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Wladimir I. Lenin

[Gegen Kornilow kämpfen, um Kerenski zu stürzen]

Brief an das Zentralkomitee der SDAPR Anm1


30. August (12. September) 1917


Geschrieben am 30. August (12. September) 1917 aus dem illegalen Versteck in Finnland, wo Lenin sich vom 10.8.-17.9.1917 (23.8.-30.9.1917) vor der Verfolgung durch Kerenskis Regime verbarg Anm2. Dort schrieb Lenin auch die bedeutende Schrift »Staat und Revolution«

Zuerst veröffentlicht am 7. November 1920 in der »Prawda« Nr. 250.

Deutscher Text nach: Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin (DDR) 1960, S. 292-296, auf welche Veröffentlichung sich auch die Seitenzahlen beziehen.
Die hier gewählte Überschrift stammt von der Redaktion MLwerke.


Es ist möglich, daß diese Zeilen zu spät kommen, denn die Ereignisse entwickeln sich mit einer zuweilen geradezu schwindelerregenden Schnelligkeit. Ich schreibe dies Mittwoch, den 30. August, und die Empfänger werden es frühestens Freitag, den 2. September, lesen. Dennoch halte ich es für meine Pflicht, auf alle Fälle folgendes zu schreiben.

Der Aufstand Komilows ist eine ganz und gar unerwartete (zu diesem Zeitpunkt und in dieser Form unerwartete) und geradezu unwahrscheinlich schroffe Wendung der Ereignisse.

Wie jede schroffe Wendung, erfordert auch diese eine Überprüfung und Änderung der Taktik. Und wie bei jeder Überprüfung. muß man außerordentlich vorsichtig sein, um nicht in Prinzipienlosigkeit zu verfallen.

Meiner Überzeugung nach verfallen jene in Prinzipienlosigkeit, die (wie Wolodarski) zum Standpunkt der Vaterlandsverteidigung oder (wie andere Bolschewiki) zu einem Block mit den Sozialrevolutionären, zur Unterstützung der Provisorischen Regierung abgleiten. Das ist grundfalsch, das ist Prinzipienlosigkeit. Vaterlandsverteidiger werden wir erst nach dem Übergang der Macht an das Proletariat, nach dem Friedens-angebot, nachdem die Geheimverträge zerrissen und die Verbindungen mit den Banken gelöst sind, erst nachher. Weder die Besetzung von Riga noch die Besetzung von Petrograd wird uns zu Vaterlandsverteidigern machen. (Ich bitte sehr, dies Wolodarski zum Lesen zu geben.) Bis dahin sind wir für die proletarische Revolution, sind wir gegen den Krieg, sind wir keine Vaterlandsverteidiger.

Die Kerenskiregierung dürfen wir selbst jetzt nicht unterstützen. Das wäre Prinzipienlosigkeit. Man wird fragen: Sollen wir etwa nicht gegen Kornilow kämpfen? Natürlich sollen wir das. Aber das ist nicht dasselbe; da gibt es eine Grenze, sie wird von manchen Bolschewiki überschritten, die in »Verständigungspolitik« verfallen, sich vom Strom der Ereignisse mitreißen lassen.

|295> Wir werden kämpfen, wir kämpfen gegen Kornilow ebenso wie die Truppen Kerenskis, aber wir unterstützen Kerenski nicht, sondern entlarven seine Schwäche. Das ist ein Unterschied. Das ist ein recht feiner, aber überaus wesentlicher Unterschied, den man nicht vergessen darf.

Worin besteht nun die Änderung unserer Taktik nach dem Aufstand von Kornilow?

Darin, daß wir die Form unseres Kampfes gegen Kerenski ändern. Ohne unsere Feindschaft gegen ihn auch nur um einen Deut zu mildern, ohne ein Wort von dem, was wir gegen ihn gesagt haben, zurückzunehmen, ohne auf die Aufgabe zu verzichten, Kerenski zu stürzen, sagen wir: Man muß der Situation Rechnung tragen, jetzt werden wir Kerenski nicht stürzen, wir werden jetzt an die Aufgabe, den Kampf gegen ihn zu führen, anders herangehen, und zwar werden wir das Volk (das gegen Kornilow kämpft) über Kerenskis Schwäche und über seine Schwankungen aufklären. Das taten wir auch früher, jetzt aber ist das die Hauptsache geworden: darin besteht die Änderung.

