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Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion

Wladimir Iljitsch Lenin

13. (26.) Mai 1909

Seitenzahlen in diesem Text beziehen sich auf die Veröffentlichung in Wladimir Iljitsch Lenin Werke, Band 15.
Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Dietz-Verlag Berlin, 1974. S. 404ff

Vorbemerkung der Redaktion

Nach der von Lenin als Putsch bezeichneten Auflösung der 2. Duma durch das kaiserliche Dekret vom 3. Juni 1907 wurde im Herbst des Jahres die Dritte Duma des russichen Zarenreiches gewählt. Aufgrund des neuen, die Gutsbesitzer und Fabrikherren begünstigenden Wahlrechts wurden nur 19 Sozialdemokraten in das Parlament gewählt. Die Wahlen fanden in separaten Kollegien nach sozialen Kriterien, so erhielten die reicheren Grundbesitzer 60 Prozent der Wahlmänner, die Bauern 22%, Kaufleute 15% und die restlichen 3% gingen an das städtische Proletariat.R1 Die Vertreter der Bauern und der städtischen Arbeiter wurden nicht direkt von diesen, sondern von den jeweiligen Provinzversammlungen gewählt, in denen die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie wiederum die Mehrheit stellten. Von den sechs aus den Arbeiterkollegium gewählten Abgeordneten waren vier Bolschwiki, (N. G. Poletaev. M. V. Zakharov. S. A. Voronin. and P. I. Surkov). Die Abgeordneten I. P. Pokrovskii and A. I. Predkalin schlossen sich ebenfalls den Bolschwiki an.R2

Vorsitzender der Fraktion wurde Surkow. Die Fraktion der Sozialdemokraten hatte kein Initiativrecht; dazu mußten mindestens 30 Abgeordnete einen Antrag unterschreiben.

Der Putsch vom 3. Juni markierte das Ende der russischen Revolution von 1905. Als Teil des gesellschaftlichen Rückzugs nach der Niederlage der Revolution kehrten sich zahlreiche Intellektuelle von revolutionären Ideen ab und griffen wieder zu religiösen Vorstellungen. Lenin begegnete dieser Bewegung mit seinem Buch „Materialismus und Empiriokritizismus“ (Lenin Werke 14).

Im April 1909 wurde in dieser rechtslastigen 3. Duma das Budget des „Heiligen Synod“, d.h. der orthodoxen Staatskirche diskutiert. Während die bürgerliche Mehrheit in der Debatte die Interessen und den Einfluß des Klerus hochhielten, erklärte der sozialdemokratische Abgeordnete Surkow die Position der Arbeiterpartei gegen Religion und für eine Trennung von Staat und Kirche, d.h. daß Religion Privatsache sei und den Staat nichts angehe. Sein offenes Bekenntnis zum Atheismus wurde in der Besprechung des Redeentwurfs in der Fraktion von einigen Abgeordneten als abträglich für die Parteipropaganda kritisiert.R3

Im Mai klärte dann Lenin mit dem hier veröffentlichten Artikel die Meinungsverschiedenheiten. Mehrere Beiträge aus dieser fraktionsinternen Diskussion sind in derselben Nummer des „Proletari“ abgedruckt.

Im nächsten Monat war das Verhältnis von Religion und revolutionärer Partei auch Tagesordnungspunkt auf der Tagung der erweiterten Redaktion der Zeitung „Proletari“ vom 8. bis 17. (21.-30.) Juni 1909 in Paris.R4

Die Redaktion

Die Rede des Abgeordneten Surkow1 in der Reichsduma bei der Be­handlung des Budgets des Synods und die unten veröffentlichten Diskus­sionsreden in unserer Dumafraktion bei der Erörterung des Entwurfs dieser Rede haben eine gerade jetzt höchst wichtige und aktuelle Frage aufgeworfen. Ein Interesse für alles, was mit der Religion Zusammenhänge hat heute zweifellos weite Kreise der „Gesellschaft“ erfaßt und hat sich auch in der der Arbeiterbewegung nahestehenden Intelligenz sowie in gewissen Kreisen der Arbeiter ausgebreitet. Die Sozialdemokratie ist unbedingt verpflichtet, ihr Verhältnis zur Religion klar darzulegen.

