bakunistischen Parole von der »gefährdeten Autonomie der Föderationen«, mit den anderen Föderationen nicht erst durch Vermittelung des Generalrats, sondern unmittelbar zu verkehren, und ferner, auf dem allgemeinen Kongreß für eine Änderung der »Statuten« in dem Sinne einzutreten, daß die Befugnisse des Generalrats eingeschränkt würden. Den zweiten Antrag zog Hales zurück, aber der erste wurde angenommen. In programmatischer Hinsicht verriet dieser Kongreß zwar keine Neigung für den Bakunismus, wohl aber für den englischen Radikalismus; so wollte er zwar den Grund und Boden, aber keineswegs alle Produktionsmittel vergesellschaften, wofür Hales ebenfalls eintrat. Er intrigierte ganz offen gegen den Generalrat, der ihn in August seines Postens entheben mußte.

Unter den französischen Mitgliedern des Generalrats überwog die blanquistische Richtung, die in den beiden Hauptfragen, um die sich der Streit drehte, der politischen Betätigung und der straffen Zentralisation ganz zuverlässig war, aber bei ihrer grundsätzlichen Bevorzugung revolutionärer Handstreiche der Internationalen unter den obwaltenden Umständen, wo die europäische Reaktion nur auf eine Gelegenheit lauerte, mit ihrer gewaltigen Übermacht dreinzuschlagen, gefährlicher werden konnte als jede andere. In der Tat ist die Sorge, daß die Blanquisten das Heft in die Hand bekommen könnten, für Marx wohl der stärkste Antrieb gewesen, die Verlegung des Generalrats von London |495| ins Auge zu fassen, und zwar nach New York, das seine internationale Zusammensetzung ermöglichte und die Sicherheit seiner Archive verbürgte, was auf dem europäischen Festland überall ausgeschlossen war.

Auf dem Haager Kongreß, der vom 2. bis zum 7. September tagte, konnte Marx über eine sichere Mehrheit verfügen, dank der verhältnismäßig starken Vertretung der Deutschen und der Franzosen unter den 61 Delegierten. Von den Gegnern ist ihm der Vorwurf gemacht worden, diese Mehrheit durch künstliche Mittel fabriziert zu haben, ein Vorwurf, der gänzlich haltlos ist, soweit damit die Echtheit der Mandate angefochten werden soll; obgleich der Kongreß die Hälfte seiner Zeit auf die Mandatsprüfung verwandte, bestanden doch alle die Prüfung, mit einer einzigen Ausnahme. Aber allerdings hatte Marx schon im Juni nach Amerika um Mandate für die Deutschen und Franzosen geschrieben. Manche Delegierte vertraten Sektionen nicht der eigenen, sondern einer fremden Nation; andere traten aus polizeilichen Rücksichten unter falschem Namen auf oder verschwiegen aus demselben Grunde die Namen der Sektionen, von denen sie beauftragt waren. Daher gehen in den verschiedenen Berichten über den Kongreß die ziffernmäßigen Angaben über die Beteiligung der einzelnen Nationen ziemlich auseinander.

Strenggenommen waren als Vertreter deutscher Organisationen nur acht anwesend: Bernhard Becker (Braunschweig), Cuno (Stuttgart), Dietzgen (Dresden), Kugelmann (Celle), Milke (Berlin), Rittinghausen (München), Scheu (Württemberg) und Schuhmacher (Solingen). Daneben hatte Marx als Vertreter des Generalrats neben einem Mandat für New York je ein Mandat für Leipzig und Mainz, Engels je ein Mandat für Breslau und New York. Hepner aus Leipzig hatte ein Mandat aus New York, Friedländer aus Berlin eins aus Zürich. Zwei andere Delegierte mit anscheinend deutschen Namen, Walter und Swarm, waren tatsächlich Franzosen; sie hießen Heddeghem und Dentraygues; beide waren sehr unsichere Kantonisten, Heddeghem schon im Haag bonapartischer Spitzel. Soweit die französischen Delegierten Kommuneflüchtlinge waren, Franckel und Longuet, die zu Marx hielten, Ranvier, Vaillant und andere, die zu den Blanquisten zählten, traten sie unter ihren Namen auf, aber die Herkunft ihrer Mandate mußte mehr oder weniger im Dunkel bleiben. Den Generalrat vertraten neben Marx zwei Engländer (Roach und Sexton), ein Pole (Wroblewski) und drei Franzosen (Serraillier, Cournet und Dupont), den Kommunistischen Arbeiterverein in London vertrat Leßner. Der britische Föderalrat hatte vier Delegierte entsandt, darunter Eccarius und Hales, die schon im Haag mit den Bakunisten mogelten.

|496| Von den Bakunisten hatten die Italiener den Kongreß überhaupt nicht beschickt; sie hatten schon im August auf einer Konferenz in Rimini jede Gemeinschaft mit dein Generalrat abgelehnt. Die fünf spanischen Delegierten hielten mit der einzigen Ausnahme Lafargues zu den Bakunisten, ebenso die acht belgischen und die vier holländischen Vertreter. Die jurassische Föderation entsandte Guillaume und Schwitzguebel, während Genf an dem alten Becker festhielt. Aus Amerika kamen vier Delegierte: Sorge, der wie Becker zu den treuesten Anhängern Marxens zählte, und der Blanquist Dereure, ein ehemaliges Mitglied der Kommune; das dritte Mandat war einem Bakunisten zugefallen, während das vierte das einzige Mandat war, das vom Kongreß für ungültig erklärt wurde. Durch je einen Delegierten waren Dänemark, Osterreich, Ungarn und Australien vertreten.

