Brief an einen Genossen
über unsere organisatorischen Aufgaben

gedruckt nachzulesen in: Lenin Werke, Band 6, Seite 217-244; Dietz Verlag Berlin, 1975

W.I. Lenin

Brief an einen Genossen über unsere organisatorischen Aufgaben

<227>Lieber Genosse! Mit Vergnügen erfülle ich Ihre Bitte, an Ihrem Ent­wurf zur „Organisation der St.-Petersburger revolutionären Partei" Kri­tik zu üben. (Sie hatten vermutlich die Organisation der Petersburger Arbeit der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands im Auge.) Die von Ihnen aufgeworfene Frage ist so wichtig, daß sich an ihrer Erörterung alle Mitglieder des St.-Petersburger Komitees, ja überhaupt alle russi­schen Sozialdemokraten beteiligen müssen.

Vor allem möchte ich feststellen, daß ich vollkommen mit Ihrer Er­klärung einverstanden bin, warum die frühere („bündlerische", wie Sie sie nennen) Organisation des „Kampfbundes" nichts taugt. Sie weisen auf das Fehlen einer ernsten Schulung und revolutionären Erziehung bei den fortgeschrittenen Arbeitern hin, auf das sogenannte Wahlsystem, das die Leute vom „Rabotscheje Delo" unter Berufung auf die „demokra­tischen" Grundsätze so stolz und hartnäckig verteidigen, und auf die Ent­fremdung der Arbeiter von aktiver Tätigkeit.

Ja, so ist es: l. das Fehlen einer ernsten Schulung und revolutionären Erziehung (nicht nur bei den Arbeitern, sondern auch bei den Intellek­tuellen), 2. eine unangebrachte und übertriebene Anwendung des Wahl­prinzips und 3. die Entfremdung der Arbeiter von aktiver revolutionärer Tätigkeit — darin besteht tatsächlich der Hauptmangel nicht nur der St.-Petersburger, sondern auch vieler anderer örtlicher Organisationen unserer Partei.

Ich teile vollständig Ihre Grundauffassung von den organisatorischen Aufgaben und schließe mich auch Ihrem Organisationsentwurf an, so­weit mir seine Hauptzüge aus Ihrem Brief klargeworden sind.

<228>Und zwar bin ich vollkommen Ihrer Ansicht, daß die Aufgaben der gesamtrussischen Arbeit und der Gesamtpartei überhaupt besonders be­tont werden müssen; bei Ihnen kommt das darin zum Ausdruck, daß der erste Punkt Ihres Entwurf s lautet: „Das leitende Zentrum der Partei" (und nicht nur eines Komitees oder Bezirks) „ist die Zeitung 'Iskra', die unter den Arbeitern ständige Berichterstatter hat und mit der inneren Arbeit der Organisation eng verbunden ist." Ich möchte nur bemerken, daß die Zeitung der ideologische Führer der Partei sein kann und muß, daß sie die theoretischen Wahrheiten, die taktischen Leitsätze, die allgemeinen organisatorischen Ideen, die allgemeinen Aufgaben der Gesamtpartei in diesem oder jenem Augenblick zu entwickeln hat. Die unmittelbare prak­tische Führung der Bewegung aber kann nur in den Händen einer be­sonderen zentralen Gruppe liegen (nennen wir sie kurzerhand Zentral­komitee), die mit allen Komitees persönlich in Verbindung steht, alle besten revolutionären Kräfte aller russischen Sozialdemokraten in sich vereinigt und alle gesamtparteilichen Angelegenheiten leitet, so die Ver­teilung von Literatur, die Herausgabe von Flugblättern, die Verteilung der Kräfte, die Betrauung von Personen und Gruppen mit der Leitung be­sonderer Unternehmungen, die Vorbereitung gesamtrussischer Demon­strationen und des Aufstands usw. Angesichts der Notwendigkeit, strengste Konspiration zu üben und die Kontinuität der Bewegung zu wahren, kann und muß unsere Partei zwei führende Zentren haben: das ZO (Zentral­organ) und das ZK (Zentralkomitee). Das erste soll die ideologische, das zweite die unmittelbare und praktische Führung in Händen haben. Die Einheit der Aktion und die notwendige Verbundenheit dieser Gruppen sollen nicht nur durch das einheitliche Parteiprogramm gesichert sein, sondern auch durch die Zusammensetzung beider Gruppen (es ist erfor­derlich, daß beiden Gruppen, dem ZO sowohl wie dem ZK, Leute angehö­ren, unter denen volle Einmütigkeit herrscht) und durch die Veranstaltung regelmäßiger und ständiger Besprechungen zwischen ihnen. Nur dann wird einerseits das ZO dem Zugriff der russischen Gendarmen entzogen und seine Festigkeit und Stetigkeit gewährleistet sein - und anderseits wird das ZK stets in allen wesentlichen Fragen mit dem ZO übereinstimmen und genug Freiheit haben, um die gesamte praktische Seite der Bewegung unmittelbar zu leiten.

Es wäre daher wünschenswert, daß der erste Punkt des Statuts nicht nur <229>(wie Ihr Entwurf) darauf hinweist, welches Parteiorgan als führend an­erkannt wird (das ist natürlich ein notwendiger Hinweis), sondern auch darauf, daß die jeweilige örtliche Organisation es sich zur Aufgabe macht, an der Schaffung, Unterstützung und Festigung der zentralen Körper­schaften, ohne die unsere Partei als Partei nicht bestehen kann, aktiv mit­zuarbeiten.

