MLWerke | 1842 | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 86-104.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Karl Marx

Der leitende Artikel in Nr. 179 der »Kölnischen Zeitung«

Geschrieben zwischen dem 29. Juni und 3. Juli 1842.

[»Rheinische Zeitung« Nr. 191 vom 10. Juli 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 193 vom 12. Juli 1842]
[»Rheinische Zeitung« Nr. 195 vom 14. Juli 1842]


[»Rheinische Zeitung« Nr. 191 vom 10. Juli 1842]

|86|*** Wir hatten bisher in der »Kölnischen Zeitung« wenn auch nicht das »Blatt der rheinischen Intelligenz«, so doch das rheinische »Intelligenzblatt« verehrt. Wir betrachteten vorzugsweise ihre »leitenden politischen Artikel« als ein ebenso weises wie gewähltes Mittel, dem Leser die Politik zu verleiden, damit er desto sehnsüchtiger in das lebensfrische, industriewogende und oft schöngeistig pikante Reich der Anzeigen hinübersetze, damit es auch hier heiße: per aspera ad astra |auf rauhen Pfaden zu den Sternen|, durch die Politik zu den Austern. Allein das schöne Ebenmaß, welches die »Kölnische Zeitung« bisher zwischen der Politik und den Anzeigen zu halten wußte, ist in letzter Zeit durch eine Art von Anzeigen gestört worden, welche man die »Anzeigen der politischen Industrie« nennen kann. In der ersten Unsicherheit, wo diese neue Gattung zu plazieren, geschah es, daß sich eine Anzeige in einen leitenden Artikel und der leitende Artikel in eine Anzeige verwandelte, und zwar in eine Anzeige, die man in der Sprache der politischen Welt eine »Denunziation« nennt, die aber, wenn sie bezahlt wird, eine »Anzeige« schlechthin heißt.

Man pflegt im Norden vor den magern Mahlzeiten exquisite Spirituosa den Gästen verabfolgen zu lassen. Wir befolgen bei unserm nordischen Gaste um so lieber diese Sitte, den Spiritus vor der Mahlzeit zu geben, als wir in der Mahlzeit selbst, in dem sehr »leidenden« Artikel in Nr. 179 der »Kölnischen Zeitung« keinen Spiritus finden. Wir tischen daher zuerst eine Szene aus Lucians Göttergesprächen auf, die wir nach einer »gemeinverständlichen« Übersetzung mitteilen, da unter unsern Lesern wenigstens einer sich befinden wird, der kein Hellene ist.

|87|Lucians Göttergespräche

XXIV. Hermes' Klagen

Hermes. Maja

Hermes. Gibt es wohl, liebe Mutter, im ganzen Himmel einen geplagteren Gott als mich?
Maja. Sage doch nicht so etwas, mein Sohn!
Hermes. Warum soll ich es nicht sagen? Ich, der ich eine Menge von Geschäften zu besorgen habe, immer allein arbeiten, mich zu so vielen Knechtsdiensten herumzerren lassen muß? Morgens mit dem Frühesten muß ich aufstehen und den Speisesaal auskehren, die Polster im Ratszimmer zurechte legen, und wenn alles an Ort und Stelle ist, bei Jupitern aufwarten und den ganzen Tag mit seinen Botschaften auf und ab den Kurier machen. Kaum zurückgekehrt und mit Staube noch bedeckt, muß ich die Ambrosia auftragen. Und was noch das ärgste ist, ich hin der einzige, dem man auch des Nachts keine Ruhe läßt; denn da muß ich dem Pluto die Seelen der Verstorbenen zuführen und beim Totengerichte Aufwärterdienste tun, denn es ist nicht genug an den Arbeiten des Tages, daß ich den Turnübungen anzuwohnen, den Herold in den Volksversammlungen zu machen, den Volksrednern beim Einstudieren ihrer Vorträge zu helfen habe; nein, ich muß, in so viele Geschäfte zerstückelt, auch noch das gesamte Totenwesen besorgen.

Seit seiner Vertreibung aus dem Olymp besorgt Hermes aus alter Gewohnheit noch immer »Knechtsdienste« « und das gesamte Totenwesen.

Ob Hermes selbst oder sein Sohn, der Ziegengott Pan, den leidenden Artikel Nr. 179 geschrieben, mag der Leser entscheiden, nachdem er sich erinnert, daß der griechische Hermes der Gott der Beredsamkeit und der Logik war.