Die ganze Weltanschauung der Sozialdemokratie ist auf dem wissen­schaftlichen Sozialismus, d. h. dem Marxismus aufgebaut. Die philoso­phische Grundlage des Marxismus bildet, wie sowohl Marx als auch Engels wiederholt erklärt haben, der dialektische Materialismus, der die historischen Traditionen des Materialismus des 18. Jahrhunderts in Frankreich sowie Feuerbachs (erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) in Deutschland in vollem Umfang aufgegriffen hat — eines Materialismus, der unbedingt atheistisch und jeder Religion entschieden feind ist. Wir erinnern daran, daß der ganze „Anti-Dühring“ von Engels, den Marx im Manuskript gelesen hat, den Materialisten und Atheisten Dühring des inkonsequenten Materialismus überführt, daß er nachweist, wie Dühring der Religion und einer Religionsphilosophie Hintertürchen offenläßt. Wir erinnern daran, daß Engels in seinem Werk über Ludwig Feuerbach die­sem vorwirft, er habe die Religion bekämpft, nicht um sie abzuschaffen, sondern um sie zu erneuern, um eine neue, „höhere“ Religion zu kon­struieren u. dgl. m. Die Religion ist das Opium des Volkes — dieser Aus-<405>spruch von Marx bildet den Eckpfeiler der ganzen Weltanschauung des Marxismus in der Frage der Religion.2 Der Marxismus betrachtet alle heutigen Religionen und Kirchen, alle religiösen Organisationen stets als Organe der bürgerlichen Reaktion, die die Ausbeutung verteidigen und die Arbeiterklasse verdummen und umnebeln sollen.

Zugleich verurteilte Engels jedoch wiederholt die Versuche von Leuten, die „linker“ oder „revolutionärer“ sein wollten als die Sozialdemokratie, in das Programm der Arbeiterpartei ein direktes Bekenntnis zum Atheis­mus im Sinne einer Kriegserklärung an die Religion hineinzubringen. Im Jahre 1874 stellte er, als er über das berühmte Manifest der blanquistischen Kommuneflüchtlinge sprach, die als Emigranten in London lebten, deren lärmende Kriegserklärung an die Religion als Dummheit hin und erklärte, eine solche Kriegsansage sei das beste Mittel, das Interesse für die Religion zu beleben und das wirkliche Absterben der Religion zu er­schweren. Engels warf den Blanquisten vor, sie vermöchten nicht zu be­greifen, daß allein der Klassenkampf der Arbeitermassen, der die brei­testen Schichten des Proletariats allseitig in die bewußte und revolutionäre gesellschaftliche Praxis einbezieht, imstande sei, die unterdrückten Mas­sen vom Joch der Religion wirklich zu befreien, während es eine anar­chistische Phrase sei, den Krieg gegen die Religion zur politischen Aufgabe der Arbeiterpartei zu proklamieren.3 Und im Jahre 1877 brandmarkte Engels im „Anti-Dühring“ schonungslos selbst die geringsten Zugeständ­nisse des Philosophen Dühring an den Idealismus und die Religion, ver­urteilte aber zugleich nicht minder entschieden die angeblich revolutionäre Idee Dührings, in der sozialistischen Gesellschaft die Religion zu verbieten. Der Religion einen solchen Krieg ansagen heißt nach Engels „den Bis­marck überbismarcken“, d. h. die Torheit des Bismarckschen Kampfes gegen die Klerikalen wiederholen (der berüchtigte „Kulturkampf“, d. h. der Kampf, den Bismarck in den siebziger Jahren durch polizeiliche Ver­folgungen des Katholizismus gegen die deutsche Partei der Katholiken, die „Zentrums“partei, führte). Durch diesen Kampf hat Bismarck den streitbaren Klerikalismus der Katholiken nur gestärkt, hat er der Sache der wirklichen Kultur nur Abbruch getan, denn statt der politischen Scheidewände rückte er die religiösen Scheidewände in den Vordergrund und lenkte so die Aufmerksamkeit gewisser Schichten der Arbeiterklasse

<406>und der Demokratie von den dringenden Aufgaben des revolutionären und des Klassenkampfes auf einen ganz oberflächlichen und bürgerlich- verlogenen Antiklerikalismus ab. Engels erhob gegen Dühring, der ultrarevolutionär sein wollte, den Vorwurf, dieselbe Torheit Bismarcks in anderer Form wiederholen zu wollen, und forderte von der Arbeiter­partei, sie müsse es verstehen, geduldig an der Organisierung und Auf­klärung des Proletariats zu arbeiten — das werde zum Absterben der Religion führen, sie dürfe sich aber nicht in das Abenteuer eines poli­tischen Krieges gegen die Religion stürzen.4

Inzwischen ist diese Taktik aber zur Schablone geworden und hat bereits eine neue Verfälschung des Marxismus in der entgegengesetzten Richtung, in Richtung des Opportunismus, erzeugt. Man begann den Satz des Erfurter Programms so auszulegen, als ob wir Sozialdemokraten, als ob unsere Partei die Religion als Privatsache betrachten, als ob für uns als Sozialdemokraten, für uns als Partei die Religion Privatsache sei. Ohne sich in eine direkte Polemik gegen diese opportunistische Auffas­sung einzulassen, hat Engels es in den neunziger Jahren für notwendig befunden, entschieden gegen sie Stellung zu nehmen, nicht in polemischer, sondern in positiver Form. Und zwar hat er es in Form einer von ihm bewußt hervorgehobenen Erklärung getan, die Sozialdemokratie betrachte die Religion dem Staat gegenüber als Privatsache5, keineswegs aber sich selbst, keineswegs dem Marxismus, keineswegs der Arbeiterpartei gegen­über.