Schon bei der dreitägigen Mandatsprüfung kam es zu stürmischen Szenen. Das spanische Mandat Lafargues wurde heftig bestritten, doch gegen wenige Stimmenthaltungen bestätigt. Bei der Debatte über ein Mandat, das von einer Sektion in Chicago einem in London wohnenden Mitglied übertragen worden war, wurde von einem Delegierten des britischen Föderalrats geltend gemacht, daß dies Mitglied kein anerkannter Arbeiterführer sei, worauf Marx erwiderte, daß es eher eine Ehre als das Gegenteil sei, kein englischer Arbeiterführer zu sein, da die Mehrzahl dieser Führer an die Liberalen verkauft sei. Diese Äußerung machte, obgleich das Mandat bestätigt wurde, viel böses Blut und wurde nach dem Kongreß von Hales und Genossen eifrig gegen Marx ausgebeutet; er selbst freilich, der immer der Täter seiner Taten war, hat sie nie bereut oder zurückgenommen. Nach Beendigung der Mandatsprüfung wurde eine Reihe von Eingängen, die sich auf Bakunin und dessen Allianz bezogen, einem fünfgliedrigen Ausschuß zur Vorprüfung überwiesen; man wählte Mitglieder hinein, die bisher möglichst wenig an dem Streite um die Allianz beteiligt gewesen waren. Es waren der Deutsche Cuno als Vorsitzender, die Franzosen Lucain, Vichard und Walter-Heddeghem, endlich der Belgier Splingard.

Erst am vierten Tage begannen die eigentlichen Verhandlungen mit der Verlesung des Berichts, den der Generalrat dem Kongreß erstattet hatte. Er war von Marx verfaßt und wurde von ihm selbst in deutscher, von Sexton in englischer, von Longuet in französischer und von van den Abeele in flämischer Sprache verlesen. Der Bericht geißelte alle Gewaltstreiche, die seit dem bonapartistischen Plebiszit gegen die Internationale verübt worden waren, die blutige Niedermetzelung der Kommune, die Nichtswürdigkeiten der Thiers und Favre, die Schandtaten |497| der französischen Krautjunkerkammer, die Hochverratsprozesse in Deutschland; auch die englische Regierung erhielt einen Hieb wegen des Terrorismus, womit sie gegen die irischen Sektionen eingeschritten sei, und wegen der Untersuchungen, die sie durch ihre Gesandtschaften über die Verzweigungen des Bundes hatte anstellen lassen. Hand in Hand mit der Hetzjagd der Regierungen sei die Lügenkraft der zivilisierten Welt gegangen, durch apokryphe Geschichten der Internationalen, durch Lärmtelegramme und dreiste Fälschung öffentlicher Urkunden, so namentlich durch jenes Meisterstück infernalischer Verleumdung, jene Depesche, die den großen Brand in Chicago der Internationalen zugeschrieben und die Runde durch die ganze Welt gemacht habe. Ein Wunder noch, daß ein Orkan, der damals Westindien verwüstete, nicht ihrem dämonischen Wirken zugeschrieben worden sei. Gegenüber diesem wilden und wüsten Treiben stellte der Generalrat die unaufhörlichen Fortschritte der Internationalen fest: ihr Eindringen in Holland, Dänemark, Portugal, Schottland, Irland, ihre Ausbreitung in den Vereinigten Staaten, Australien, Neuseeland und Buenos Aires. Der Bericht wurde mit Beifall aufgenommen und auf den Antrag eines belgischen Delegierten allen Opfern des proletarischen Emanzipationskampfes die Bewunderung und Sympathie des Kongresses ausgesprochen.

Dann trat man in die Debatte über den Generalrat ein. Lafargue und Sorge begründeten seine Notwendigkeit durch die Bedürfnisse des Klassenkampfes; der tägliche Kampf der Arbeiterklasse gegen das Kapital ließe sich nicht ohne eine zentrale leitende Behörde führen; hätte man noch keinen Generalrat, so müßte man einen erfinden. Die Gegenseite hielt namentlich Guillaume, der die Notwendigkeit eines Generalrats bestritt und ihn höchstens als Zentralagentur für Korrespondenz und Statistik zulassen, aber aller autoritativen Macht entkleiden wollte. Die Internationale sei nicht die Erfindung eines gescheiten Mannes mit einer unfehlbaren politischen und sozialen Theorie, sondern sie sei nach Ansicht der Jurassier aus den ökonomischen Existenzbedingungen der Arbeiterklasse herausgewachsen, wodurch die Einheitlichkeit ihrer Bestrebungen genügend verbürgt sei.

Die Debatte wurde erst am fünften Verhandlungstage beendet, und zwar in einer geheimen Sitzung, wie übrigens auch die Mandatsdebatten hinter geschlossenen Türen geführt worden waren. In einer langen Rede trat Marx dafür ein, die bisherigen Befugnisse des Generalrats nicht nur beizubehalten, sondern noch zu verstärken; er müsse das Recht erhalten, nicht nur einzelne Sektionen, sondern auch ganze Föderationen unter bestimmten Kautelen bis zum nächsten Kongreß zu suspendieren.

|498| Er verfüge weder über Polizei noch über Soldaten, aber seine moralische Macht könne er sich nicht verkümmern lassen; lieber solle man ihn abschaffen, statt ihn zu einem Briefkasten herabzusetzen. Der Kongreß beschloß, wie Marx wollte, mit 36 gegen 6 Stimmen, bei 15 Stimmenthaltungen.