Weiter sagen Sie im zweiten Punkt vom Komitee, es solle „die örtliche Organisation anleiten" (vielleicht wäre es besser, zu sagen: „die gesamte örtliche Arbeit und alle örtlichen Organisationen der Partei", aber ich will mich bei Einzelheiten der Formulierung nicht aufhalten), und es müsse sowohl aus Arbeitern wie aus Intellektuellen bestehen, denn deren Tren­nung in zwei Komitees sei schädlich. Das ist durchaus und unbedingt richtig. Es darf nur ein Komitee der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands geben, und ihm müssen politisch vollauf bewußte Sozialdemo­kraten angehören, die sich ganz der sozialdemokratischen Tätigkeit wid­men. Man soll sich besonders darum bemühen, daß möglichst viele Ar­beiter zu politisch vollauf bewußten Berufsrevolutionären werden und ins Komitee kommen.1 Besteht ein einheitliches und nicht zwiespältiges Ko­mitee, so gewinnt die Forderung, daß die Komiteemitglieder viele Arbeiter persönlich kennen, besondere Bedeutung. Um alles leiten zu können, was in der Arbeiterschaft vor sich geht, muß man die Möglichkeit haben, über­all hinzugelangen, muß man sehr viele Leute kennen, muß man alle Wege und Schliche kennen usw. usf. Dem Komitee müssen daher nach Möglich­keit alle bedeutenden Führer der Arbeiterbewegung aus der Mitte der Arbeiterschaft selbst angehören, das Komitee muß alle Bereiche der ört­lichen Bewegung leiten und alle örtlichen Einrichtungen, Kräfte und Mittel der Partei verwalten. Sie sagen nichts darüber, wie das Komitee gebildet werden soll — sicher werden wir auch hier miteinander übereinstimmen, daß dafür kaum besondere Regeln erforderlich sind. Wie das Komitee zusammenzusetzen ist — das ist schon Sache der Sozialdemokraten an Ort und Stelle. Allenfalls könnte man darauf aufmerksam machen, daß das Komitee auf Beschluß der Mehrheit (oder Zweidrittelmehrheit usw.) seiner <230>Mitglieder ergänzt wird, daß es dafür sorgen muß, sein Verbindungs­material an einem (in revolutionärer Beziehung) zuverlässigen und (in politischer Beziehung) sicheren Ort aufzubewahren, daß es ferner von vornherein für Ersatzmitglieder Sorge zu tragen hat. Sobald wir ein ZO und ein ZK haben, dürfen neue Komitees nur unter ihrer Mitwirkung und mit ihrer Zustimmung gegründet werden. Die Zahl der Komiteemit­glieder soll möglichst nicht sehr groß sein (damit diese Mitglieder ein hohes Niveau haben und sich besser auf den revolutionären Beruf spezialisie­ren können), doch muß sie genügen, um alle Arbeitsbereiche zu erfassen und gründliche Besprechungen sowie feste Beschlüsse zu gewährleisten. Sollte sich erweisen, daß die Komiteemitglieder ziemlich zahlreich sind und es für sie daher gefährlich ist, häufig zusammenzukommen, so sollte man vielleicht aus dem Komitee eine besondere, sehr kleine (sagen wir fünf Personen oder noch weniger) leitende Gruppe aussondern, der unbedingt der Sekretär und die Mitglieder, die sich für die praktische Leitung der gesamten Arbeit am besten eignen, angehören müßten. Für diese Gruppe wäre es besonders wichtig, sich für den Fall der Verhaftung Ersatzleute zu sichern, damit die Arbeit keine Unterbrechung erleidet. Die Vollversamm­lungen des Komitees würden die Maßnahmen der geschäftsführenden Gruppe bestätigen, ihre Zusammensetzung bestimmen usw.

Weiterhin schlagen Sie folgende, dem Komitee nachgeordnete, ihm unterstellte Einrichtungen vor: 1. Diskussion (Beratungen der „besten" Revolutionäre), 2. bezirksweise organisierte Zirkel mit 3. jedem von ihnen angegliederten Propagandistenzirkeln, 4. Betriebszirkel und 5. „Vertreter­zusammenkünfte" von Delegierten der Betriebszirkel des betreffenden Bezirks. Ich bin ganz wie Sie der Meinung, daß alle weiteren Einrich­tungen (und es muß außer den von Ihnen genannten noch sehr viele und sehr verschiedenartige geben) dem Komitee untergeordnet sein müssen und daß es Bezirksgruppen (für sehr große Städte) und Betriebsgruppen (stets und überall) geben muß. In einigen Einzelheiten aber bin ich, wie es scheint, mit Ihnen nicht ganz einverstanden. Was z. B. die „Diskus­sion" anbelangt, so denke ich, eine solche Einrichtung ist überhaupt über­flüssig. Alle „besten Revolutionäre" sollen dem Komitee angehören oder besondere Funktionen ausüben (Druckerei, Transport, Wanderagitation, Organisation, z. B. eines Paßbüros oder eines Stoßtrupps zum Kampf gegen Spitzel und Provokateure oder von Gruppen im Heer usw.).

<231>„Beratungen" werden sowohl im Komitee als auch in jedem Bezirk stattfinden, in jedem Betriebszirkel, Propagandistenzirkel, Gewerkschafts­zirkel (der Weber, Mechaniker, Lederarbeiter u. a.), Studentenzirkel, Literaturzirkel usw. Wozu also eine besondere Einrichtung für Be­ratungen?

Weiter. Sie haben vollständig recht, wenn Sie verlangen, daß „allen, die es wünschen", die Möglichkeit geboten werden soll, unmittelbar an die „Iskra" zu schreiben. Nur darf man dieses „unmittelbar" nicht so ver­stehen, daß man „allen, die es wünschen", die Adresse der Redaktion mitteilt und Zutritt zu ihr gibt, sondern es ist so aufzufassen, daß der Redaktion die Briefe von allen, die es wünschen, zu übergeben (oder zu übersenden) sind. Die Adressen müssen zwar einem ziemlich breiten Kreis zugänglich gemacht werden, aber immerhin nicht allen, die es wünschen, sondern nur zuverlässigen Revolutionären, die sich durch konspirative Geschicklichkeit auszeichnen — immerhin vielleicht nicht nur eine Adresse pro Bezirk, wie Sie vorschlagen, sondern mehrere; ferner ist es notwendig, daß alle, die an der Arbeit teilnehmen, daß ausnahmslos sämtliche Zirkel das Recht haben, ihre Beschlüsse, Wünsche, Anfragen sowohl dem Komitee als auch dem ZO und dem ZK zur Kenntnis zu bringen. Wenn wir das gewährleisten, so werden wir erschöpfende Beratungen aller Parteiarbeiter erreichen, ohne so schwerfällige und unkonspirative Einrichtungen zu schaffen, wie es die „Diskussion" wäre. Natürlich muß man außerdem noch bemüht sein, persönliche Besprechungen möglichst vieler und ver­schiedener Personen zu veranstalten — aber das ist einzig eine Frage der Konspiration.