Das ist die äußere Geschichte der Stellungnahmen von Marx und Engels zur Frage der Religion. Leuten, die sich dem Marxismus gegenüber oberflächlich verhalten, Leuten, die nicht denken können oder wollen, erscheint diese Geschichte als ein Knäuel sinnloser Widersprüche und Schwankungen des Marxismus: sozusagen als ein Mischmasch aus „kon­sequentem“ Atheismus und „Nachsicht“ gegenüber der Religion, als ir­gendein „prinzipienloses“ Schwanken zwischen dem r-r-revolutionären <407>Krieg gegen Gott und dem feigen Bestreben, den gläubigen Arbeitern „nach dem Munde zu reden“, der Furcht, sie abzuschrecken usw. usf. In der Literatur der anarchistischen Phrasendrescher kann man gar manche Ausfälle dieser Art gegen den Marxismus finden.

Wer jedoch auch nur halbwegs fähig ist, den Marxismus ernsthaft zu ergründen, sich in seine philosophischen Grundlagen und in die Erfah­rungen der internationalen Sozialdemokratie hineinzudenken, der wird leicht erkennen, daß die Taktik des Marxismus gegenüber der Religion ganz konsequent und von Marx und Engels gründlich durchdacht ist, daß das, was Dilettanten oder Ignoranten für Schwankungen halten, eine di­rekte und unumgängliche Schlußfolgerung aus dem dialektischen Mate­rialismus ist. Es wäre grundfalsch zu glauben, daß sich die vermeintliche „Mäßigung“ des Marxismus gegenüber der Religion aus sogenannten „taktischen“ Erwägungen — im Sinne des Bestrebens, „nicht abzuschrecken“ usw. — erkläre. Im Gegenteil, die politische Linie des Marxismus steht auch in dieser Frage in untrennbarem Zusammenhang mit seinen philosophischen Grundlagen.

Marxismus ist Materialismus. Als solcher steht er der Religion ebenso schonungslos feindlich gegenüber wie der Materialismus der Enzyklopä­disten des 18. Jahrhunderts oder der Materialismus Feuerbachs. Das steht außer Zweifel. Aber der dialektische Materialismus von Marx und Engels geht weiter als jener der Enzyklopädisten und Feuerbachs, denn er wendet die materialistische Philosophie auf das Gebiet der Geschichte, auf das Gebiet der Gesellschaftswissenschaften an. Wir müssen die Religion be­kämpfen. Das ist das Abc des gesamten Materialismus und folglich auch des Marxismus. Aber der Marxismus ist kein Materialismus, der beim Abc stehengeblieben ist. Der Marxismus geht weiter. Er sagt: Man muß verstehen, die Religion zu bekämpfen, dazu aber ist es notwendig, den Ursprung, den Glauben und Religion unter den Massen haben, materia­listisch zu erklären. Den Kampf gegen die Religion darf man nicht auf abstrakt-ideologische Propaganda beschränken, darf ihn nicht auf eine solche Propaganda reduzieren, sondern er muß in Zusammenhang ge­bracht werden mit der konkreten Praxis der Massenbewegung, die auf die Beseitigung der sozialen Wurzeln der Religion abzielt. Warum findet die Religion in den rückständigen Schichten des städtischen Proletariats, in breiten Schichten des Halbproletariats und auch in der Hauptmasse <408>der Bauernschaft noch Boden? Wegen der Unwissenheit des Volkes, ant­wortet der bürgerliche Fortschrittler, der Radikale oder der bürgerliche Materialist. Also, nieder mit der Religion, es lebe der Atheismus, die Verbreitung atheistischer Anschauungen ist unsere Hauptaufgabe. Der Marxist sagt: Das ist falsch. Eine solche Auffassung ist oberflächliche, bürgerlich beschränkte Kulturbringerei. Eine solche Auffassung erklärt die Wurzeln der Religion nicht gründlich genug, nicht materialistisch, son­dern idealistisch. In den modernen kapitalistischen Staaten sind diese Wurzeln hauptsächlich sozialer Natur. Die soziale Unterdrückung der werktätigen Massen, ihre scheinbar völlige Ohnmacht gegenüber den blind waltenden Kräften des Kapitalismus, der den einfachen arbeitenden Menschen täglich und stündlich tausendmal mehr entsetzlichste Leiden und unmenschlichste Qualen bereitet als irgendwelche außergewöhnlichen Ereignisse wie Kriege, Erdbeben usw. — darin liegt heute die tiefste Wurzel der Religion. „Die Furcht hat die Götter erzeugt.“ Die Furcht vor der blind wirkenden Macht des Kapitals, blind, weil ihr Wirken von den Volksmassen nicht vorausgesehen werden kann und dem Proletarier und dem Kleineigentümer bei jedem Schritt ihres Lebens den „plötz­lichen“, „unerwarteten“, „zufälligen“ Ruin, den Untergang, die Ver­wandlung in einen Bettler, einen Pauper, eine Prostituierte, den Hungertod zu bringen droht und auch tatsächlich bringt — das ist jene Wurzel der heutigen Religion, die der Materialist vor allem und am meisten beachten muß, wenn er nicht ein Abc-Schütze des Materialismus bleiben will. Keine Aufklärungsschrift wird die Religion aus den Massen austreiben, die, niedergedrückt durch die kapitalistische Zwangsarbeit, von den blind waltenden, zerstörerischen Kräften des Kapitalismus abhängig bleiben, solange diese Massen nicht selbst gelernt haben werden, diese Wurzel der Religion, die Herrschaft des Kapitals in all ihren Formen vereint, organisiert, planmäßig, bewußt zu bekämpfen.