Nunmehr beantragte Engels, den Generalrat von London nach New York zu verlegen. Er berief sich darauf, daß die Verlegung von London nach Brüssel schon mehrfach erwogen worden sei, allein Brüssel habe stets abgelehnt. Die gegenwärtigen Umstände machten den Entschluß aber ebenso unaufschiebbar, wie sie die Ersetzung Londons durch New York notwendig machten. Mindestens für ein Jahr müsse man sich dazu entschließen. Der Antrag rief allgemeine, überwiegend doch peinliche Überraschung hervor. Besonders lebhaft protestierten die französischen Delegierten; sie setzten soviel durch, daß getrennt abgestimmt wurde, erst über die Verlegung überhaupt, dann über den Ort, wohin. Mit einer knappen Mehrheit, 26 gegen 23 Stimmen, bei 9 Stimmenthaltungen, wurde die Verlegung beschlossen; für New York entschieden dann 30 Stimmen. Darauf wurden zwölf Mitglieder des neuen Generalrats gewählt; sie erhielten das Recht, sich durch sieben Mitglieder zu ergänzen.

Noch in derselben Sitzung wurde die Debatte über die politische Aktion eröffnet. Vaillant hatte eine Resolution im Sinne des Beschlusses eingebracht, den die Londoner Konferenz über diese Frage gefaßt hatte; die Arbeiterklasse müsse sich als politische Partei konstituieren, die von allen bürgerlichen Parteien scharf abgegrenzt sei und ihnen feindlich gegenüberstehe. Vaillant und mit ihm Longuet beriefen sich namentlich auf die Erfahrungen der Pariser Kommune, die am Mangel eines politischen Programms untergegangen sei. Minder überzeugend wirkte die Ausführung eines deutschen Delegierten, daß Schweitzer durch die politische Enthaltung zum Spitzel geworden sei, derselbe Schweitzer, der drei Jahre vorher auf dem Baseler Kongreß seines »Parlamentelns« wegen von den deutschen Delegierten als Spitzel denunziert worden war. Guillaume seinerseits berief sich auf die Erfahrungen in der Schweiz, wo die Arbeiter bei den Wahlen mit Krethi und Plethi Wahlbündnisse geschlossen hätten, bald mit den Radikalen, bald mit den Reaktionären; von solchen Durchstechereien wollten die Jurassier nichts wissen; sie seien auch Politiker, aber negative Politiker; sie wollten die politische Macht nicht erobern, sondern zerstören.

Auch diese Verhandlung spann sich bis in den nächsten Tag fort, den sechsten und letzten, der mit einer Überraschung begann; Ranvier, Vaillant und andere Blanquisten hatten den Kongreß verlassen, wegen der |499| Verlegung des Generalrats nach New York; in einem Flugblatt, das sie bald darauf herausgaben, heißt es: »Aufgefordert, ihre Pflicht zu tun, versagte die Internationale. Sie entwischte der Revolution und entfloh über den Atlantischen Ozean.« An Stelle Ranviers erhielt Sorge den Vorsitz. Dann wurde der Antrag Vaillants mit 35 gegen 6 Stimmen, bei 8 Stimmenthaltungen, angenommen. Ein Teil der Delegierten war bereits abgereist, doch hatten die meisten von ihnen die schriftliche Erklärung hinterlassen, daß sie für den Antrag seien.

Die letzten Stunden des letzten Tages wurden durch den Bericht der Fünferkommission über Bakunin und die Allianz beansprucht. Sie erklärte mit vier gegen die eine Stimme des belgischen Mitglieds: erstens sei erwiesen, daß eine geheime Allianz mit Statuten, die den »Statuten der Internationalen« schnurstracks zuwiderliefen, existiert habe, doch sei nicht genügend genau festgestellt, ob sie noch existiere. Zweitens, es sei durch einen Statutenentwurf und Briefe Bakunins erwiesen, daß er versucht habe und daß es ihm vielleicht sogar gelungen sei, eine geheime Gesellschaft innerhalb der Internationalen zu gründen, mit Statuten, die von den »Statuten der Internationalen« in politischer und sozialer Beziehung durchaus verschieden seien. Drittens habe sich Bakunin betrügerischer Manöver bedient, um sich fremden Eigentums zu bemächtigen; um sich seiner Verpflichtungen zu entledigen, hätten er oder seine Agenten sich der Einschüchterung bedient. Aus diesen Erwägungen beantragte die Mehrheit der Kommission die Ausschließung Bakunins, Guillaumes und mehrerer ihrer Anhänger. Materielle Beweise legte Cuno als Berichterstatter der Kommission nicht vor, sondern erklärte nur, ihre Mehrheit sei zu einer moralischen Gewißheit gekommen, und bat um ein Vertrauensvotum des Kongresses.