Allgemeine Versammlungen und Zusammenkünfte sind in Rußland nur ab und zu in Ausnahmefällen möglich, und man muß außer­ordentlich vorsichtig sein, wenn man zu diesen Versammlungen „die besten Revolutionäre" heranzieht, denn für Provokateure und Spitzel ist es stets leichter, sich in allgemeine Versammlungen einzuschleichen und einem Versammlungsteilnehmer nachzuspionieren. Ich denke, es wäre vielleicht am besten, so vorzugehen: Wenn es möglich ist, große (sagen wir, von 30 bis 100 Personen) allgemeine Versammlungen zu veranstalten (z. B. im Sommer im Wald oder in einer eigens hierfür bereitgestellten konspi­rativen Wohnung), dann soll das Komitee einen oder zwei der „besten Revolutionäre" dorthin entsenden und für eine gute Zusammensetzung der Versammlung Sorge tragen, d. h. beispielsweise dafür, daß eine mög-<232>lichst große Zahl zuverlässiger Mitglieder von Betriebszirkeln usw. einge­laden wird. Man darf aber diese Versammlungen nicht zu einer festen Ein­richtung machen, sie nicht im Statut verankern, man darf sie nicht regel­mäßig veranstalten und nicht so, daß alle Versammlungsteilnehmer alle Anwesenden kennen, d. h. wissen, daß alle „Vertreter" von Zirkeln sind usw.; aus diesem Grunde bin ich nicht nur gegen „Diskussionen", sondern auch gegen „Vertreterzusammenkünfte". Anstatt dieser beiden Einrichtun­gen würde ich vorschlagen, beispielsweise folgende Regel aufzustellen. Das Komitee trägt Sorge für die Veranstaltung großer Versammlungen, an denen möglichst viele praktisch in der Bewegung Tätige und überhaupt alle Arbeiter teilnehmen. Zeit, Ort, Anlaß und Zusammensetzung der Ver­sammlung werden von dem Komitee bestimmt, das für die konspirative Or­ganisierung solcher Unternehmungen verantwortlich ist. Selbstverständlich sollen dadurch von Arbeitern veranstalteten Zusammenkünften bei Aus­flügen, im Wald usw., die noch weniger den Charakter ständiger Einrich­tungen tragen, keine Hindernisse in den Weg gelegt werden. Vielleicht wäre es noch besser, hiervon im Statut gar nicht zu reden.

Was weiter die Bezirksgruppen anbelangt, so stimme ich Ihnen dies­bezüglich durchaus zu, daß es zu ihren wichtigsten Aufgaben gehört, die Verteilung der Literatur richtig zu organisieren. Ich denke, die Bezirks­gruppen müssen hauptsächlich die Vermittler sein zwischen den Komitees und den Betrieben, Vermittler und sogar in erster Linie Übermittler. Die konspirative Organisierung eines richtigen Vertriebs der Literatur, die sie vom Komitee erhalten, hat ihre Hauptaufgabe zu sein. Und diese Auf­gabe ist im höchsten Grade wichtig, denn wenn man die regelmäßige Ver­bindung einer besonderen Bezirksgruppe von Austrägern mit allen Be­trieben des Bezirks, mit möglichst vielen Arbeiterwohnungen des Bezirks sichert, so wird das von ungeheurer Bedeutung sowohl für Demonstra­tionen als auch für den Aufstand sein. Eine rasche und richtige Über­mittlung von Druckschriften, Flugblättern, Aufrufen usw. so einrichten, daß sie reibungslos erfolgt und hierfür ein ganzes Netz von Agenten schulen—das heißt den größeren Teil der Vorbereitungsarbeiten für künf­tige Demonstrationen oder für den Aufstand leisten. Im Augenblick der Erregung, des Streiks, der Gärung ist es bereits zu spät, den Literatur­vertrieb in Gang zu bringen — das kann man nur allmählich lernen, in­dem man es unbedingt jeden Monat zwei- bis dreimal übt. Gibt es keine <233>Zeitung, so kann und muß man es mit Flugblättern üben, keineswegs aber darf man zulassen, daß dieser Vertriebsapparat untätig ist. Man muß danach trachten, diesen Apparat bis zu einem solchen Grad der Voll­kommenheit auszubauen, daß man in einer Nacht die gesamte Arbeiter­bevölkerung St. Petersburgs informieren und sozusagen mobilisieren kann. Das ist durchaus keine utopische Aufgabe, wenn man die Flugblätter systematisch von der Zentralstelle an die engeren Vermittlungszirkel und über sie an die Austräger weiterleitet. Meines Erachtens sollte man die Funktionen der Bezirksgruppe über ihre Rolle als reine Vermittlungs- und Ubermittlungsstelle hinaus nicht erweitern, oder richtiger, man sollte es nur mit größter Vorsicht tun — es könnte sonst die Konspiration und die Einheitlichkeit der Arbeit gefährden. Beratungen über alle Parteifragen werden natürlich auch in den Bezirkszirkeln stattfinden, Entscheidungen über allgemeine Fragen der örtlichen Bewegung darf aber nur das Komitee treffen. Selbständigkeit sollte der Bezirksgruppe nur in technischen Fragen der Weiterleitung und des Vertriebs zugestanden werden. Die Zusammen­setzung der Bezirksgruppe muß vom Komitee bestimmt werden, d, h., das Komitee ernennt ein oder zwei seiner Mitglieder (oder auch Nichtmitglie­der) zu Delegierten für den einen oder ändern Bezirk und beauftragt diese Delegierten, eine Bezirksgruppe zu bilden, deren sämtliche Mitglieder wiederum vom Komitee sozusagen im Amte bestätigt werden. Die Bezirks­gruppe ist eine Zweigstelle des Komitees, die nur von diesem ihre Voll­machten erhält.

Ich gehe zur Frage der Propagandistenzirkel über. Bei der Armut an propagandistischen Kräften dürfte es wohl kaum möglich und auch kaum wünschenswert sein, sie getrennt in jedem Bezirk einzurichten. Die Pro­paganda muß vom gesamten Komitee in einheitlichem Geiste durchgeführt werden, sie muß straff zentralisiert sein, darum stelle ich mir die Sache so vor: Das Komitee beauftragt einige seiner Mitglieder, eine Propagan­distengruppe zu bilden (die eine Zweigstelle oder Einrichtung des Komi­tees sein wird). Diese Gruppe, die in konspirativer Beziehung die Dienste der Bezirksgruppen in Anspruch nimmt, soll in der ganzen Stadt, in dem ganzen Gebiet, das dem Komitee „unterstellt" ist, Propaganda treiben. Sollte es notwendig sein, so kann diese Gruppe noch Untergruppen bil­den, also gewissermaßen diesen oder jenen Teil ihrer Funktionen abtre­ten, das alles aber nur mit Zustimmung des Komitees; das Komitee muß <234>stets und unbedingt das Recht haben, seinen Delegierten in jede Gruppe oder Untergruppe und in jeden Zirkel zu entsenden, der mit der Bewe­gung irgendwie in Berührung kommt.