Folgt daraus etwa, daß eine Aufklärungsschrift gegen die Religion schädlich oder überflüssig wäre? Keineswegs. Daraus ergibt sich etwas ganz anderes. Daraus folgt, daß die atheistische Propaganda der Sozial­demokratie ihrer Hauptaufgabe untergeordnet sein muß: der Entfaltung des Klassenkampfes der ausgebeuteten Massen gegen die Ausbeuter.

Jemand, der sich nicht in die Grundlagen des dialektischen Materialis­mus. d. h. der Philosophie von Marx und Engels, vertieft hat, wird diese <409>These möglicherweise nicht begreifen (oder zumindest nicht sofort be­greifen). Wie soll das möglich sein? Die ideologische Propaganda, die Propagierung bestimmter Ideen, der Kampf gegen den Feind der Kultur und des Fortschritts, der sich seit Jahrtausenden am Leben hält (d. h. gegen die Religion), soll dem Klassenkampf, d. h. dem Kampf für be­stimmte praktische Ziele auf ökonomischem und politischem Gebiet, untergeordnet werden?

Ein solcher Einwand gehört zu den landläufigen Einwänden gegen den Marxismus, die nur davon zeugen, daß man die Marxsche Dialektik ganz und gar nicht verstanden hat. Der Widerspruch, der alle jene verwirrt, die solche Einwände erheben, ist ein lebendiger Widerspruch des leben­digen Lebens, d. h. ein dialektischer Widerspruch und kein Widerspruch in Worten, kein ausgedachter Widerspruch. Die theoretische Propaganda des Atheismus, d. h. die Zerstörung des religiösen Glaubens bei gewissen Schichten des Proletariats, durch eine absolute, unüberschreitbare Grenze von dem Erfolg, dem Verlauf, den Bedingungen des Klassenkampfes dieser Schichten trennen heißt undialektisch denken, heißt das zu einer absoluten Grenze machen, was eine bewegliche, relative Grenze ist, heißt etwas gewaltsam auseinanderreißen, was in der lebendigen Wirklichkeit un­trennbar miteinander verbunden ist. Nehmen wir ein Beispiel. Gesetzt, das Proletariat eines bestimmten Gebiets und eines bestimmten Indu­striezweigs zerfalle in eine fortgeschrittene Schicht ziemlich bewußter Sozialdemokraten, die selbstverständlich Atheisten sind, und in ziemlich rückständige, noch mit dem Dorf und der Bauernschaft verbundene Arbeiter, die an Gott glauben, in die Kirche gehen oder sogar unter dem direkten Einfluß des Ortsgeistlichen stehen, der, sagen wir, einen christ­lichen Arbeiterverein gründet. Gesetzt ferner, der ökonomische Kampf habe in einem solchen Ort zu einem Streik geführt. Der Marxist ist ver­pflichtet, den Erfolg der Streikbewegung in den Vordergrund zu stellen, einer Aufspaltung der Arbeiter in diesem Kampf in Atheisten und Chri­sten entschieden entgegenzuwirken und gegen eine solche Aufspaltung entschieden zu kämpfen. Atheistische Propaganda kann unter diesen Um­ständen ganz überflüssig, ja schädlich sein — nicht vom Standpunkt spießerlicher Erwägungen über die Abschreckung der rückständigen Schichten, über einen Mandatsverlust bei den Wahlen usw., sondern vom Standpunkt des wirklichen Fortschritts des Klassenkampfes, der unter den Verhält-<410>nissen der modernen kapitalistischen Gesellschaft die christlichen Arbeiter hundertmal besser zur Sozialdemokratie und zum Atheismus führen wird als die bloße atheistische Propaganda. Ein Propagandist des Atheismus würde in einem solchen Augenblick und unter solchen Umständen nur dem Pfaffen und dem Pfaffentum Vorschub leisten, die nichts sehnlicher wünschen als eine Aufspaltung der Arbeiter nach dem Glauben an Gott anstatt ihrer Scheidung nach der Streikbeteiligung. Ein Anarchist, der den Krieg gegen Gott um jeden Preis predigt, würde dadurch in Wirklichkeit den Pfaffen und der Bourgeoisie helfen (wie ja die Anarchisten in Wirk­lichkeit stets der Bourgeoisie helfen). Ein Marxist muß Materialist sein, d. h. ein Feind der Religion, doch ein dialektischer Materialist, d. h. ein Materialist, der den Kampf gegen die Religion nicht abstrakt, nicht auf dem Boden einer abstrakten, rein theoretischen, sich stets gleichbleibenden Pro­paganda führt, sondern konkret, auf dem Boden des Klassenkampfes, wie er sich in Wirklichkeit abspielt, der die Massen am meisten und am besten erzieht. Ein Marxist muß es verstehen, die ganze konkrete Situation zu berücksichtigen, stets die Grenze zwischen Anarchismus und Opportu­nismus zu finden (diese Grenze ist relativ, beweglich, veränderlich, aber sie existiert), er darf weder in das abstrakte, phrasenhafte, in Wirklichkeit hohle „Revoluzzertum“ des Anarchisten verfallen noch in das Spießertum und den Opportunismus des Kleinbürgers oder des liberalen Intellektu­ellen, der sich nicht traut, gegen die Religion zu kämpfen, der diese seine Aufgabe vergißt, sich mit dem Glauben an Gott abfindet, sich nicht von den Interessen des Klassenkampfes leiten läßt, sondern von der klein­lichen, kläglichen Berechnung: niemand kränken, niemand abstoßen, nie­mand abschrecken —von der neunmalweisen Regel „Leben und leben lassen“ usw. usf.