»Philosophische und religiöse Ansichten durch die Zeitungen zu verbreiten oder in den Zeitungen zu bekämpfen, scheint uns gleich unzulässig.«

Wie der Alte so plauderte, merkte ich wohl, daß es bei ihm auf eine langweilige Litanei von Orakelsprüchen abgesehen sei, aber, beschwichtigte ich die Ungeduld, sollte ich dem einsichtsvollen Manne nicht glauben, der so unbefangen ist, in seinem eigenen Hause seine Meinung mit aller Freimütigkeit zu sagen, und ich las weiter. Doch, o Wunder, dieser Artikel, dem zwar keine einzige philosophische Ansicht vorzuwerfen ist, hat wenigstens die Tendenz, philosophische Ansichten zu bekämpfen und religiöse Ansichten zu verbreiten.

Was soll uns ein Artikel, der das Recht seiner eigenen Existenz bestreitet, der seine Inkompetenzerklärung sich selbst vorausschickt. Der redselige |88| Verfasser wird uns antworten. Er erklärt, wie seine breitspurigen Artikel zu lesen sind. Er beschränkt sich darauf, Bruchstücke zu geben, deren »Aneinanderreihung und Verbindung« er »dem Scharfsinn der Leser« überläßt -, die schicklichste Methode für jene Art von Anzeigen, deren Betrieb er sich zugelegt. Wir wollen »aneinanderreihen und verbinden«, und es ist nicht unsere Schuld, wenn aus dem Rosenkranz kein Kranz von Rosenperlen wird.

Der Verfasser erklärt sich dahin:

»Eine Partei, die sich dieser Mittel bedient« (nämlich philosophische und religiöse Ansichten in Zeitungen zu verbreiten und zu bekämpfen), »zeigt dadurch, unserer Meinung nach, daß sie es nicht ehrlich meint und daß ihr weniger an der Belehrung und Aufklärung des Volkes als an der Erreichung anderer äußerer Zwecke gelegen ist.«

Bei dieser seiner Meinung kann der Artikel nichts anderes als die Erreichung äußerer Zwecke beabsichtigen. Diese »äußern Zwecke« werden sich nicht verschweigen.

Der Staat, heißt es, hat nicht allein das Recht, sondern auch die Pflicht, den »unberufenen Schwätzern das Handwerk zu legen«. Der Verfasser spricht von den Gegnern seiner Ansicht; denn längst ist er dahin mit sich selbst übereingekommen, ein berufener Schwätzer zu sein.

Es handelt sich also von einer neuen Verschärfung der Zensur in religiösen Angelegenheiten, von einer neuen Polizeimaßregel gegen die kaum aufatmende Presse.

»Unserer Meinung nach kann man dem Staate, statt übertriebener Strenge, eher eine zu weit getriebene Nachsicht zum Vorwurf machen.«

Doch der leitende Artikel besinnt sich. Es ist gefährlich, dem Staate Vorwürfe zu machen; er adressiert sich daher an die Behörden, seine Anklage gegen die Preßfreiheit verwandelt sich in eine Anklage gegen die Zensoren; er klagt die Zensoren an, zu »wenig Zensur« anzuwenden.

»Auch darin ist bisher, zwar nicht vom Staate, aber von ›einzelnen Behörden‹ eine tadelnswerte Nachsicht bewiesen worden, daß man der neuern philosophischen Schule gestattet hat, sich in öffentlichen Blättern und in andern, für einen nicht bloß wissenschaftlichen Leserkreis bestimmten Druckschriften die unwürdigsten Ausfälle auf das Christentum zu erlauben.«

Wiederum bleibt der Verfasser stehen, und wiederum besinnt er sich; er hat vor weniger als acht Tagen in der Zensurfreiheit zu wenig Preßfreiheit gefunden; er findet jetzt in dem Zensorenzwang zu wenig Zensurzwang.

Das muß wieder gutgemacht werden.

|89|»Solange noch eine Zensur besteht, ist es ihre dringendste Pflicht, so ekelerregende Auswüchse eines knabenhaften Übermutes auszuschneiden, wie sie in den letzten Tagen wiederholt unser Auge beleidigt haben.«

Blöde Augen! Blöde Augen! Und das »blödeste Auge wird von einer Wendung beleidigt werden, die nur auf die Fassungskraft der großen Menge« berechnet sein kann.