In der gleichen Form der Beauftragung, in der Form von Zweigstellen oder Einrichtungen des Komitees, müssen alle die mannigfaltigen Gruppen organisiert sein, die im Dienste der Bewegung stehen — die Gruppen der Studenten- und der Gymnasialjugend oder die, sagen wir, Gruppen uns unterstützender Beamten, die Transport-, Druckerei- und Paßgruppen, die Gruppen zur Beschaffung von konspirativen Wohnungen, die Gruppen zur Beobachtung von Spitzeln, die Gruppen von Militärpersonen, die Gruppen zur Beschaffung von Waffen, die Gruppen zur Organisierung z.B. eines „gewinnbringenden finanziellen Unternehmens" usw. Die ganze Kunst der konspirativen Organisation muß darin bestehen, alle und alles auszunutzen, „allen und jedem Arbeit zu geben", gleichzeitig aber die Führung der gesamten Bewegung in der Hand zu behalten, und zwar selbst­verständlich nicht kraft der Machtbefugnisse, sondern kraft des Ansehens, kraft der Energie, der größeren Erfahrung, der größeren Vielseitigkeit, der größeren Begabung. Diese Bemerkung bezieht sich auf den möglichen und üblichen Einwand, daß eine straffe Zentralisation die Sache allzu leicht zu­grunde richten kann, wenn der Zentralstelle zufällig ein mit sehr großen Machtbefugnissen ausgestatteter unfähiger Mensch angehört. Das ist natür­lich möglich, aber das Mittel dagegen ist keinesfalls Wählbarkeit und Dezen­tralisation, die in der revolutionären Arbeit unter der Selbstherrschaft in nennenswertem Umfange völlig unzulässig, ja geradezu schädlich sind. Das Mittel dagegen gibt kein Statut, es kann nur gegeben werden durch „kameradschaftliche Einwirkung", angefangen mit Resolutionen all der vielen Untergruppen, fortgesetzt mit deren Anträgen an das ZO und das ZK und (im schlimmsten Falle) bis zum Sturz des völlig unfähigen Macht­organs. Das Komitee muß danach trachten, eine möglichst weitgehende Arbeitsteilung durchzuführen, eingedenk dessen, daß für verschiedene Seiten der revolutionären Arbeit verschiedene Fähigkeiten erforderlich sind, daß manchmal ein Mensch, der als Organisator völlig unbrauchbar ist, ein unersetzlicher Agitator sein kann, oder ein Mensch, der sich für die strenge konspirative Disziplin nicht eignet, ein ausgezeichneter Propa­gandist usw.

Übrigens, was die Propagandisten anbelangt, so möchte ich noch einige <235>Worte gegen die herkömmliche Überfüllung dieses Berufs mit wenig befähigten Leuten und das dadurch bedingte Sinken des Niveaus der Pro­paganda sagen. Bei uns gilt manchmal ganz wahllos jeder Student als Propagandist, und die ganze Jugend verlangt, man solle ihr „einen Zirkel geben" usw. Dagegen müßte man kämpfen, denn dadurch wird sehr viel Schaden angerichtet. Wahrhaft prinzipienfeste und fähige Propagandisten gibt es sehr wenige (und um ein solcher Propagandist zu werden, heißt es tüchtig lernen und Erfahrung sammeln), und diese Leute muß man zu Fachleuten machen, voll einsetzen und sorgfältig hüten. Man muß sie jede Woche mehrere Vorlesungen halten lassen und sie rechtzeitig in andere Städte zu schicken wissen, wie man überhaupt dafür sorgen soll, daß ge­schickte Propagandisten verschiedene Städte bereisen. Die Masse der jun­gen Leute aber, die eben erst zu arbeiten beginnen, soll man mehr zu praktischen Unternehmungen heranziehen, die bei uns — im Vergleich zu der optimistisch als „Propaganda" bezeichneten Studentengeschäftigkeit in den Zirkeln — oft vernachlässigt werden. Für ernste praktische Unter­nehmungen ist natürlich ebenfalls eine gründliche Schulung erforderlich, doch findet sich hier leichter auch für „Anfänger" ein Betätigungsfeld.

Jetzt zu den Betriebszirkeln. Sie sind für uns besonders wichtig, liegt doch die ganze Hauptkraft der Bewegung darin, daß die Arbeiter der großen Betriebe organisiert sind, denn die großen Betriebe (und Fabriken) umfassen nicht nur zahlenmäßig, sondern noch viel mehr dem Einfluß, der Entwicklung, der Kampffähigkeit nach den ausschlaggebenden Teil der gesamten Arbeiterklasse. Jeder Betrieb muß unsere Festung sein. Und deshalb muß jede „Betriebs"organisation der Arbeiter nach innen ebenso konspirativ und nach außen ebenso „verzweigt" sein, d. h. in ihren äuße­ren Beziehungen ihre Fühler ebenso weit und nach den verschiedensten Richtungen ausstrecken wie jede revolutionäre Organisation. Ich betone, daß auch hier unbedingt eine Gruppe von revolutionären Arbeitern der Kern und der Führer, der „Herr im Hause" sein muß. Mit der Tradition des reinen Arbeiter- oder Gewerkschaftstypus der sozialdemokratischen Organisationen müssen wir auch in den „Betriebs"zirkeln vollständig brechen. Die Betriebsgruppe oder das Betriebs-(Fabrik-)Komitee (um es von den anderen Gruppen, deren es sehr viele geben muß, zu unterschei­den) soll aus einer sehr kleinen Anzahl von Revolutionären bestehen, die ihre Aufträge und Vollmachten zur Entfaltung der gesamten sozialdemo-<236>kratischen Arbeit im Betrieb unmittelbar vom Komitee erhalten. Alle Mit­glieder des Betriebskomitees müssen sich als Agenten des Komitees be­trachten,- sie sind verpflichtet, sich allen seinen Anordnungen zu fügen, sie sind verpflichtet, alle „Gesetze und Bräuche" der „kämpfenden Ar­mee" zu beachten, in die sie eingetreten sind und die sie zur Kriegszeit ohne Erlaubnis der vorgesetzten Stelle zu verlassen kein Recht haben.