Von diesem Standpunkt aus müssen alle Einzelfragen gelöst werden, die das Verhältnis der Sozialdemokratie zur Religion betreffen. Oft wird zum Beispiel die Frage aufgeworfen, ob ein Geistlicher Mitglied der sozialdemokratischen Partei sein kann, und diese Frage wird gewöhnlich ohne jeden Vorbehalt bejahend beantwortet, wobei man sich auf die Erfahrungen der europäischen sozialdemokratischen Parteien beruft. Doch diese Erfahrungen sind nicht nur durch die Anwendung der Doktrin des Marxismus auf die Arbeiterbewegung zustande gekommen, sondern auch durch die besonderen historischen Verhältnisse des Westens, die in Ruß-<411>land nicht gegeben sind (wir werden auf diese Verhältnisse noch zu spre­chen kommen), so daß eine bedingungslos bejahende Antwort hier falsch wäre. Man kann nicht ein für allemal und für alle Verhältnisse erklären, daß Geistliche nicht Mitglieder der sozialdemokratischen Partei sein können, aber man kann auch nicht ein für allemal die entgegengesetzte Regel aufstellen. Kommt ein Geistlicher zu uns zwecks gemeinsamer poli­tischer Arbeit und leistet er gewissenhaft Parteiarbeit, ohne gegen das Parteiprogramm aufzutreten, so können wir ihn in die Reihen der Sozial­demokratie aufnehmen, denn der Widerspruch zwischen dem Geist und den Grundlagen unseres Programms einerseits und der religiösen Über­zeugung des Geistlichen anderseits könnte unter solchen Umständen ein nur ihn allein betreffender, persönlicher Widerspruch bleiben, und eine politische Organisation kann ihre Mitglieder nicht daraufhin examinieren, ob zwischen ihren Anschauungen und dem Parteiprogramm nicht ein Widerspruch besteht. Aber selbstverständlich dürfte ein solcher Fall sogar in Europa eine seltene Ausnahme sein, während er in Rußland schon ganz unwahrscheinlich ist. Und träte z. B. ein Geistlicher in die sozialdemo­kratische Partei ein und begänne in dieser Partei als seine wichtigste und fast ausschließliche Arbeit eine aktive Propaganda religiöser Anschau­ungen zu betreiben, so müßte die Partei ihn unbedingt aus ihrer Mitte entfernen. Wir müssen es nicht nur allen Arbeitern, die den Glauben an Gott noch bewahrt haben, gestatten, der sozialdemokratischen Partei bei­zutreten, sondern müssen sie zielstrebig für sie gewinnen; wir sind unbe­dingt gegen die geringste Verletzung ihrer religiösen Überzeugungen, doch wir suchen sie zu gewinnen, um sie im Geiste unseres Programms zu erziehen, nicht aber, damit sie dieses Programm bekämpfen. Wir lassen innerhalb der Partei Meinungsfreiheit gelten, jedoch in gewissen, durch die Freiheit der Gruppierung bestimmten Grenzen: Wir sind nicht ver­pflichtet, mit solchen Leuten zusammenzugehen, die von der Mehrheit der Partei abgelehnte Anschauungen aktiv propagieren.