Wenn schon die erleichterte Zensur ekelerregende Auswüchse aufkommen läßt, wie erst die Preßfreiheit? Wenn unsere Augen zu schwach sind, den »Übermut« der zensierten, wie würden sie stark genug sein, den »Mut« der freien Presse zu ertragen?

»Solange die Zensur besteht, ist es ihre dringendste Pflicht.« Und sobald sie nicht mehr besteht? Die Phrase muß so interpretiert werden: Es ist die dringendste Pflicht der Zensur, so lange als möglich zu bestehen.

Und wiederum besinnt sich der Verfasser:

»Es ist nicht unseres Amtes, als öffentlicher Ankläger aufzutreten, und wir unterlassen deshalb jede nähere Bezeichnung.«

Es ist eine Himmelsgüte in diesem Menschen! Er unterläßt die nähere »Bezeichnung«, und nur aus ganz nahen, ganz distinkten Zeichen könnte er beweisen und zeigen, was denn seine Ansicht will; er läßt nur vage, halblaute, verdächtigende Worte fallen; es ist nicht seines Amtes, öffentlicher Ankläger, es ist seines Amtes, versteckter Ankläger zu sein.

Zum letzten Male besinnt sich der unglückliche Mann, daß es seines Amtes ist, liberale Leadingartikel zu schreiben, daß er einen »loyalen Preßfreiheitsfreund« vorstellen solle; er wirft sich also in die letzte Position:

»Wir durften es nicht unterlassen, gegen ein Verfahren zu protestieren, welches, wenn es nicht eine Folge zufälliger Vernachlässigung ist, keinen andern Zweck haben kann, als die freiere Bewegung der Presse in der öffentlichen Meinung zu kompromittieren, um den Gegnern, die auf dem geraden Wege ihr Ziel zu verfehlen fürchten, gewonnenes Spiel zu gehen.«

Die Zensur, lehrt dieser ebenso kühne als scharfsinnige Verteidiger der Preßfreiheit, wenn sie nicht der englische Leoparde mit der Inschrift ist: »I sleep, wake me not!« hat dieses »heillose« Verfahren eingeschlagen, um die freiere Bewegung der Presse in der öffentlichen Meinung zu kompromittieren.

Braucht eine Bewegung der Presse noch kompromittiert zu werden, welche die Zensur auf »zufällige Vernachlässigungen« aufmerksam macht, welche ihr |90| Renommee in der öffentlichen Meinung von dem »Federmesser des Zensors« erwartet?

»Frei« kann diese Bewegung insofern genannt werden, als man die Lizenz der Schamlosigkeit auch zuweilen »frei« nennt, und ist es nicht die Schamlosigkeit des Unverstandes und der Heuchelei, sich für einen Verteidiger der freiern Bewegung der Presse auszugeben, wenn man zugleich doziert, die Presse falle den Augenblick in die Gosse, wo nicht zwei Gendarmen ihr unter die Arme greifen.

Und wozu bedürfen wir der Zensur, wozu dieses leitenden Artikels, wenn die philosophische Presse sich selbst in der öffentlichen Meinung kompromittiert? Allerdings will der Verfasser keineswegs »die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung« beschränken.

»In unsern Tagen ist der wissenschaftlichen Forschung mit Recht der weiteste, unbeschränkteste Spielraum gestattet.«

Welchen Begriff unser Mann aber von der wissenschaftlichen Forschung hat, mag folgende Äußerung beweisen:

»Es ist dabei scharf zu unterscheiden, was die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung erfordert, durch welche das Christentum selbst nur gewinnen kann, und was über die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung hinaus liegt.«

Wer soll über die Grenzen der wissenschaftlichen Forschung entscheiden, wenn nicht die wissenschaftliche Forschung selbst! Nach dem leitenden Artikel sollen die Grenzen der Wissenschaft vorgeschrieben werden. Der leitende Artikel kennt also eine »offizielle Vernunft«, welche nicht von der wissenschaftlichen Forschung lernt, sondern sie belehrt, welche, eine gelehrte Vorsehung, die Größe jedes Haares mißt, das einen wissenschaftlichen Bart in einen Weltbart verwandeln könnte. Der leitende Artikel glaubt an die wissenschaftliche Inspiration der Zensur.

Ehe wir diese »albernen« Explikationen des leitenden Artikels über die »wissenschaftliche Forschung« weiter verfolgen, kosten wir einen Augenblick von der »Religionsphilosophie« « des Herrn H[ermes] von seiner »eigenen Wissenschaft«!

