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Gedruckt nachzulesen in: Wladimir Iljitsch Lenin - Werke. Herausgegeben vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Band 22, 3. Auflage, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 138-141.

1. Korrektur.
Erstellt am 20.02.1999.

Wladimir Iljitsch Lenin

Über der Frieden ohne Annexionen und die Unabhängigkeit Polens als Tageslosung in Rußland


["Sozial-Demokrat" Nr. 51, 29 Februar 1916]

|138| "Pazifismus und abstrakte Friedenspredigt sind eine Form der Irreführung der Arbeiterklasse ... Eine Friedenspropaganda, die nicht begleitet ist von der Aufrufung der Massen zu revolutionären Aktionen, kann in der gegenwärtigen Zeit nur Illusionen erwecken, das Proletariat dadurch demoralisieren, daß man ihm Vertrauen in die Humanität der Bourgeoisie einflößt, und es zu einem Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie der kriegführenden Länder machen." So lautet die Berner Resolution unserer Partei (siehe Nr. 40 des "Sozial-Demokrat" und "Sozialismus und Krieg").

Die - unter den russischen Emigranten, nicht aber unter den russischen Arbeitern - zahlreichen Gegner unserer Fragestellung über den Frieden haben sich nicht ein einziges Mal die Mühe genommen, diese Thesen zu untersuchen. Theoretisch unwiderlegbar, erhalten sie jetzt, eben infolge der Wendung, welche die Ereignisse in unserem Lande genommen haben, eine besonders anschauliche praktische Bestätigung.

"Rabotscheje Utro", das Blatt der Petrograder Liquidatoren und Legalisten, das vom Organisationskomitee geistig unterstützt wird, hat bekanntlich gleich in der ersten Nummer den sozialchauvinistischen Standpunkt der "Vaterlandsverteidiger" eingenommen. Es hat die Manifeste der Petrograder und Moskauer Sozialchauvinisten für die "Vaterlandsverteidigung" veröffentlicht. In beiden Manifesten kommt unter anderem die Idee des "Friedens ohne Annexionen" zum Ausdruck, und in Nr. 2 des "Rabotscheje Utro" wird diese Losung besonders hervorgehoben, |139| kursiv gebracht, als die "Linie" bezeichnet, "die dem Lande den Ausweg aus der Sackgasse sichert". Seht - soll das heißen -, welch eine Verleumdung, uns Chauvinisten zu nennen, wo wir doch die höchst "demokratische", ja "wahrhaft sozialistische" Losung des "Friedens ohne Annexionen" vollauf anerkennen!

Zweifellos kommt es Nikolaus dem Blutigen sehr gelegen, daß seine treuen Untertanen jetzt diese Losung aufstellen. Gestützt auf die Gutsbesitzer und die Bourgeoisie, führte der Zarismus die Truppen ins Feld, um Galizien zu plündern und zu unterjochen (ganz zu schweigen von dem Abkommen über die Teilung der Türkei usw.). Die Truppen der ebenso räuberischen deutschen Imperialisten schlugen die russischen Räuber zurück und verdrängten sie nicht nur aus Galizien, sondern auch aus "Russisch-Polen". (Dabei mußten Hunderttausende russischer und deutscher Arbeiter und Bauern für die Interessen beider Cliquen ihr Leben auf den Schlachtfeldern lassen.) Die Losung des "Friedens ohne Annexionen" erwies sich somit als ein wunderbares "Spielzeug in den Händen der Geheimdiplomatie" des Zarismus: seht her, uns ist Unrecht geschehen: man hat uns beraubt, man hat uns Polen genommen, wir sind gegen Annexionen!

Wie sehr diese Rolle von Lakaien des Zarismus "nach dem Geschmack" der Sozialchauvinisten vom "Rabotscheje Utro" ist, geht besonders aus dem Artikel in Nr. 4 "Die polnische Emigration" hervor. "Die verflossenen Kriegsmonate", lesen wir da, "weckten im Bewußtsein breiter Schichten des polnischen Volkes eine tiefe Sehnsucht nach Unabhängigkeit." Vor dem Kriege gab es das natürlich nicht! "Im gesellschaftlichen Bewußtsein breiter Schichten der polnischen Demokratie triumphierte die Masse" (offensichtlich ein Druckfehler, es muß heißen: die Idee, der Gedanke oder so ähnlich) "der nationalen Unabhängigkeit Polens ... Vor der russischen Demokratie erhebt sich jetzt unabweisbar in ihrer ganzen Größe die polnische Frage ..." Die "russischen Liberalen" weigern sich, einfache Antworten auf die verdammten Fragen "nach der Unabhängigkeit Polens" zu geben .