Ein anderes Beispiel: Kann man unter allen Umständen Mitglieder der sozialdemokratischen Partei in gleicher Weise verurteilen, wenn sie er­klären: „Der Sozialismus ist meine Religion“, und wenn sie Auffassungen propagieren, die einer solchen Erklärung entsprechen? Nein. Eine Ab­weichung vom Marxismus (und folglich auch vom Sozialismus) liegt hier zweifellos vor, aber die Bedeutung dieser Abweichung, sozusagen ihr <412>spezifisches Gewicht kann in verschiedenen Situationen verschieden sein. Eine Sache ist es, wenn ein Agitator oder jemand, der vor Arbeitermassen auftritt, so spricht, um verständlicher zu sein, um seine Darlegung zu beginnen, um seine Ansichten faßbarer darzustellen in Ausdrücken, die der unaufgeklärten Masse am geläufigsten sind. Eine andere Sache ist es, wenn ein Schriftsteller beginnt, „Gottbildnertum“ oder einen gottbild­nerischen Sozialismus zu predigen (im Sinne etwa unserer Lunatscharski und Co.). Während im ersten Falle eine Verurteilung nur Nörgelei oder sogar eine unangebrachte Beschränkung der Freiheit des Agitators, der Freiheit des „pädagogischen“ Einwirkens sein könnte, ist im zweiten Falle eine Verurteilung durch die Partei notwendig und unbedingt geboten. Die These „Der Sozialismus ist eine Religion“ ist für die einen eine Form des Übergangs von der Religion zum Sozialismus, für die anderen — vom Sozialismus zur Religion.

Behandeln wir nun die Bedingungen, die im Westen eine opportuni­stische Auslegung der These von der „Erklärung der Religion zur Privatsache“ aufkommen ließen. Natürlich haben wir es dort mit dem Einfluß allgemeiner Ursachen zu tun, die den Opportunismus überhaupt als Opferung der fundamentalen Interessen der Arbeiterbewegung zugunsten augenblicklicher Vorteile entstehen lassen. Die Partei des Proletariats fordert vom Staat, die Religion zur Privatsache zu erklären, wobei sie den Kampf gegen das Opium des Volkes, den Kampf gegen den religiösen Aberglauben usw., keineswegs als „Privatsache“ betrachtet. Die Oppor­tunisten verdrehen die Sache so, als halte die sozialdemokratische Partei die Religion für eine Privatsache!

Aber neben der üblichen opportunistischen Verfälschung (die in der Diskussion unserer Dumafraktion über die Rede zur Frage der Religion ganz ungeklärt blieb) gibt es noch besondere historische Bedingungen, die die gegenwärtige, wenn man sich so ausdrücken darf, außerordentliche Gleichgültigkeit der europäischen Sozialdemokraten gegenüber der Frage der Religion hervorgerufen haben. Diese Bedingungen sind von zweierlei Art. Erstens stellt die Aufgabe, die Religion zu bekämpfen, historisch eine Aufgabe der revolutionären Bourgeoisie dar, und im Westen hat die bürgerliche Demokratie in der Epoche ihrer Revolutionen oder ihres An­sturms gegen den Feudalismus und das Mittelalter diese Aufgabe in hohem Maße erfüllt (oder suchte es jedenfalls zu tun). Sowohl in Frankreich <413>als auch in Deutschland gibt es eine Tradition des bürgerlichen Kampfes gegen die Religion, der lange vor der Entstehung der sozialistischen Be­wegung aufgenommen wurde (die Enzyklopädisten, Feuerbach). ln Ruß­land fällt, entsprechend den Bedingungen unserer bürgerlich-demokrati­schen Revolution, auch diese Aufgabe fast völlig der Arbeiterklasse zu. Die kleinbürgerliche (volkstümlerische) Demokratie hat bei uns in dieser Hinsicht nicht (wie die neugebackenen Schwarzhunderterkadetten oder kadettischen Schwarzhunderter von den „Wechi“6 glauben) zuviel, son­dern im Vergleich zu Europa zuwenig getan.