»Die Religion ist die Grundlage des Staates, wie die notwendigste Bedingung jeder nicht bloß auf die Erreichung irgendeines äußerlichen Zweckes gerichteten gesellschaftlichen Vereinigung.«

Beweis: »In ihrer rohesten Form als kindischer Fetischismus, erhebt sie den Menschen doch einigermaßen über die sinnlichen Begierden, die ihn, wenn er sich von denselben ausschließlich beherrschen läßt, zum Tiere erniedrigen und zu der Erfüllung jedes höhern Zweckes unfähig machen.«

|91| Der leitende Artikel nennt den Fetischismus die »roheste Form« der Religion. Er gibt also zu, was auch ohne seinen Konsens bei allen Männern der »wissenschaftlichen Forschung« feststeht, daß die »Tierreligion« eine höhere religiöse Form als der Fetischismus ist, und erniedrigt die Tierreligion den Menschen nicht unter das Tier, macht sie das Tier nicht zum Gott des Menschen?

Und nun gar der »Fetischismus«! Eine wahre Pfennigsmagazingelehrsamkeit! Der Fetischismus ist so weit entfernt, den Menschen über die Begierde zu erheben, daß er vielmehr »die Religion der sinnlichen Begierde« ist. Die Phantasie der Begierde gaukelt dem Fetischdiener vor, daß ein »lebloses Ding« seinen natürlichen Charakter aufgeben werde, um das Jawort seiner Gelüste zu sein. Die rohe Begierde des Fetischdieners zerschlägt daher den Fetisch, wenn er aufhört, ihr untertänigster Diener zu sein.

»Bei jenen Nationen, welche eine höhere geschichtliche Bedeutung erlangt haben, fällt die Blüte ihres Volkslebens mit der höchsten Ausbildung ihres religiösen Sinnes, der Verfall ihrer Größe und ihrer Macht mit dem Verfall ihrer religiösen Bildung zusammen.«

Wenn man die Behauptung des Verfassers geradezu umkehrt, erhält man die Wahrheit; er hat die Geschichte auf den Kopf gestellt. Griechenland und Rom sind doch wohl die Länder der höchsten »geschichtlichen Bildung« unter den Völkern der alten Welt. Griechenlands höchste innere Blüte fällt in die Zeit des Perikles, seine höchste äußere in die Zeit Alexanders. Zur Zeit des Perikles hatten Sophisten, Sokrates, welchen man die inkorporierte Philosophie nennen kann, Kunst und Rhetorik die Religion verdrängt. Die Zeit des Alexander war die Zeit des Aristoteles, der die Ewigkeit des »individuellen« Geistes und den Gott der positiven Religionen verwarf. Und nun gar Rom! Leset den Cicero! Epikureische, stoische oder skeptische Philosophie waren die Religionen der Römer von Bildung, als Rom den Höhepunkt seiner Laufbahn erreicht hatte. Wenn mit dem Untergang der alten Staaten die Religionen der alten Staaten verschwinden, so bedarf das keiner weitern Explikation, denn die »wahre Religion« der Alten war der Kultus »ihrer Nationalität«, ihres »Staates«. Nicht der Untergang der alten Religionen stürzte die alten Staaten, sondern der Untergang der alten Staaten stürzte die alten Religionen. Und solche Unwissenheit, wie die des leitenden Artikels, proklamiert sich zum »Gesetzgeber der wissenschaftlichen Forschung« und schreibt der Philosophie »Dekrete«.

»Die ganze alte Welt mußte deshalb zusammenbrechen, weil mit den Fortschritten in ihrer wissenschaftlichen Ausbildung, welche die Völker machten, notwendig auch |92| die Aufdeckung der Irrtümer verbunden war, auf denen ihre religiösen Ansichten beruhten.«

Also die ganze alte Welt ging nach dem leitenden Artikel unter, weil die wissenschaftliche Forschung die Irrtümer der alten Religionen aufdeckte. Wäre die alte Welt nicht untergegangen, wenn die Forschung die Irrtümer der Religionen verschwiegen hätte, wenn Lucretius' und Lucians Schriften von dem Verfasser des leitenden Artikels den römischen Behörden zum Ausschneiden empfohlen worden wären?

Übrigens erlauben wir uns, die Gelehrsamkeit des Herrn H[ermes] mit einer Notiz zu vermehren.