Vom Vorsitzenden aufgefordert, sich zu verteidigen, erklärte Guillaume, der sich schon geweigert hatte, vor der Kommission zu erscheinen, er verzichte auf jede Verteidigung, um sich nicht an einer Komödie zu beteiligen. Dieser Vorstoß richte sich nicht gegen einige Leute, sondern gegen die föderalistischen Bestrebungen. Ihre Vertreter, soweit sie noch auf dem Kongresse anwesend seien, hätten sich darauf eingerichtet und bereits einen Solidaritätsvertrag geschlossen. Diesen Vertrag verlas darauf ein holländischer Delegierter; er war von vier spanischen, fünf belgischen, zwei jurassischen und je einem holländischen und amerikanischen Delegierten unterzeichnet. Um jede Spaltung der Internationalen zu vermeiden, erklärten sich die Unterzeichner bereit, alle administrativen Beziehungen zum Generalrat aufrechtzuerhalten, aber dessen Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Föderationen abzuwehren, |500| solange es sich nicht um Verstöße gegen »Die allgemeinen Statuten der Internationalen« handle; inzwischen sollten alle Föderationen und Sektionen aufgefordert werden, sich auf den nächsten Kongreß vorzubereiten, um dem Grundsatze der freien Vereinigung (autonomie fédérative) zum Siege zu verhelfen. Auf eine Verhandlung darüber ließ sich der Kongreß nicht erst ein, sondern schloß Bakunin mit 27 gegen 7 Stimmen (bei 8 Enthaltungen) sowie Guillaume mit 25 gegen 9 Stimmen (bei 9 Enthaltungen) aus. Die weiteren Ausschlußanträge der Kommission wurden abgelehnt, doch wurde sie beauftragt, die Schriftstücke über die Allianz zu veröffentlichen,

Diese Schlußszene des Haager Kongresses war seiner sicherlich nicht würdig. Daß die Beschlüsse der Kommissionsmehrheit schon deshalb null und nichtig waren, weil ein Spitzel daran mitgewirkt hatte, konnte man freilich noch nicht wissen; auch wäre es wenigstens menschlich erklärlich gewesen, wenn man Bakunin aus politischen Gründen ausgeschlossen hätte, auf die moralische Überzeugung hin, daß er ein unverbesserlicher Störenfried sei, auch ohne ihm alle seine Schliche schwarz auf weiß beweisen zu können. Aber daß Bakunin nun noch in Fragen des Mein und Dein um seinen ehrlichen Namen gebracht werden sollte, war unentschuldbar, und leider trug Marx die Schuld daran.

Er hatte sich jenen angeblichen Beschluß eines angeblichen »revolutionären Komitees« kommen lassen, durch den Lubawin bedroht worden war, falls er auf der Rückzahlung der 300 Rubel Vorschuß bestünde, die er für Bakunin von einem russischen Verleger für die Übersetzung des »Kapitals« vermittelt hatte. Der wörtliche Inhalt des Dokuments ist nicht bekannt geworden, aber als Lubawin, nunmehr selbst ein erbitterter Gegner Bakunins, es an Marx übersandte, schrieb er zugleich: »Damals schien mir der Anteil Bakunins an diesem Briefe unleugbar, aber heute, bei kühler Betrachtung der ganzen Angelegenheit, sehe ich, daß dieser Anteil keineswegs bewiesen ist, denn der Brief konnte von Netschajew ganz ohne alles Zutun Bakunins geschickt worden sein.« So war es in der Tat gewesen, aber allein auf diesen Brief hin, dessen kriminellen Charakter der Empfänger selbst bezweifelte, ist Bakunin im Haag einer gemeinen Gaunerei beschuldigt worden.

Obgleich er den Vorschuß wiederholt anerkannt und ihn auf diese oder jene Weise abzuarbeiten versprochen hat, so scheint er allerdings, in seinen ewigen Geldnöten, nicht dazu gekommen zu sein. Auf der andern Seite hört man freilich in der trübseligen Affäre nichts von dem einzigen Leidtragenden, nämlich dem Verleger selbst, der sich mit philosophischer Gelassenheit in ein Schicksal gefunden zu haben scheint, an |501| das sein Beruf ja reichlich gewöhnt ist. Denn wie viele Schriftsteller, und darunter die berühmtesten Namen, sind schon mal mit einem Vorschuß bei ihrem Verleger hängengeblieben! Das ist gewiß nicht lobenswert, aber deshalb gehört der Übeltäter doch noch lange nicht an den Galgen.

9. Nachwehen

Mit dem Haager Kongreß schloß die Geschichte der Internationalen, sosehr Marx und Engels sich anstrengten, ihren Faden weiterzuspinnen. Was irgend möglich war, haben sie getan, um dem neuen Generalrat in New York seine Aufgabe zu erleichtern.

Aber diesem selbst gelang es nicht, feste Wurzeln im amerikanischen Boden zuschlagen. Auch dort herrschte mannigfache Zwietracht zwischen den verschiedenen Sektionen, und es fehlte gleichermaßen an Erfahrungen und Verbindungen, an geistigen Kräften und an materiellen Mitteln. Die belebende Seele des neuen Generalrats war Sorge, der die amerikanischen Verhältnisse kannte und gegen die Verlegung des Generalrats gewesen war, aber nach anfänglicher Ablehnung doch die Wahl zum Generalsekretär angenommen hatte; er dachte viel zu gewissenhaft und treu, um zu versagen, wenn die Not an den Mann kam.

Es ist immer ein mißliches Ding, in proletarischen Angelegenheiten zu diplomatisieren. Marx und Engels hatten mit Recht befürchtet, daß ihr Plan, den Generalrat nach New York zu verlegen, unter den deutschen, französischen und englischen Arbeitern einen heftigen Widerstand hervorrufen würde, und sie hatten so lange als möglich damit hintangehalten, um den ohnehin reichlich vorhandenen Konfliktstoff nicht vorzeitig zu vermehren. Aber es hatte nicht minder üble Folgen, daß ihnen die Überraschung auf dem Haager Kongreß gelungen war. Der befürchtete Widerstand wurde dadurch nicht gemildert, sondern eher noch verbittert und verschärft.