Anderseits hat aber die Tradition des bürgerlichen Kampfes gegen die Religion in Europa auch eine spezifisch bürgerliche Verzerrung dieses Kampfes durch den Anarchismus hervorgebracht, der, wie die Marxisten schon längst und wiederholt klargestellt haben, bei aller „Heftigkeit“ seiner Angriffe gegen die Bourgeoisie doch auf dem Boden der bürger­lichen Weltanschauung steht. Die Anarchisten und Blanquisten in den romanischen Ländern, Most (der übrigens ein Schüler Dührings war) und Co. in Deutschland und die Anarchisten der achtziger Jahre in Österreich haben die revolutionäre Phrase im Kampf gegen die Religion bis zum nec plus ultra getrieben. Kein Wunder, daß die europäischen Sozial­demokraten jetzt auf die Überspitzungen der Anarchisten mit Überspitzungen nach der anderen Seite reagieren. Das ist begreiflich und in ge­wissem Maße gesetzmäßig, aber es ist nicht angängig, daß wir russischen Sozialdemokraten die besonderen historischen Bedingungen des Westens vergessen.

Zweitens war im Westen nach Abschluß der nationalen bürgerlichen Revolutionen, nach Herstellung einer mehr oder weniger vollständigen Glaubensfreiheit die Frage des demokratischen Kampfes gegen die Reli­gion durch den Kampf der bürgerlichen Demokratie gegen den Sozialis­mus historisch schon so sehr in den Hintergrund gedrängt, daß die bürger­lichen Regierungen bewußt versuchten, durch einen quasiliberalen „Feldzug“ gegen den Klerikalismus die Aufmerksamkeit der Massen vom Sozialismus abzulenken. Einen solchen Charakter trug sowohl der Kulturkampf in Deutschland als auch der Kampf der bürgerlichen Republi­kaner Frankreichs gegen den Klerikalismus. Der bürgerliche Antiklerika-<414>lismus als Mittel, die Aufmerksamkeit der Arbeitermassen vom Sozialismus abzulenken, ging im Westen der Verbreitung der gegenwär­tigen „Gleichgültigkeit“ gegenüber dem Kampf gegen die Religion, wie sie heute unter den Sozialdemokraten zu finden ist, voraus. Und das ist wiederum verständlich und gesetzmäßig, denn dem bürgerlichen und dem Bismarckschen Antiklerikalismus mußten die Sozialdemokraten eben die Unterordnung des Kampfes gegen die Religion unter den Kampf für den Sozialismus entgegensetzen.

In Rußland liegen die Verhältnisse ganz anders. Das Proletariat ist der Führer unserer bürgerlich-demokratischen Revolution. Seine Partei muß der ideologische Führer im Kampf gegen alles Mittelalterliche sein, dar­unter auch gegen die alte Staatsreligion und gegen alle Versuche, sie aufzufrischen, sie neu oder in anderer Weise zu begründen usw. Engels hat den Opportunismus der deutschen Sozialdemokraten, die die Forde­rung der Arbeiterpartei, der Staat solle die Religion zur Privatsache erklären, durch die Erklärung der Religion zur Privatsache für die Sozial­demokraten selbst und für die sozialdemokratische Partei ersetzten, ver­hältnismäßig sanft korrigiert, aber es ist begreiflich, daß die Übernahme dieser deutschen Entstellung durch die russischen Opportunisten eine hundertfach schärfere Verurteilung durch Engels erfahren würde.

Als unsere Fraktion von der Dumatribüne herab erklärte, die Religion sei das Opium des Volkes, handelte sie völlig richtig und schuf damit einen Präzedenzfall, der für alle Äußerungen russischer Sozialdemokraten zur Frage der Religion die Grundlage abgeben muß. Hätte man noch weiter gehen und noch ausführlicher atheistische Schlußfolgerungen ableiten sollen? Wir glauben, nein. Das hätte die Gefahr einer Überbetonung des Kampfes der politischen Partei des Proletariats gegen die Religion mit sich bringen, hätte zu einer Verwischung der Grenze zwischen dem bür­gerlichen und dem sozialistischen Kampf gegen die Religion führen kön­nen. Die erste Aufgabe, die die sozialdemokratische Fraktion in der Schwarzhunderterduma zu erfüllen hatte, hat sie in Ehren erfüllt.

Die zweite und für die Sozialdemokratie wohl die wichtigste — nämlich herauszuarbeiten, welche Klassenfunktion die Kirche und die Geistlich­keit bei der Unterstützung der Schwarzhunderterregierung und der Bour­geoisie in deren Kampf gegen die Arbeiterklasse ausüben — ist gleicher­maßen in Ehren erfüllt worden. Natürlich läßt sich über dieses Thema <415noch sehr viel sagen, und in weiteren Reden werden die Sozialdemokraten schon wissen, wodurch sie die Rede des Gen. Surkow zu ergänzen haben, aber dennoch war seine Rede ausgezeichnet, und ihre Verbreitung durch alle Parteiorganisationen ist direkte Pflicht unserer Partei.