Nun, natürlich sind Nikolaus der Blutige, Chwostow, Tschelnokow, Miljukow und Co. durchaus für die Unabhängigkeit Polens, sind sie jetzt, wo diese Losung in der Praxis die Losung des Sieges über Deutschland bedeutet, das Rußland Polen abgenommen hat, aus ganzer Seele |140| dafür. Man beachte, daß die Schöpfer der "Stolypinschen Arbeiterpartei" vor dem Kriege rückhaltlos und uneingeschränkt gegen das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und gegen die Freiheit der Lostrennung Polens auftraten und zu diesem edlen Zweck der Verteidigung der Unterjochung Polens durch den Zarismus den Opportunisten Semkowski vorschickten. Jetzt, da Polen Rußland abgenommen worden ist, sind sie für die "Unabhängigkeit" Polens (von Deutschland - das wird bescheiden verschwiegen ...)

Es wird euch nicht gelingen, die klassenbewußten Arbeiter Rußlands zu betrügen, ihr Herren Sozialchauvinisten. Eure "oktobristische" Losung von 1915, die Losung der Unabhängigkeit Polens und des Friedens ohne Annexionen, ist in Wirklichkeit Liebedienerei vor dem Zarismus, dem es gerade jetzt, gerade im Februar 1916, sehr zupaß kommt, daß sein Krieg durch ach so hochherzige Reden über einen "Frieden ohne Annexionen" (Hindenburg aus Polen vertreiben) und über die Unabhängigkeit Polens (von Wilhelm, aber Abhängigkeit von Nikolaus II.) bemäntelt wird.

Ein russischer Sozialdemokrat, der sein Programm nicht vergessen hat, denkt anders. Die russische Demokratie, wird er sagen, wobei er vor allem und am meisten die großrussische Demokratie im Auge hat, denn sie allein genoß in Rußland stets die Freiheit der Sprache, diese Demokratie hat dadurch entschieden gewonnen daß Rußland jetzt Polen nicht unterdrückt, es nicht gewaltsam festhält. Für das russische Proletariat ist es entschieden ein Gewinn, daß es eines der Völker nicht unterdrückt, das zu unterdrücken es gestern noch half. Die deutsche Demokratie hat entschieden verloren: solange das deutsche Proletariat die Unterdrückung Polens durch Deutschland duldet, wird seine Lage schlimmer sein als die eines Sklaven; es wird die Lage eines Büttels sein, der hilft, andere in Sklaverei zu halten. Gewonnen haben zweifellos nur die Junker und Bourgeois Deutschlands.

Daraus ergibt sich die Schlußfolgerung: Die russischen Sozialdemokraten müssen aufdecken, daß es ein Betrug des Zarismus am Volke ist, wenn jetzt in Rußland die Losungen des "Friedens ohne Annexionen" und der "Unabhängigkeit Polens" aufgestellt werden, denn diese beiden Losungen bedeuten bei der gegebenen Lage das Bestreben, den Krieg fortzusetzen, und rechtfertigen dieses Bestreben. Wir müssen sagen: |141| Kein Krieg um Polen! Das russische Volk will nicht von neuem Polens Unterdrücker werden!

Aber wie kann man helfen, Polen von Deutschland zu befreien? Müssen wir denn nicht dabei helfen? Natürlich müssen wir das, aber nicht dadurch, daß wir den imperialistischen Krieg des zaristischen oder auch eines bürgerlichen, ja sogar eines bürgerlich-republikanischen Rußlands unterstützen, sondern indem wir das revolutionäre Proletariat Deutschlands unterstützen, indem wir jene Elemente der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands unterstützen, die gegen die konterrevolutionäre Arbeiterpartei der Südekum, Kautsky und Co. kämpfen. Kautsky hat erst vor ganz kurzer Zeit seine konterrevolutionäre Gesinnung besonders anschaulich bewiesen: Am 26. November 1915 bezeichnete er Straßenkundgebungen als "Abenteuer" (wie Struve vor dem 9. Januar 1905 behauptet hatte, daß es in Rußland kein revolutionäres Volk gebe). Am 30. November 1915 aber demonstrierten in Berlin 10.000 Arbeiterinnen!

Jeder, der nicht heuchlerisch, nicht à la Südekum, nicht à la Plechanow, nicht à la Kautsky die Freiheit der Völker, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennen will, muß gegen den Krieg um die Unterdrückung Polens sein; für die Freiheit der Lostrennung jener Völker von Rußland, die jetzt von Rußland unterdrückt werden: der Ukraine, Finnlands usw. Jeder, der nicht in Wirklichkeit ein Sozialchauvinist sein will, muß ausschließlich jene Elemente der sozialistischen Parteien aller Länder unterstützen, die direkt, unmittelbar, schon jetzt für die proletarische Revolution in ihrem eigenen Lande wirken

Nicht "Frieden ohne Annexionen", sondern Friede den Hütten, Krieg den Palästen, Friede dem Proletariat und den Werktätigen, Krieg der Bourgeoisie!

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