Die Zusammensetzung des Betriebskomitees ist daher von außerordent­lich großer Bedeutung, und es muß eine der Hauptsorgen des Komitees sein, diese Unterkomitees richtig zu organisieren. Ich stelle mir die Sache so vor: Das Komitee beauftragt diese oder jene seiner Mitglieder (plus, nehmen wir an, diese oder jene Arbeiter, die aus irgendwelchen Gründen dem Komitee nicht angehören, aber dank ihrer Erfahrung, ihrer Men­schenkenntnis, ihrer Klugheit und ihren Verbindungen nützlich sein kön­nen), überall Unterkomitees in den Betrieben zu gründen. Die Kommis­sion berät sich mit den Bezirksbevollmächtigten, bestimmt eine Reihe von Zusammenkünften, prüft die Kandidaten für die Betriebsunterkomitees auf Herz und Nieren, unterzieht sie einem „hochnotpeinlichen" Kreuz­verhör, stellt sie, falls nötig, auf die Probe, bemüht sich hierbei, möglichst viele Kandidaten für das Unterkomitee des betreffenden Betriebs selbst unmittelbar kennenzulernen und zu prüfen, und schlägt schließlich dem Komitee vor, eine bestimmte Zusammensetzung jedes Betriebszirkels zu bestätigen oder einen bestimmten Arbeiter zu bevollmächtigen, das ganze Unterkomitee zusammenzustellen, die Mitglieder auszuwählen und vor­zuschlagen. Auf diese Weise wird das Komitee selbst bestimmen, wer von diesen Agenten die Verbindung mit ihm aufrechterhält und wie er es tut (in der Regel durch die Bezirksbevollmächtigten; doch kann diese Regel auch ergänzt oder abgeändert werden).

Angesichts der Wichtigkeit dieser Betriebsunterkomitees müssen wir soweit wie möglich danach stre­ben, daß jedes Unterkomitee sowohl eine Adresse hat, durch die es sich an das ZO wenden kann, als auch eine sichere Aufbewahrungsstelle für sein Verbindungsmaterial (d. h., daß Informationen, die zur sofortigen Wiederherstellung des Unterkomitees im Falle von Verhaftungen erfor­derlich sind, möglichst regelmäßig und ausführlich der zentralen Partei­leitung zur Aufbewahrung an einer Stelle übermittelt werden, wo die russischen Gendarmen nicht eindringen können). Selbstverständlich muß diese Adressenübermittlung vom Komitee auf Grund eigener Erwägungen <237>und Unterlagen vorgenommen werden, nicht aber auf Grund eines nicht bestehenden Rechts auf „demokratische" Verteilung dieser Adressen. Schließlich ist vielleicht der Hinweis nidit überflüssig, daß es manchmal notwendig oder zweckmäßiger sein wird, nicht ein Betriebsunterkomitee aus mehreren Mitgliedern zu bilden, sondern sich auf die Ernennung eines Agenten des Komitees (und eines Ersatzmannes) zu beschränken. So­bald ein Betriebsunterkomitee gebildet ist, muß es zur Gründung einer ganzen Reihe von Betriebsgruppen und -zirkeln mit verschiedenen Auf­gaben, unterschiedlich strenger Konspiration und mehr oder weniger fest­gefügter Form schreiten; beispielsweise Zirkel zum Austragen und zur Verbreitung von Literatur (eine der wichtigsten Funktionen, die so geregelt werden muß, daß wir unsere eigene richtiggehende Post haben, daß nicht nur die Methoden der Verbreitung, sondern auch das Aus­tragen in die Wohnungen erprobt und geprüft ist, daß man unbedingt alle Wohnungen und die Wege zu ihnen kennt), Zirkel zum Lesen ille­galer Literatur, Zirkel zur Beobachtung von Spitzeln2, Zirkel eigens zur Leitung der Gewerkschaftsbewegung und des wirtschaftlichen Kamp­fes, Zirkel von Agitatoren und Propagandisten, die es verstehen, Ge­spräche anzuknüpfen und sie lange völlig legal zu führen (über Maschi­nen, über die Inspektion usw.), damit sie ungefährdet und öffentlich sprechen, die Leute aushorchen und den Boden sondieren können usw.3 Das Betriebsunterkomitee muß danach streben, den ganzen Betrieb, einen möglichst großen Teil der Arbeiter durch ein Netz von allen möglichen Zirkeln (oder Agenten) zu erfassen. Die Vielzahl dieser Zirkel, die Mög­lichkeit, einen Wanderpropagandisten in sie einzuführen, vor allem aber <238>die richtige und regelmäßige Arbeit zur Verbreitung von Druckschriften und zur Beschaffung von Informationen und Korrespondenzen hat der Maßstab zu sein für die erfolgreiche Tätigkeit des Unterkomitees.

Der allgemeine Typus der Organisation muß also meines Erachtens folgender Art sein: An der Spitze der gesamten örtlichen Bewegung, der gesamten örtlichen sozialdemokratischen Arbeit steht das Komitee. Von ihm gehen folgende, ihm untergeordnete Einrichtungen und Zweigstellen aus: erstens ein Netz ausführender Agenten, das (nach Möglichkeit) die ganze Arbeitermasse erfaßt und in Form von Bezirksgruppen und Betriebs-(Fabrik-) Unterkomitees organisiert ist. Dieses Agentennetz wird in fried­lichen Zeiten Broschüren, Flugblätter, Aufrufe und konspirative Mit­teilungen des Komitees verbreiten, in Zeiten des Kampfes Demonstra­tionen und ähnliche kollektive Aktionen veranstalten. Zweitens gehen von dem Komitee alle möglichen Zirkel und Gruppen aus, die im Dienste der Gesamtbewegung stehen (Propaganda, Transport, allerhand konspi­rative Unternehmungen usw.). Alle Gruppen, Zirkel, Unterkomitees usw. haben als Einrichtungen oder Zweigstellen des Komitees zu gelten. Manche von ihnen werden offen den Wunsch aussprechen, der Sozial­demokratischen Arbeiterpartei Rußlands beizutreten, und werden ihr, die Bestätigung des Komitees vorausgesetzt, auch beitreten, sie werden (im Auftrage des Komitees oder im Einverständnis mit ihm) bestimmte Funk­tionen übernehmen und sich verpflichten, die Anordnungen der Partei­organe zu befolgen, sie werden alle Rechte von Parteimitgliedern erhal­ten, als nächste Kandidaten für das Komitee betrachtet werden usw. Andere werden der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands nicht beitreten, ihre Stellung wird weiter die von Zirkeln sein, die von Partei­mitgliedern eingerichtet werden oder sich an die eine oder andere Partei­gruppe anlehnen usw.