Zum dritten hätte man ganz ausführlich den richtigen Sinn der von den deutschen Opportunisten so oft entstellten These „Erklärung der Religion zur Privatsache“ erläutern sollen. Das hat Gen. Surkow leider nicht getan. Das ist um so mehr zu bedauern, als die Fraktion bereits in ihrer früheren Tätigkeit hinsichtlich dieser Frage den seinerzeit vom „Proletari“ angeprangerten Fehler des Gen. Beloussow begangen hat. Die Diskussion in der Fraktion zeigt, daß die Frage nach der richtigen Dar­legung der sattsam bekannten Forderung, die Religion zur Privatsache zu erklären, hier durch die Auseinandersetzung über den Atheismus über­schattet worden ist. Wir werden die Schuld an diesem Fehler der gesamten Fraktion nicht Gen. Surkow allein geben. Mehr noch. Wir bekennen offen, daß hier eine Schuld der ganzen Partei vorliegt, die diese Frage nicht genügend erläutert und die Bedeutung der an die deutschen Opportunisten gerichteten Bemerkung Engels’ den Sozialdemokraten nicht genügend zum Bewußtsein gebracht hat. Wie die Diskussion innerhalb der Fraktion beweist, handelt es sich hier darum, daß die Frage nicht klar verstanden wurde, keineswegs aber darum, daß man die Lehre von Marx nicht hätte berücksichtigen wollen, und wir sind überzeugt, daß der Fehler in den folgenden Reden der Fraktion korrigiert werden wird.

Im großen und ganzen, wir wiederholen es, ist die Rede des Gen. Surkow ausgezeichnet und muß von allen Organisationen verbreitet werden. Mit der Erörterung dieser Rede hat die Fraktion bewiesen, daß sie ihre sozialdemokratische Pflicht durchaus gewissenhaft erfüllt. Es bleibt zu wünschen, daß in der Parteipresse häufiger Korrespondenzen über die Diskussionen innerhalb der Fraktion erscheinen, damit die Fraktion der Partei nähergebracht, damit die Partei mit der von der Fraktion geleisteten schwierigen innerfraktionellen Arbeit vertraut gemacht und die ideolo­gische Einheit in der Tätigkeit der Partei und der Fraktion hergestellt wird.

Nach dem Text des “Proletari“

„Proletari“ Nr. 45, 13. (26.) Mai 1909.

Fußnoten

R1  en.Wikipedia.org: "Coup of June 1907"

R2  "State Duma" aus der Großen Sowjetenzyklopädie on 1979, wiedergegeben auf englisch in "thefreedictionary.com"

R3  Gopal Paranjape: Introduction to „Essay on religion by Lenin”, Socialist Literature Publishing Company, Agra (Uttar Pradesh), India

R4  Lenin Werke, Band 15, Seite 427-454 und Lenin Werke, Ergänzungsband 1, Seiten 216-223

1  Pjotr Iljitsch Surkow (1876-1946).

2  siehe Karl Marx: "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung" Geschrieben Ende 1843 - Januar 1844, veröffentlicht in »Deutsch-Französische Jahrbücher«, Paris 1844.

2  Friedrich Engels: "Flüchtlingsliteratur. II: Programm der blanquistischen Kommuneflüchtlinge" in: "Der Volksstaat" Nr. 73 vom 26. Juni 1874

4  Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft ("Anti-Dühring"), Dritter Abschnitt: Sozialismus, V. Staat, Familie, Erziehung

5  Friedrich Engels: Einleitung zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich (Ausgabe 1891)“

6  „Wechi“ (Marksteine) war der Titel eines Sammelbandes von Schriften der Partei der „Kadetten“ (von der Abkürzung KD der Konstitutionell-Demokratischen Partei) mit Beiträgen von Berdajew, Bulgakow, Gerschenson, Kistjakowski, Struve, Frank und Isgojew. In seinem Artikel „Über die "Wechi"“ vom Dezember 1909 im Nowy Den bezeichnet Lenin die „Wechi“ als "die bedeutendsten Marksteine auf dem Weg zum vollständigen Bruch des russischen Kadettentums und des russischen Liberalismus überhaupt mit der russischen Befreiungsbewegung, mit ihren Hauptaufgaben, mit allen ihren wesentlichen Traditionen", als „Enzyklopädie des liberalen Renegatentums“ (Lenin Werke, Band 16, S. 117ff). Die Autoren rufen dazu auf, so zitiert Lenin, „diese Macht segnen, die uns allein noch mit ihren Bajonetten und Gefängnissen vor der Volkswut schützt.“ (S. 125)