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Über die Losung der Vereinigten Staaten von Europa

Wladimir Iljitsch Lenin

Gedruckt nachzulesen in: Lenin Werke, Band 21, Seite 342-346; Dietz Verlag Berlin, 1972

In Nr. 40 des "Sozial-Demokrat" teilten wir mit, dass die Konferenz der Auslandssektionen unserer Partei beschlossen hat, die Frage der Losung "Vereinigte Staaten von Europa" bis zur Erörterung ihrer ökonomischen Seite in der Presse zu vertagen.1

Die Diskussion über diese Frage hatte auf unserer Konferenz einseitig politischen Charakter angenommen. Das war zum Teil vielleicht dadurch hervorgerufen, dass diese Losung im Manifest des Zentralkomitees direkt als politische Losung formuliert ist ("die nächste politische Losung ..." - heißt es dort), wobei nicht nur von republikanischen Vereinigten Staaten von Europa gesprochen, sondern noch speziell betont wird, dass diese Losung sinnlos und verlogen ist, "wenn die deutsche, die österreichische und die russische Monarchie nicht auf revolutionärem Wege beseitigt werden."

Gegen eine solche Fragestellung im Rahmen der politischen Beurteilung dieser Losung zu polemisieren - z.B. von dem Standpunkt aus, dass sie die Losung der sozialistischen Revolution verdunkle oder abschwäche u. dgl. mehr, wäre vollkommen falsch. Politische Umgestaltungen in wahrhaft demokratischer Richtung, erst recht aber politische Revolutionen können keinesfalls und niemals, unter keinen Umständen die Losung der sozialistischen Revolution verdunkeln oder abschwächen. Im Gegenteil, sie bringen sie stets näher, verbreitern ihre Basis, ziehen neue Schichten des Kleinbürgertums und der halbproletarischen Massen in den sozialistischen Kampf hinein. Andererseits aber sind politische Revolutionen unvermeidlich im Verlauf der sozialistischen Revolution, die man nicht als <343>einzelnen Akt betrachten darf, sondern als eine Epoche stürmischer politischer und ökonomischer Erschütterungen, des schärfsten Klassenkampfes, des Bürgerkriegs, der Revolutionen und Konterrevolutionen betrachten muß.

Ist jedoch die Losung der republikanischen Vereinigten Staaten von Europa im Zusammenhang mit dem revolutionären Sturz der drei reaktionärsten Monarchien Europas, an ihrer Spitze der russischen, völlig unanfechtbar als politische Losung, so bleibt doch noch die sehr wichtige Frage nach dem ökonomischen Inhalt und Sinn dieser Losung. Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus, d.h. des Kapitalexports und der Aufteilung der Welt durch die "fortgeschrittenen" und "zivilisierten" Kolonialmächte, sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär. Das Kapital ist international und monopolistisch geworden. Die Welt ist aufgeteilt unter ein Häuflein von großmächten, d.h. von Staaten, die in der großangelegten Ausplünderung und Unterdrückung der Nationen die grössten Erfolge zu verzeichnen haben. Die vier großmächte Europas: England, Frankreich, Rußland und Deutschland, mit einer Bevölkerung von 250-300 Millionen und einem Territorium von etwa 7 Millionen Quadratkilometern, verfügen über Kolonien mit einer Bevölkerung von fast einer halben Milliarde (494,5 Millionen) und einem Territorium von 64,6 Millionen Quadratkilometern, d.h. fast über den halben Erdball (133 Millionen Quadratkilometer ohne Polargebiet). Man nehme noch die drei asiatischen Staaten China, die Türkei und Persien hinzu, die jetzt von den einen "Befreiungs-"krieg führenden Räubern, nämlich von Japan, Rußland, England und Frankreich, in Stücke gerissen werden. Diese drei asiatischen Staaten, die man als Halbkolonien bezeichnen kann (in Wirklichkeit sind sie jetzt zu neun Zehnteln Kolonien), haben eine Bevölkerung von 360 Millionen und eine Gesamtfläche von 14,5 Millionen Quadratkilometern (d.h. fast eineinhalbmal soviel wie die Gesamtfläche von ganz Europa).

Ferner haben England, Frankreich und Deutschland im Ausland mindestens 70 Milliarden Rubel Kapital untergebracht. Um die "legitimen" Einkünfte aus dieser hübschen runden Summe - Einkünfte von über drei Milliarden Rubel jährlich - einzutreiben, sind die nationalen Millionärs-<344> ausschüsse da, Regierungen genannt, die über Heere und Kriegsflotten verfügen und in den Kolonien und Halbkolonien die ganze Sippschaft des "Herrschers Kapital" in der Eigenschaft von Vizekönigen, Konsuln, Botschaftern, Beamten aller Art, Pfaffen und sonstigen Blutegeln "unterbringen".

So ist in der Epoche der höchsten Entwicklung des Kapitalismus die Ausraubung von rund einer Milliarde Erdbewohnern durch ein Häuflein von großmächten organisiert. Und unter dem Kapitalismus ist jede andere Organisation unmöglich. Auf Kolonien, auf "Einflußsphären", auf Kapitalexport verzichten? Daran zu denken hiesse auf das Niveau des Pfäffleins herabsteigen, das jeden Sonntag den Reichen die Erhabenheit des Christentums predigt und ihnen rät, den Armen zu geben ...nun, wenn nicht ein paar Milliarden, so wenigstens ein paar hundert Rubel im Jahr.