In allen inneren Angelegenheiten sind die Mitglieder aller dieser Zir­kel selbstverständlich ebenso gleichberechtigt, wie es die Komiteemitglie­der untereinander sind. Die einzige Ausnahme hiervon wird sein, daß das Recht der persönlichen Verbindung mit dem örtlichen Komitee (wie auch mit dem ZK und dem ZO) nur derjenige (oder diejenigen) haben wird, der von diesem Komitee hierfür bestimmt ist. In jeder anderen Beziehung wird ein solcher Verbindungsmann mit den übrigen gleichberechtigt sein, die dasselbe Recht haben, sich (allerdings nicht persönlich) sowohl an das < 239>örtliche Komitee wie an das ZK und an das ZO zu wenden. Die erwähnte Ausnahme wird also im Grunde gar keine Verletzung der Gleichberechti­gung sein, sondern nur ein notwendiges Zugeständnis an die unbedingten Erfordernisse der Konspiration. Ein Komiteemitglied, das eine Mitteilung „seiner" Gruppe an das Komitee, das ZK oder das ZO nicht weiterleitet, wird sich geradezu einer Verletzung der Parteipflicht schuldig machen. Was ferner den konspirativen Charakter und das organisatorische Gefüge der verschiedenen Zirkel anbelangt, so wird das von der Art ihrer Funk­tionen abhängen; dementsprechend wird es hier die verschiedenartigsten Organisationen geben (von der „strengsten", engen, in sich abgeschlosse­nen bis zur „freiesten", breiten, offenen, lose organisierten). Für die Gruppe der Austräger z B. ist größte Konspiration und militärische Diszi­plin erforderlich. Für die Gruppe der Propagandisten ist Konspiration ebenfalls erforderlich, militärische Disziplin aber in weit geringerem Maße. Für die Gruppe von Arbeitern, die legale Druckschriften lesen oder Aussprachen über berufliche Nöte und Wünsche veranstalten, ist noch weniger Konspiration erforderlich usw. Die Gruppen der Austräger müssen der SDAPR angehören und eine gewisse Anzahl von Mitgliedern und Funktionären der Partei kennen. Eine Gruppe, welche die Arbeits­bedingungen in verschiedenen Berufszweigen studiert und entsprechende gewerkschaftliche Forderungen ausarbeitet, muß nicht unbedingt der SDAPR angehören. Eine Gruppe von Studenten, Offizieren oder Ange­stellten, die sich unter Teilnahme von einem oder zwei Parteimitgliedern mit Selbstbildung befaßt, darf manchmal sogar überhaupt nicht von deren Zugehörigkeit zur Partei wissen usw.

In einer Beziehung aber müssen wir unbedingt maximale Organisiertheit der Arbeit in allen diesen Unter­gruppen verlangen, und zwar: Jedes Parteimitglied, das daran teilnimmt, ist für die Durchführung der Arbeit in diesen Gruppen formell verant­wortlich und verpflichtet, alle Maßnahmen zu treffen, damit die Zusam­mensetzung einer jeden solchen Gruppe, das gesamte Getriebe ihrer Arbeit und der ganze Inhalt dieser Arbeit dem ZK und dem ZO möglichst offen vor Augen liegen. Das ist notwendig, damit erstens die Zentralstelle ein vollständiges Bild von der gesamten Bewegung hat, damit sie zweitens aus einem möglichst großen Personenkreis eine Auswahl zur Besetzung ver­schiedener Parteifunktionen treffen kann, damit drittens (durch Vermitt­lung der Zentralstelle) alle ähnlichen Gruppen in ganz Rußland an dem <240>Beispiel einer Gruppe lernen können, und schließlich, damit das Eindrin­gen von Lockspitzeln und zweifelhaften Elementen verhindert wird — mit einem Wort, das ist unbedingt und in allen Fällen dringend notwendig.

Wie erreicht man das? Regelmäßige Berichte an das Komitee, Mittei­lungen an das ZO über einen möglichst großen Teil des Inhalts einer mög­lichst großen Zahl dieser Berichte, Veranstaltung von Besuchen aller mög­lichen Zirkel durch Mitglieder des ZK und des örtlichen Komitees, schließlich obligatorische Hinterlegung der Verbindungen mit diesem Zir­kel, d. h. der Namen und Adressen einiger Mitglieder dieses Zirkels, an einem sicheren Ort (und im Parteibüro beim ZO und ZK). Nur dann, wenn Berichte eingereicht und Verbindungen übermittelt werden, darf man anerkennen, daß ein Parteimitglied, das an einem bestimmten Zirkel teilnimmt, seine Pflicht erfüllt hat; nur dann wird die Partei als Ganzes in der Lage sein, von jedem einzelnen Zirkel, der praktische Arbeit lei­stet, zu lernen; nur dann brauchen uns Verhaftungen nicht zu schrecken, denn wenn Verbindungen mit den verschiedenartigsten Zirkeln vorhan­den sind, wird es für einen Delegierten unseres ZK immer leicht sein, sofort Ersatzleute zu finden und die Arbeit wieder in Gang zu bringen. Eine Verhaftung des Komitees wird dann nicht den ganzen Apparat zer­stören, sondern nur die Führer herausreißen, für die aber schon Ersatz vorhanden ist. Man soll uns nicht entgegnen, daß die Übermittlung von Berichten und Verbindungen aus Gründen der Konspiration unmöglich sei: man muß nur den Willen haben, dann ist die Möglichkeit, Mitteilun­gen und Verbindungen zu übergeben (oder zu übersenden), stets vorhan­den und wird stets vorhanden sein, solange wir Komitees, ein ZK oder ein ZO haben.