Verhältnismäßig am mildesten äußerte er sich noch bei den Deutschen. Liebknecht war ein Gegner der Verlegung und hat sie auch später stets für einen Fehler erklärt, aber er saß einstweilen mit Bebel in Hubertusburg. War jedoch sein Interesse an der Internationalen einigermaßen geschwunden, so noch viel mehr bei der Masse der Eisenacher Fraktion, gerade auch durch die Eindrücke, die ihre Vertreter im Haag gewonnen hatten. Engels schrieb darüber am 8. Mai 1873 an Sorge: »Die Deutschen, obwohl sie ihren eigenen Krakeel mit den Lassalleanern haben, sind |502| durch den Haager Kongreß, wo sie im Gegensatz zu ihrem eigenen Gezänk lauter Brüderlichkeit und Harmonie erwarteten, sehr enttäuscht und schlaff geworden.« Aus diesem, an sich sehr unerfreulichen Grunde mochte es sich erklären, daß die deutschen Mitglieder der Internationalen sich über die Verlegung des Generalrats nicht allzusehr ereiferten.

Viel bedenklicher war der Abfall der Blanquisten, auf die sich Marx und Engels nächst und neben den Deutschen in den eigentlich entscheidenden Fragen am ehesten gestützt hatten, namentlich gegenüber den Proudhonisten, der anderen französischen Fraktion, die ihrer ganzen Anschauung nach zu den Bakunisten neigte, auch stützen konnten. Die Erbitterung der Blanquisten war um so größer, als sie ganz richtig empfanden, daß die Verlegung des Generalrats mit in erster Reihe darauf abzielte, ihnen diesen Hebel ihrer Putschtaktik zu entwinden. Freilich schnitten sie sich dabei ins eigene Fleisch. Da ihnen eine Agitation in ihrem Heimatlande unmöglich war, so verfielen sie nach ihrer Loslösung von der Internationalen dem verhängnisvollen Emigrantenlose. »Die französische Emigration«, schrieb Engels am 12. September 1874 an Sorge, »ist ganz auseinander, haben sich alle unter sich und mit jedermann sonst noch, aus rein persönlichen Gründen, Geldgeschichten meistens, überworfen, und wir sind sie fast ganz los ... Das Bummelleben während des Krieges, der Kommune und des Exils hat die Leute greulich demoralisiert, und einen verbummelten Franzosen wieder rangieren, kann nur die Not.« Aber das war wieder ein sehr schlechter Trost.

Den empfindlichsten Rückschlag übte die Verlegung des Generalrats auf die englische Bewegung aus. Schon am 18. September beantragte Hales im britischen Föderalrat ein Tadelsvotum gegen Marx, wegen dessen Äußerung über die Verkäuflichkeit der englischen Arbeiterführer; der Antrag wurde angenommen und nur der Zusatz, Marx habe selbst an diese Beschuldigung nicht geglaubt, sondern sie nur für seine persönlichen Zwecke vorgebracht, mit Stimmengleichheit abgelehnt. Dafür kündigte Hales einen Antrag an, Marx aus der Internationalen auszuschließen, und ein anderes Mitglied, die Beschlüsse des Haager Kongresses zu verwerfen. Hales setzte jetzt ganz offen die Beziehungen zu den Jurassiern fort, die er schon heimlich im Haag angeknüpft hatte; so schrieb er ihnen am 6. November im Namen des Föderalrats, nun sei die Heuchelei des alten Generalrats entlarvt, der im Schoße der alten Internationalen eine geheime Gesellschaft zu organisieren gesucht habe, und zwar unter dem Vorwande, eine andere geheime Gesellschaft zu vernichten, deren Existenz er für seine Zwecke erfunden habe. Daneben betonte er allerdings, daß die Engländer in der Frage der politischen |503| Aktion mit den Jurassiern nicht übereinstimmten; sie seien von der Nützlichkeit dieser Aktion überzeugt, aber geständen anderen Föderationen das Recht der vollkommensten Autonomie zu, die die verschiedenen Verhältnisse der verschiedenen Länder notwendig machten.

Eifrige Bundesgenossen fand Hales an Eccarius und auch an Jung, der nach anfänglicher Zurückhaltung nun fast am heftigsten gegen Marx und Engels loslegte. Beide Männer haben sich damals schwer versündigt, da sie sich durch persönliche Beweggründe ihr sachliches Urteil völlig trüben ließen, anfangs durch Eifersüchteleien und Empfindlichkeiten, weil Marx mehr auf Engels, als auf sie hörte oder zu hören schien, dann aber namentlich auch durch die Preisgabe der angesehenen und einflußreichen Stellung, die sie als alte Mitglieder des Generalrats eingenommen hatten. Leider wurde der Schaden, den sie stifteten, dadurch nur um so größer. Auf einer Reihe von Kongressen waren sie aller Welt als die eifrigsten und einsichtigsten Ausleger der Ansichten bekannt geworden, die Marx vertrat; wenn sie nun für dieselben Ansichten die Duldsamkeit der Jurassier anriefen gegen die Unduldsamkeit der Haager Beschlüsse, so schienen damit die diktatorischen Gelüste der Marx und Engels über jeden Zweifel gestellt zu sein.