Vereinigte Staaten von Europa sind unter kapitalistischen Verhältnissen gleichbedeutend mit Übereinkommen über die Teilung der Kolonien. Unter kapitalistischen Verhältnissen ist jedoch jede andere Basis, jedes andere Prinzip der Teilung als das der Macht unmöglich. Der Milliardär kann das "Nationaleinkommen" eines kapitalistischen Landes mit jemand anderem nur in einer bestimmten Proportion teilen: "entsprechend dem Kapital" (überdies noch mit einem Zuschlag, damit das grösste Kapital mehr bekommt als ihm zusteht). Kapitalismus bedeutet Privateigentum an den Produktionsmitteln und Anarchie der Produktion. Auf solcher Basis eine "gerechte" Verteilung des Einkommens zu predigen ist Proudhonismus, ist kleinbürgerlicher, philiströser Stumpfsinn.

Es kann nicht anders geteilt werden als "entsprechend der Macht". Die Machtverhältnisse ändern sich aber mit dem Gang der ökonomischen Entwicklung. Nach 1871 erstarkte Deutschland etwa drei- bis viermal so rasch wie England und Frankreich, Japan annähernd zehnmal so rasch wie Rußland. Um die tatsächliche Macht eines kapitalistischen Staates zu prüfen, gibt es kein anderes Mittel und kann es kein anderes Mittel geben als den Krieg. Der Krieg steht in keinem Widerspruch zu den Grundlagen des Privateigentums, er stellt vielmehr eine direkte und unvermeidliche Entwicklung dieser Grundlagen dar. Unter dem Kapitalismus ist ein gleichmässiges Wachstum in der ökonomischen Entwicklung einzelner Wirtschaften und einzelner Staaten unmöglich. Unter dem Ka-<345> pitalismus gibt es keine anderen Mittel, das gestörte Gleichgewicht von Zeit zu Zeit wieder herzustellen, als Krisen in der Industrie und Kriege in der Politik.

Natürlich sind zeitweilige Abkommen zwischen den Kapitalisten und zwischen den Mächten möglich. In diesem Sinne sind auch die Vereinigten Staaten von Europa möglich als Abkommen der europäischen Kapitalisten … worüber? Lediglich darüber, wie man gemeinsam den Sozialismus in Europa unterdrücken, gemeinsam die geraubten Kolonien gegen Japan und Amerika verteidigen könnte, die durch die jetzige Aufteilung der Kolonien im höchsten Grade benachteiligt und die im letzten halben Jahrhundert unvergleichlich rascher erstarkt sind als das rückständige, monarchistische, von Altersfäule befallene Europa. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten von Amerika bedeutet Europa im ganzen genommen ökonomischen Stillstand. Auf der heutigen ökonomischen Basis, d.h. unter kapitalistischen Verhältnissen, würden die Vereinigten Staaten von Europa die Organisation der Reaktion zur Hemmung der rascheren Entwicklung Amerikas bedeuten. Die Zeiten, in denen die Sache der Demokratie und die Sache des Sozialismus nur mit Europa verknüpft war, sind unwiderruflich dahin.

Die Vereinigten Staaten der Welt (nicht aber Europas) sind jene staatliche Form der Vereinigung und der Freiheit der Nationen, die wir mit dem Sozialismus verknüpfen - solange nicht der vollständige Sieg des Kommunismus zum endgültigen Verschwinden eines jeden, darunter auch des demokratischen, Staates geführt haben wird. Als selbständige Losung wäre jedoch die Losung Vereinigte Staaten der Welt wohl kaum richtig, denn erstens fällt sie mit dem Sozialismus zusammen, und zweitens könnte sie die falsche Auffassung von der Unmöglichkeit des Sieges des Sozialismus in einem Lande und eine falsche Auffassung von den Beziehungen eines solchen Landes zu den übrigen entstehen lassen.

Die Ungleichmässigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unbedingtes Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, dass der Sieg des Sozialismus zunächst in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist. Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande der übrigen, der kapitalistischen Welt entgegenstellen, würde die unter-<346 drückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in diesen Ländern den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und notfalls sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen.

Die politische Form der Gesellschaft, in der das Proletariat siegt, indem es die Bourgeoisie stürzt, wird die demokratische Republik sein, die die Kräfte des Proletariats der betreffenden Nation oder der betreffenden Nationen im Kampfe gegen die Staaten, die noch nicht zum Sozialismus übergegangen sind, immer mehr zentralisiert. Die Abschaffung der Klassen ist unmöglich ohne die Diktatur der unterdrückten Klasse, des Proletariats. Die freie Vereinigung der Nationen im Sozialismus ist unmöglich ohne einen mehr oder minder langwierigen, hartnäckigen Kampf der sozialistischen Republiken gegen die rückständigen Staaten.

Aus eben diesen Erwägungen heraus, im Ergebnis vielfacher Erörterung der Frage auf der Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR und nach dieser Konferenz, ist die Redaktion des Zentralorgans zu dem Schluß gelangt, dass die Losung der Vereinigten Staaten von Europa eine falsche Losung ist.

"Sozial-Demokrat" Nr. 44, 23. August 1915

1  Siehe "Die Konferenz der Auslandssektionen der SDAPR" in: Lenin Werke, Band 21, S. 147-153