Wir sind jetzt zu einem sehr wichtigen Grundsatz der gesamten Par­teiorganisation und Parteitätigkeit gekommen: Wenn hinsichtlich der ideologischen und der praktischen Leitung der Bewegung und des revo­lutionären Kampfes des Proletariats eine möglichst große Zentralisation erforderlich ist, so ist hinsichtlich der Information der zentralen Partei-stelle (und folglich auch der Gesamtpartei überhaupt) über die Bewegung, hinsichtlich der Verantwortlichkeit vor der Partei eine möglichst große Dezentralisation erforderlich. Die Bewegung leiten muß eine möglichst kleine Anzahl möglichst gleichartiger Gruppen erfahrener und erprobter Berufsrevolutionäre. An der Bewegung teilnehmen muß eine möglichst <241>große Anzahl möglichst verschiedenartiger und mannigfaltiger Gruppen aus den verschiedensten Schichten des Proletariats (und anderer Volks­klassen). Die zentrale Parteistelle muß von jeder einzelnen dieser Grup­pen stets nicht nur genaue Angaben über ihre Tätigkeit, sondern auch möglichst vollständige Angaben über ihre Zusammensetzung in Händen haben. Wir müssen die Leitung der Bewegung zentralisieren. Wir müs­sen auch (und gerade zu diesem Zweck, denn ohne Information ist eine Zentralisation unmöglich) die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Par­teimitglieds, jedes Mitarbeiters, jedes der Partei angehörenden oder sich an sie anlehnenden Zirkels der Partei gegenüber möglichst stark dezen­tralisieren. Diese Dezentralisation ist die notwendige Voraussetzung der revolutionären Zentralisation und deren unerläßliches Korrektiv. Erst wenn die Zentralisation bis zu Ende durchgeführt ist und wir ein ZO und ein ZK haben, wird die Möglichkeit des Verkehrs jeder kleinsten Gruppe mit ihnen — und nicht nur die Möglichkeit des Verkehrs, sondern auch die durch langjährige Praxis erarbeitete Regelmäßigkeit des Verkehrs mit dem ZO und dem ZK — die Möglichkeit trauriger Folgen einer zufällig mißglückten Zusammensetzung des einen oder anderen örtlichen Komi­tees ausschalten.

Jetzt, wo wir die tatsächliche Einigung der Partei und die Schaffung einer wirklich zentralen Leitung unmittelbar in Angriff neh­men, müssen wir uns besonders fest einprägen, daß diese Leitung macht­los sein wird, wenn wir nicht gleichzeitig eine maximale Dezentralisa­tion durchführen, sowohl hinsichtlich der Verantwortung ihr gegenüber als auch hinsichtlich ihrer Unterrichtung über alle Räder und Rädchen der Parteimaschine. Eine solche Dezentralisation ist nichts anderes als die Kehrseite jener Arbeitsteilung, die, wie allgemein anerkannt, eines der lebenswichtigsten praktischen Erfordernisse unserer Bewegung ist. Die offizielle Anerkennung einer bestimmten Organisation als der führenden, die Gründung formaler ZKs werden unsere Bewegung noch lange nicht wirklich einheitlich machen, werden noch keine festgefügte Kampfpartei schaffen, wenn die zentrale Parteistelle nach wie vor von der unmittel­baren praktischen Arbeit verdrängt sein wird durch örtliche Komitees vom alten Schlag, d. h. durch Komitees, denen einerseits ein ganzer Hau­fen von Leuten angehört, die sich mit allen möglichen Angelegenheiten befassen, ohne sich einzelnen Funktionen der revolutionären Arbeit zu widmen, ohne für besondere Aktionen verantwortlich zu sein und ohne<242>die einmal begonnene, gut durchdachte und gut vorbereitete Sache zu Ende zu führen, die eine Unmenge von Zeit und Kraft in scheinradikaler Geschäftigkeit vergeuden, während es anderseits eine ganze Menge Stu­denten- und Arbeiterzirkel gibt, von denen die eine Hälfte dem Komitee überhaupt nicht bekannt ist und die andere Hälfte ebenso schwerfällig ist wie das Komitee, ebensowenig spezialisiert ist, keine berufliche Erfah­rung erarbeitet, die Erfahrung der anderen Gruppen nicht ausnutzt und genauso wie das Komitee mit endlosen Beratungen „über alles", mit Wahlen und mit der Abfassung von Statuten beschäftigt ist.

Damit die Zentralstelle gut arbeiten kann, müssen die örtlichen Komitees sich um­gestalten, müssen sie zu spezialisierten und „sachlicher" arbeitenden Or­ganisationen werden, die es in der einen oder anderen praktischen Funk­tion zu wirklicher „Vollendung" bringen. Damit die Zentralstelle nicht nur (wie es bisher der Fall war) beraten, überreden, diskutieren, sondern das Orchester wirklich dirigieren kann, ist es erforderlich, daß man genau weiß, wer wo welche Geige spielt, wo und wie er welches Instrument spielen gelernt hat oder lernt, wer wo und warum falsch spielt (wenn die Musik in den Ohren kratzt) und wen man, wie und wohin, zur Beseiti­gung des Mißklangs versetzen muß usw. Heute — das muß offen gesagt werden — wissen wir entweder gar nichts über die wirkliche innere Ar­beit eines Komitees, abgesehen von seinen Flugblättern und allgemein gehaltenen Briefen, oder wir wissen es von Freunden und guten Bekann­ten. Es wäre aber doch lächerlich zu glauben, daß sich eine große Partei, die fähig ist, die russische Arbeiterbewegung zu führen, und die den all­gemeinen Ansturm auf die Selbstherrschaft vorbereitet, hierauf beschrän­ken könnte. Die Verringerung der Zahl der Komiteemitglieder, die Betrauung möglichst eines jeden von ihnen mit einer bestimmten besonderen Funktion, für die er verantwortlich ist und Rechenschaft ablegen muß, die Gründung einer besonderen, zahlenmäßig sehr kleinen leitenden Zentral­stelle, die Schaffung eines Netzes ausführender Agenten, die das Komitee mit jedem Großbetrieb, jeder Fabrik verbinden, für die regelmäßige Ver­breitung der Literatur sorgen und der Zentralstelle ein genaues Bild dieser Verbreitung und aller Zusammenhänge der Arbeit geben, schließlich die Gründung zahlreicher Gruppen und Zirkel, die verschiedene Funktionen übernehmen oder Leute zusammenfassen, die der Sozialdemokratie nahestehen, ihr helfen und sich zu Sozialdemokraten entwickeln, wobei die <243>Tätigkeit (und Zusammensetzung) dieser Zirkel dem Komitee und der Zentralstelle stets bekannt sein muß — darin hat die Umgestaltung des St.-Petersburger und aller übrigen Parteikomitees zu bestehen, und des­halb ist die Frage des Statuts von so geringer Bedeutung.