Auch hier war es ein schlechter Trost, daß sie sich dabei selbst am tiefsten ins Fleisch schnitten. In den englischen und namentlich auch irischen Sektionen stießen sie auf einen kräftigen Widerstand, und ebenso im Föderalrat selbst. Sie machten nun eine Art Staatsstreich, indem sie einen Aufruf an alle Sektionen und Mitglieder erließen, worin sie erklärten, der britische Föderalrat sei innerlich so gespalten, daß ein Zusammenarbeiten unmöglich sei; sie forderten die Einberufung eines Kongresses, der über die Gültigkeit der Haager Beschlüsse entscheiden solle, die der Aufruf dahin auslegte, nicht daß die politische Aktion obligatorisch gemacht werde - denn das sei auch die Ansicht der Mehrheit -, sondern daß der Generalrat jeder Föderation die in ihrem Lande zu befolgende Politik vorzuschreiben habe. Die Minderheit stellte sofort in einem, wie es scheint, von Engels verfaßten Gegenaufruf diese Quertreiberei richtig und protestierte gegen den geplanten Kongreß als illegal, doch fand er am 26. Januar 1873 statt. Die Mehrheit der Sektionen hatte für ihn entschieden, wie sie denn auch allein auf ihm vertreten war.

Hales eröffnete ihn mit schweren Anklagen gegen den früheren Generalrat und den Haager Kongreß, wobei ihn Eccarius und Jung lebhaft unterstützten. Der Kongreß erklärte sich einstimmig gegen die Haager Beschlüsse und weigerte sich, den Generalrat in New York anzuerkennen |504|*, dagegen für einen neuen internationalen Kongreß, wann immer die Föderationen der Internationalen in ihrer Mehrheit ihn einberufen würden. Damit war die Spaltung der britischen Föderation vollzogen, und beide Trümmer erwiesen sich ohnmächtig, kräftigen Anteil an den Wahlen von 1874 zu nehmen, die das Ministerium Gladstone stürzten, nicht zuletzt durch das Eingreifen der Trade Unions, die eine Reihe von Kandidaturen aufgestellt hatten und zum ersten Male zwei ihrer Mitglieder ins Parlament brachten.

Sozusagen den Totenschein der alten Internationalen stellte ihr sechster Kongreß aus, der vom Generalrat zu New York für den 8. September nach Genf einberufen worden war. Während der bakunistische Gegenkongreß, der bereits am 1. September ebenfalls in Genf zusammentrat, immerhin durch 2 englische (Hales und Eccarius), je 5 belgische, französische, spanische, 4 italienische, 1 holländischen und 6 Delegierte aus dem Jura beschickt wurde, bestand der marxistische Kongreß in seiner großen Mehrheit aus Schweizern, die sogar meist in Genf wohnten. Nicht einmal der Generalrat konnte einen Delegierten schicken; ebensowenig erschienen Engländer, Franzosen, Spanier, Belgier, Italiener, nur je ein Deutscher und ein Österreicher. Von den noch nicht dreißig Delegierten rühmte sich der alte Becker, dreizehn gleichsam aus der Erde gestampft zu haben, um dem Kongreß durch Mitgliederzahl mehr Ansehen zu geben und der richtigen Richtung die Mehrheit zu sichern. Auf solche Selbsttäuschungen ließ sich Marx natürlich nicht ein; er gestand ehrlich das »Fiasko« des Kongresses ein und riet dem Generalrat, die formelle Organisation der Internationalen einstweilen in den Hintergrund treten zu lassen, aber, wenn möglich, den Zentralpunkt in New York deswegen nicht aus den Händen zu geben, damit keine Idioten und Abenteurer sich der Leitung bemächtigten und die Sache kompromittierten. Die Ereignisse und die unvermeidliche Entwicklung und Verwicklung der Dinge würden von selbst für Auferstehung der Internationalen in verbesserter Form sorgen.

Es war der klügste und würdigste Entschluß, der unter den obwaltenden Umständen gefaßt werden konnte, aber leider wurde seine Wirkung getrübt durch den letzten Schlag, den Marx und Engels gegen Bakunin führen zu sollen glaubten. Der Haager Kongreß hatte die Fünferkommission, die den Ausschluß Bakunins beantragte, mit der Veröffentlichung ihrer Untersuchungen beauftragt, doch kam die Kommission diesem Auftrage nicht nach, sei es nun wirklich, weil die »Zerstreuung ihrer Mitglieder in verschiedenen Ländern« sie daran hinderte, oder sei es, weil ihre Autorität auf sehr schwachen Füßen stand, da |505| eines ihrer Mitglieder Bakunin für nichtschuldig erklärt hatte und ein anderes inzwischen gar als Polizeispitzel entlarvt worden war. Statt ihrer übernahm die Protokollkommission des Haager Kongresses (Dupont, Engels, Franckel, Le Moussu, Marx, Serraillier) die Aufgabe und gab einige Wochen vor dem Genfer Kongresse eine Denkschrift heraus unter dem Titel: »Die Alliance der sozialistischen Demokratie und die Internationale Arbeiterassoziation«. Verfaßt war sie von Engels und Lafargue; Marx war nur an der Redaktion einiger Schlußseiten beteiligt, doch ist er natürlich nicht weniger für sie verantwortlich als die eigentlichen Verfasser.