Ferner besteht die Änderung darin, daß jetzt die verstärkte Agitation für gewisse »Teilforderungen« an Kerenski zur Hauptsache geworden ist: verhafte Miljukow, bewaffne die Petrograder Arbeiter, rufe die Kronstädter, Wiborger und Helsingforser Truppen nach Petrograd, jage die Reichsduma auseinander, verhafte Rodsjanko, erhebe die Übergabe der Gutsbesitzerländereien an die Bauern zum Gesetz, führe über die Brotversorgung und in den Fabriken die Arbeiterkontrolle ein. usw. usf. Und nicht nur an Kerenski, nicht so sehr an Kerenski müssen wir diese Forderungen richten als vielmehr an die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die vom Verlauf des Kampfes gegen Kornilow mitgerissen worden sind. Wir müssen sie weiter mitreißen, sie anspornen, den Generalen und Offizieren, die für Kornilow eintreten, das Fell zu gerben; wir müssen darauf bestehen, daß sie die sofortige Übergabe des Bodens an die Bauern fordern; wir müssen sie auf den Gedanken bringen, daß Rodsjanko und Miljukow verhaftet, die Reichsduma auseinandergejagt, die »Retsch« und andere bürgerliche Zeitungen verboten werden müssen, daß man eine Untersuchung gegen sie einleiten muß. Ganz besonders müssen die »linken« Sozialrevolutionäre in diese Richtung gedrängt werden

Es wäre falsch anzunehmen, daß wir uns von der Aufgabe der Eroberung der Macht durch das Proletariat entfernt haben. Nein. Wir sind |296>dieser Aufgabe ganz erheblich näher gekommen. aber nicht direkt, sondern von der Seite her. Und auch die Agitation muß momentan nicht so sehr direkt gegen Kerenski gerichtet sein, wie indirekt gegen ihn, indirekt, indem wir den aktiven, den alleraktivsten. den wahrhaft revolutionären Krieg gegen Kornilow fordern. Einzig und allein die Entwicklung dieses Krieges kann uns an die Macht bringen, doch davon soll bei der Agitation möglichst wenig geredet werden (wobei man stets daran denken muß, daß die Ereignisse uns morgen schon an die Macht bringen können, die wir dann nicht wieder aus der Hand geben werden). Meines Erachtens müßte man das in einem Brief an die Agitatoren (nicht in der Presse) den Gruppen der Agitatoren und Propagandisten und überhaupt den Parteimitgliedern mitteilen. Die Phrasen von der Verteidigung des Landes, von der Einheitsfront der revolutionären Demokratie, von der Unterstützung der Provisorischen Regierung usw. usf. müssen wir schonungslos bekämpfen, eben als Phrasen bekämpfen. Jetzt ist es Zeit zu handeln. Ihr Herren Sozialrevolutionäre und Menschewiki habt diese Phrasen längst abgedroschen. Jetzt ist es Zeit zu handeln, den Krieg gegen Kornilow muß man revolutionär führen, indem man die Massen hineinzieht, sie in Bewegung bringt, sie entflammt (Kerenski aber fürchtet die Massen, fürchtet das Volk). Im Krieg gegen die Deutschen gilt es gerade jetzt zu handeln: sofort unbedingt den Frieden zu präzisen Bedingungen anbieten. Tut man das, so kann man entweder einen raschen Frieden oder die Umwandlung des Krieges in einen revolutionären Krieg erreichen, andernfalls bleiben alle Menschewiki und Sozialrevolutionäre Lakaien des Imperialismus.

PS. Nach Niederschrift dieser Zeilen las ich sechs Nummern des »Rabotschi« und muß sagen, daß wir vollkommen übereinstimmen. Ich begrüße von ganzem Herzen die ausgezeichneten Leitartikel, die Presse-rundschau und die Artikel von W. M-n und Wol-i. Was die Rede von Wolodarski betrifft, so habe ich seinen Brief an die Redaktion gelesen. durch den ebenfalls meine Vorwürfe hinfällig werden. Noch einmal beste Grüße und Wünsche!



Lenin


Anm1Dieser Brief wird ausführlich zitiert in dem Artikel »Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?« von Leo Trotzki.Zurück

Anm2Mehr zu den Umständen dieser Illegalität und den Kampf gegen Kornilow in einem anderen Abschnitt desselben Artikels »Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?« von Leo Trotzki.Zurück


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