Ich habe mit der Analyse des Statutenentwurfs begonnen, um anschau­licher zu zeigen, worauf meine Vorschläge abzielen. Und es wird dem Leser nun, hoffe ich, klargeworden sein, daß man im Grunde wohl auch ohne Statut auskommen kann, wenn man es durch regelmäßige Berichterstattung über jeden Zirkel, über jeden Arbeitsbereich ersetzt. Was kann man im Statut schreiben? Das Komitee leitet alle (das ist auch ohnehin klar). Das Komitee wählt eine leitende Gruppe (das ist nicht immer notwendig, wenn es aber notwendig ist, so kommt es nicht auf das Statut an, sondern auf die Unterrichtung der Zentralstelle über die Zusammensetzung dieser Gruppe und die Ersatzleute). Das Komitee verteilt die einzelnen Arbeits­gebiete unter seine Mitglieder und beauftragt jedes, dem Komitee regel­mäßig Bericht zu erstatten und das ZO und das ZK über den Gang der Arbeit zu unterrichten (auch hier ist es wichtiger, die Zentralstelle über die vorgenommene Verteilung zu unterrichten, als im Statut eine Regel festzulegen, die bei unserem Kräftemangel häufig nicht zur Anwendung kommen wird). Das Komitee muß genau bestimmen, wer ihm als Mit­glied angehört. Das Komitee wird durch Kooptation ergänzt. Das Komitee ernennt Bezirksgruppen, Betriebsunterkomitees und die und die Gruppen (wollte man alles Wünschenswerte aufzählen, so würde man nie damit fertig, sie aber im Statut auch nur annähernd aufzuzählen, hat keinen Zweck; es genügt, wenn man der Zentralstelle über ihre Gründung Mit­teilung macht). Die Bezirksgruppen und Unterkomitees gründen die und die Zirkel... Die Abfassung eines solchen Statuts ist heute um so weniger nützlich, als wir, was die Tätigkeit verschiedener solcher Gruppen und Untergruppen anbelangt, fast keine (an vielen Orten überhaupt keine) allgemeine Parteierfahrung haben, um aber eine solche Erfahrung zu sammeln, bedarf es keines Statuts, sondern der Einrichtung einer, wenn man so sagen darf, innerparteilichen Berichterstattung. Jede örtliche Or­ganisation verschwendet jetzt mindestens einige Abende auf das Statut. Wenn statt dessen jeder diese Zeit ausnützen würde, um der Gesamtpartei einen ausführlichen und wohlüberlegten Bericht über seine besondere Funktion zu erstatten, so würde die Sache hundertfach gewinnen.

<244>Und nicht nur deshalb sind Statuten nutzlos, weil die revolutionäre Arbeit nicht immer eine feste Form zuläßt. Nein, eine feste Form ist not­wendig, und wir müssen uns bemühen, der gesamten Arbeit nach Mög­lichkeit eine feste Form zu geben. Und eine feste Form ist in bedeutend größerem Umfang zulässig, als man gemeinhin annimmt, aber sie ist nicht durch Statuten zu erreichen, sondern nur und ausschließlich (wir wieder­holen das immer und immer wieder) durch genaue Unterrichtung der zentralen Parteistelle: erst dann wird sich eine reale feste Form heraus­bilden, die mit realer Verantwortlichkeit und (Partei-)öffentlichkeit ver­bunden ist. Wer von uns weiß denn nicht, daß ernste Konflikte und Mei­nungsverschiedenheiten bei uns im Grunde nie durch Abstimmung „laut Statut", sondern durch Kampf und durch die Drohung „fortzugehen" entschieden werden? Die Geschichte der Mehrheit unserer Komitees ist in den letzten drei, vier Jahren des Parteilebens angefüllt mit solchem inneren Kampf. Es ist sehr schade, daß dieser Kampf in keine feste Form gefügt worden ist; er hätte sonst weit mehr zur Belehrung der Partei und zur Vermittlung von Erfahrungen an unsere Nachfolger beigetragen. Aber eine derartige nützliche und notwendige feste Form wird durch kein Statut, sondern ausschließlich durch die Parteiöffentlichkeit geschaffen. Unter der Selbstherrschaft kann es bei uns kein anderes Mittel und kein anderes Werkzeug der Parteiöffentlichkeit geben als die regelmäßige In­formation der zentralen Parteistelle.

Erst wenn wir lernen, von dieser Öffentlichkeit weitgehend Gebrauch zu machen, werden wir tatsächlich Erfahrungen sammeln über das Funk­tionieren dieser oder jener Organisationen, und nur auf Grund solch um­fassender und vieljähriger Erfahrungen können Statuten zustande kom­men, die keine Papierstatuten sind.

Geschrieben zwischen dem 1. und 11. September 1902 (14. und 24.9. nach gregorianischen Kalender).
Zuerst veröffentlicht im Jahr 1902 als Hektographie.
Ins Deutsche übersetzt nach dem Text der vom ZK der SDAPR im Jahr 1904 herausgegebenen Broschüre.

Fußnoten

1Man soll sich bemühen, ins Komitee die Arbeiterrevolutionäre aufzuneh­men, die die meisten Verbindungen und den besten „Ruf" in der Arbeitermasse haben

2Wir müssen den Arbeitern einschärfen, daß die Tötung von Spitzeln, Pro­vokateuren und Verrätern zwar manchmal eine unbedingte Notwendigkeit sein kann, daß es jedoch äußerst unerwünscht und falsch wäre, daraus ein Sy­stem zu machen; wir müssen bemüht sein, eine Organisation zu schaffen, die fähig ist, Spitzel dadurch unschädlich zu machen, daß man sie entlarvt und verfolgt. Ausrotten kann man die Spitzel nicht, wohl aber kann und muß man eine Organisation schaffen, welche die Spitzel auskundschaftet und die Arbei­termasse erzieht.

3Erforderlich sind auch Kampfzirkel, die bei Demonstrationen, bei Be­freiungsaktionen aus Gefängnissen usw. Arbeiter verwenden, die beim Militär gedient haben oder besonders kräftig und gewandt sind.