Eine kritische Untersuchung der Allianzbroschüre, wie sie der Kürze wegen genannt zu werden pflegt, auf die Richtigkeit oder Unrichtigkeit ihrer Einzelheiten hin, würde mindestens den gleichen Raum von zehn Druckbogen beanspruchen, den sie selbst einnimmt. Es ist jedoch nicht eben viel verloren, wenn sie sich dadurch von selbst verbietet. In solchen Kämpfen wird immer hinüber- und herübergeschossen, und die Bakunisten waren mit ihren Vorwürfen gegen die Marxisten wirklich auch nicht so blöde, daß sie das Recht zu wehmütiger Klage gehabt hätten, wenn sie einmal etwas hart und selbst unbillig angefaßt wurden,

Vielmehr ist es ein anderer Gesichtspunkt, der diese Schrift unter allem, was Marx und Engels veröffentlicht haben, auf die unterste Stufe stellt. Was ihren sonstigen polemischen Schriften den eigentümlichen Reiz und den dauernden Wert verleiht, die positive Seite der neuen Erkenntnis, die durch die negative Kritik entbunden wird, das fehlt dieser Schrift vollständig. Sie geht mit keiner Silbe auf die inneren Ursachen ein, die den Niedergang der Internationalen verschuldet hatten; sie spinnt nur den Faden weiter, den die Konfidentielle Mitteilung und das Rundschreiben über die angeblichen Spaltungen der Internationalen bereits angeknüpft hatten: Bakunin und seine geheime Allianz haben durch ihre Intrigen und Umtriebe die Internationale zerstört. Die Schrift ist keine geschichtliche Urkunde, sondern eine einseitige Anklagerede, deren Tendenz auf jeder Seite in die Augen springt, gleichwohl hat der deutsche Übersetzer noch ein übriges tun zu sollen geglaubt und ihren Titel in staatsanwaltlichem Sinne verschönert: »Ein Complot gegen die Internationale Arbeiterassoziation«.

Wenn der Niedergang der Internationalen ganz anderen Ursachen geschuldet war als der Existenz der geheimen Allianz, so ist nicht einmal eine praktische Wirksamkeit dieser Existenz in der Allianzbroschüre nachgewiesen. Die Untersuchungskommission des Haager Kongresses hatte sich in dieser Beziehung schon mit Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten |506|* behelfen müssen. So sehr man die Manier Bakunins verurteilen mag, namentlich für einen Mann in seiner Stellung, sich in phantastischen Statutenentwürfen und schrecklich klingenden Kundgebungen zu berauschen, so muß man doch bei dem Mangel greifbaren Materials annehmen, daß seine immer rege Phantasie daran den größten Anteil gehabt hat. Hier half nun die Allianzbroschüre nach, indem sie ihre zweite Hälfte mit den Enthüllungen des edlen Utin über den Prozeß Netschajew und über das sibirische Exil Bakunins füllte, worin dieser sich schon als gemeiner Erpresser und Strauchdieb erprobt haben sollte. Dafür wurde überhaupt kein Beweis erbracht, während sich sonst der Beweis darauf beschränkte, alles was Netschajew gesagt und getan hatte, unbesehen auf die Rechnung Bakunins zu setzen.

Besonders das sibirische Kapitel ist der reine Kolportageroman. Der Gouverneur von Sibirien war irgendein Verwandter Bakunins, zur Zeit, wo Bakunin dorthin verbannt war; dank dieser Verwandtschaft und seiner sonstigen, der zaristischen Regierung erwiesenen Dienste war der verbannte Bakunin der geheime Regent des Landes, der seine Macht mißbrauchte, um gegen »geringe Trinkgelder« kapitalistische Unternehmer zu begünstigen. Diese Gewinnsucht wurde freilich gelegentlich durch Bakunins »Haß gegen die Wissenschaft« überwunden. Deshalb vereitelte er den Plan sibirischer Kaufleute, eine Universität in ihrem Lande zu gründen, wozu die Genehmigung des Zaren notwendig war.

Besonders stilvoll verschönerte Utin das Histörchen von Bakunins bei Katkow versuchtem Pumpe, das Borkheim schon ein paar Jahre früher bei Marx und Engels anzubringen versucht hatte, ohne damals jedoch bei diesen Gegenliebe zu finden. Nach Borkheim hatte Bakunin aus Sibirien an Katkow geschrieben, um ein paar tausend Rubel für seine Flucht zu erhalten. Nach Utin jedoch hatte Bakunin erst nach seiner gelungenen Flucht von London aus das Geld von Katkow erbeten, von Gewissensqualen zermartert, um einem Branntwein-Generalpächter die Schmiergelder zurückzuzahlen, die er von diesem während seiner sibirischen Verbannung bezogen hatte. Das war am Ende noch eine Regung der Reue, aber selbst diese sozusagen menschliche Empfindung konnte Bakunin zu Utins Entsetzen nur dadurch bekunden, daß er einen Menschen anschnorrte, von dem er wußte, daß er »Denunziant und literarischer Buschklepper im Solde der russischen Regierung« war. In so schwindelnde Höhen verstieg sich Utins Phantasie, aber ermattet war sie deshalb noch lange nicht.

Utin war Ende Oktober 1873 nach London gekommen, um noch »ganz andere Wunderdinge« über Bakunin zu berichten. »Der Kerl [Mehring |507| fügt ein: nämlich Bakunin]«, schrieb Engels am 25. November an Sorge, »hat seinen Katechismus redlich praktisch angewandt; seit Jahren lebt er und seine Allianz nur von der Erpressung, sich darauf verlassend, daß darüber nichts veröffentlicht werden kann, ohne andere Leute, auf die man Rücksicht zu nehmen hat, zu kompromittieren. Du hast gar keine Vorstellung davon, was das für eine Lumpenbande ist.« Ein Glück, daß, als Utin nach London kam, die Allianzbroschüre schon seit einigen Wochen das Licht der Welt erblickt hatte; so sind wenigstens die »noch ganz anderen Wunderdinge« in dem wahrheitsliebenden Busen Utins verborgen geblieben, der sich nunmehr reumütig in die Arme Väterchens warf, um seine Schnapsrenten durch Kriegsgewinne zu erhöhen.

