Gesetzentwurf über die nationale Gleichberechtigung

Wladimir Iljitsch Lenin

26. März 1914

Seitenzahlen in diesem Text beziehen sich auf die Veröffentlichung in Wladimir Iljitsch LeninWerke, Band 20.
Hrsg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Dietz-Verlag Berlin, 1984. S. 166-168

166>Genossen!

Die Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Rußlands hat beschlossen, in der IV. Reichsduma den unten beigefügten Gesetzentwurf über die Aufhebung der Beschränkungen der Rechte der Juden und der anderen „Fremdstämmigen" einzubringen.

Der Gesetzentwurf bezweckt die Aufhebung aller nationalen Beschränkungen für alle Nationen: Juden, Polen usw. Besonders ausführlich beschäftigt er sich indessen mit den gegen die Juden gerichteten Beschränkungen. Der Grund ist verständlich: Keine einzige Nationalität wird in Rußland so unterdrückt und verfolgt wie die jüdische. Der Antisemitismus schlägt unter den besitzenden Schichten immer tiefere Wurzeln. Die jüdischen Arbeiter stöhnen unter einem zweifachen Joch: als Arbeiter wie auch als Juden. Die Verfolgung der Juden hat in den letzten Jahren ganz unglaubliche Ausmaße erreicht. Es genügt, an die Judenpogrome und an die Beilis-Affäre zu erinnern.

Unter diesen Verhältnissen müssen die organisierten Marxisten der Judenfrage gebührende Aufmerksamkeit schenken.

Es versteht sich von selbst, daß die Judenfrage nur gemeinsam mit den in Rußland auf der Tagesordnung stehenden Hauptfragen ernsthaft gelöst werden kann. Es leuchtet von selbst ein, daß wir von der nationalistischen IV. Duma der Purischkewitsch nicht erwarten, sie werde die gegen die Juden und die anderen „Fremdstämmigen" gerichteten Beschränkungen aufheben. Aber die Arbeiterklasse ist verpflichtet, ihre Stimme zu erheben. Und besonders laut muß die Stimme des russischen Arbeiters gegen die nationale Unterdrückung ertönen.

<167>Wir veröffentlichen unseren Gesetzentwurf und hoffen, daß die jüdischen, die polnischen und die Arbeiter der anderen unterdrückten Nationalitäten ihre Meinung dazu äußern und ihre Abänderungsvorschläge einbringen, falls sie solche für notwendig erachten.

Und wir hoffen gleichzeitig, daß die russischen Arbeiter unseren Gesetzentwurf durch Erklärungen u. dgl. m. besonders energisch unterstützen.

Dem Gesetzentwurf werden wir, gemäß Artikel 4, ein besonderes Verzeichnis der aufzuhebenden Vorschriften und Bestimmungen beifügen. Diese Beilage wird ungefähr 100 derartige Bestimmungen umfassen, die allein die Juden betreffen.

Gesetzentwurf über Die Aufhebung sämtlicher Beschränkungen der Rechte der Juden und überhaupt aller Beschränkungen, die mit der Abstammung oder mit der Zugehörigkeit zu irgendeiner Nationalität verbunden sind

1. Die Bürger aller Rußland bewohnenden Nationalitäten sind vor dem Gesetz gleich.

2. Kein Bürger Rußlands, gleich welchen Geschlechts und Glaubensbekenntnisses, kann in seinen politischen und überhaupt in irgendwelchen Rechten auf Grund seiner Abstammung oder seiner Zugehörigkeit zu einer Nationalität, welche immer es sei, beschränkt werden.

3. Alle und jegliche Gesetze, zeitweilige Verordnungen, Erläuterungen zu Gesetzen u. dgl. m., die die Rechte der Juden auf irgendeinem Gebiet des sozialen und staatlichen Lebens beschränken, werden aufgehoben. Artikel 767, Bd. IX, der lautet, daß „die Juden den allgemeinen Gesetzen in allen jenen Fällen unterliegen, in denen keine besonderen Bestimmungen für sie festgesetzt sind", wird aufgehoben. Aufgehoben werden alle und jegliche Beschränkungen für die Juden hinsichtlich des Rechts des Aufenthalts und der Freizügigkeit, des Rechts auf Bildung, der Rechte auf Anstellung im staatlichen und öffentlichen 'Dienst, der Wahlrechte, der Militärpflicht, des Rechts der Erwerbung und Pachtung von Immobilien in <168der Stadt, auf dem Lande usw.; aufgehoben werden sämtliche Einschränkungen der Rechte der Juden auf Ausübung freier Berufe usw. usf.

4. Dem vorliegenden Gesetz ist ein Verzeichnis der aufzuhebenden gesetzlichen Bestimmungen, Verfügungen, zeitweiligen Verordnungen usw. beigefügt, die auf die Beschränkung der Rechte der Juden gerichtet sind.

„Put Prawdy" Nr. 48, 28. März 1914.
Nach dem Text des „PutPrawdy"