Gerade diese russische Hälfte, worin sich die Allianzbroschüre übergipfelte, vernichtete am stärksten ihre politische Wirkung. Selbst solche Kreise der russischen Revolutionäre, die mit Bakunin auf gespanntem Fuße lebten, fühlten sich davon abgestoßen. Während Bakunins Einfluß auf die russische Bewegung während der siebziger Jahre ungeschmälert blieb, verlor Marx viel von den Sympathien, die er sich in Rußland erworben hatte. Aber auch sonst erwies sich die Allianzbroschüre als ein Schlag ins Wasser, gerade durch den einen Erfolg, den sie hatte. Sie veranlaßte Bakunin, sich aus dem Kampfe zurückzuziehen, aber der Bewegung, die sich nach Bakunin nannte, krümmte sie kein Haar.

Bakunin antwortete zunächst in einer Erklärung, die er an das Genfer Journal sandte. Sie zeugte von der tiefen Erbitterung, mit der ihn die Angriffe der Allianzbroschüre erfüllt hatten, deren Hinfälligkeit er damit begründete, daß in der Haager Untersuchungskommission zwei Lockspitzel - tatsächlich war es nur einer - gesessen hätten. Dann verwies er auf sein Alter von sechzig Jahren und eine mit dem Alter sich verschlimmernde Herzkrankheit, die ihm das Leben mehr und mehr erschwere. »Mögen sich Jüngere ans Werk machen! Was mich anbetrifft, so habe ich nicht mehr die nötige Kraft und vielleicht nicht mehr das nötige Vertrauen, um noch länger den Sisyphusstein gegen die überall triumphierende Reaktion zu rollen. Ich ziehe mich also vom Kampfplatz zurück und verlange von meinen lieben Zeitgenossen nur eins: Vergessenheit. Hinfort werde ich niemand die Ruhe stören, lasse man auch mich in Ruhe!« Indem er Marx beschuldigte, die Internationale zum Werkzeug seiner persönlichen Rache gemacht zu haben, erkannte er ihn gleichwohl noch als Mitgründer dieser »großen und schönen Assoziation« an.

Härter gegen Marx, aber in der Sache gefaßter sprach Bakunin in dem Abschiedsbriefe, den er an die Jurassier richtete. Als das Zentrum |508| der Reaktion, mit der die Arbeiter einen schrecklichen Kampf zu führen hätten, erklärte er nicht minder den Sozialismus von Marx wie die Diplomatie Bismarcks. Seinen Rücktritt von der Agitation begründete er auch hier durch sein Alter und seine Krankheit, die seine Teilnahme am Kampfe mehr zu einem Hindernis wie zu einer Hilfe machen würden, doch entnahm er die Berechtigung dazu erst aus der Tatsache, daß die beiden Kongresse in Genf den Sieg seiner und die Niederlage der gegnerischen Sache bekundet hätten.

Natürlich wurden die »Gesundheitsrücksichten« Bakunins als Ausflüchte verspottet, doch bewiesen die wenigen Jahre, die er noch in bitterer Armut und unter schmerzhaften Leibesgebrechen zu leben hatte, daß seine Kraft gebrochen war. Auch daß er »vielleicht« das Vertrauen auf einen baldigen Sieg der Revolution verloren hatte, geht aus den vertraulichen Briefen hervor, die er an seine nächsten Freunde richtete. Er starb am 1. Juli 1876 in Bern. Er hätte einen glücklicheren Tod und einen besseren Nachruhm verdient, als ihm nicht in allen, aber in zahlreichen Kreisen der Arbeiterklasse geworden ist, für die er so tapfer gekämpft und so schwer gelitten hat.

Bei all seinen Fehlern und Schwächen wird ihm die Geschichte einen Ehrenplatz unter den Vorkämpfern des internationalen Proletariats sichern, mag dieser Platz auch immer bestritten werden, solange es Philister auf diesem Erdenball gibt, gleichviel, ob sie die polizeiliche Nachtmütze über die langen Ohren ziehen oder ihr schlotterndes Gebein unter dem Löwenfell eines Marx zu bergen suchen.


[1] Karl Marx: Erste Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 6. <=

[2] Karl Marx: [Brief an den Ausschuß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei], in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 268-270. <=

[3] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 272. <=

[4] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 272/273. <=

[5] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 273. <=

[6] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 274. <=

[7] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 274. <=

[8] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 274/275. <=

[9] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 275/276. <=

[10] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 276. <=

[11] Karl Marx: Zweite Adresse des Generalrats über den Deutsch-Französischen Krieg, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 277/278. <=

[12] Karl Marx: Die Preß und Redefreiheit in Deutschland, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 285. <=

[13] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 348. <=

[14] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 341. <=

[15] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 342. <=

[16] Karl Marx: Der Bürgerkrieg in Frankreich, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17, S. 362. <=

[17] Karl Marx/Friedrich Engels: Die angeblichen Spaltungen in der Internationale, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 18, S. 50. <=

[18] Karl Marx/Friedrich Engels: Die angeblichen Spaltungen in der Internationale, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 18, S. 32/34. <=

[19] Karl Marx: Herrn George Howells Geschichte der Internationalen Arbeiterassoziation, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 147. <=


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