[»Rheinische Zeitung« Nr. 193 vom 12. Juli 1842]

*** Eben als der Untergang der alten Welt herannahte, tat sich die Alexandrinische Schule auf, welche mit Gewalt »die ewige Wahrheit« der griechischen Mythologie und ihre durchgängige Übereinstimmung »mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung« zu beweisen sich bemühte. Auch der Kaiser Julian gehörte noch zu dieser Richtung, die den neu hereinbrechen den Zeitgeist glaubte verschwinden zu machen, wenn sie sich die Augen zuhielt, um ihn nicht zu sehen. Allein bei H[erme]s Resultat stehengeblieben! In den alten Religionen war »die schwache Ahnung des Göttlichen von der dichtesten Nacht des Irrtums verhüllt« und konnte deshalb den wissenschaftlichen Forschungen nicht widerstehen. Im Christentum verhält es sich umgekehrt, wird jede Denkmaschine urteilen. Allerdings sagt H[ermes]:

»Die höchsten Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung haben bisher nur dazu gedient, die Wahrheiten der christlichen Religion zu bestätigen.«

Abgesehen davon, daß von allen Philosophien der Vergangenheit ohne Ausnahme jede des Abfalls von der christlichen Religion durch die Theologen bezichtigt wurde, selbst die des frommen Malebranche und des inspirierten Jakob Böhme, daß Leibniz als »Löwenix« (Glaubenichts) von den braunschweigischen Bauern und als Atheist von dem Engländer Clarke und den übrigen Anhängern Newtons angeklagt wurde; abgesehen davon, daß das Christentum wie der tüchtigste und konsequenteste Teil der protestantischen Theologen behauptet, mit der Vernunft nicht übereinstimmen kann, weil die »weltliche« Vernunft und die »geistliche« sich widersprechen, was Tertullian klassisch so ausdrückt: »verum est, quia absurdum est« |»es ist wahr, weil es widersinnig ist«|; hiervon abgesehen, wie soll man die Übereinstimmung der wissenschaftlichen Forschung |93| mit der Religion beweisen, wenn nicht, indem man die wissenschaftliche Forschung zwingt, dadurch in die Religion aufzugehen, daß man sie ihren eigenen Gang fortgehen läßt. Ein anderer Zwang ist wenigstens kein Beweis.

Allerdings, wenn ihr von vornherein nur das als wissenschaftliche Forschung anerkennt, was eure Ansicht ist, so habt ihr leicht prophezeien; aber welchen Vorzug hat eure Behauptung denn vor der des indischen Brahminen, der die Heiligkeit der Vedas beweist, indem er allein sich das Recht vorbehält, sie zu lesen!

Ja, sagt H[ermes], »wissenschaftliche Forschung«. Aber jede Forschung, die dem Christentum widerspricht, bleibt »auf halbem Wege stehen« oder »schlägt einen falschen Weg« ein. Kann man sich das Argumentieren bequemer machen?

Die wissenschaftliche Forschung, sobald sie sich »den Inhalt des Gefundenen 'klargemacht', wird nie den Wahrheiten des Christentums widerstreiten«, aber zugleich muß der Staat dafür sorgen, daß dieses »Klarmachen« unmöglich sei, denn die Forschung darf sich nie an die Fassungskraft der großen Menge wenden, d.h. nie sich selbst populär und klar werden. Selbst wenn sie in allen Zeitungen der Monarchie von unwissenschaftlichen Forschern angegriffen wird, muß sie bescheiden sein und schweigen.

Das Christentum schließt die Möglichkeit »jedes neuen Verfalls« aus, aber die Polizei muß wachen, daß die philosophierenden Zeitungsschreiber es nicht zum Verfall bringen, sie muß mit der äußersten Strenge wachen. Der Irrtum wird im Kampfe mit der Wahrheit von selbst als solcher erkannt werden, ohne daß es einer Unterdrückung durch äußere Gewalt bedürfte; aber der Staat muß diesen Kampf der Wahrheit erleichtern, indem er den Verfechtern des »Irrtums« zwar nicht die innere Freiheit nimmt, die er ihnen nicht nehmen kann, aber wohl die Möglichkeit dieser Freiheit, die Möglichkeit der Existenz.

Das Christentum ist seines Sieges gewiß, aber es ist nach H[ermes] seines Sieges nicht so gewiß, um die Hilfe der Polizei zu verschmähen,

Wenn von vornherein alles Irrtum ist und als Irrtum behandelt werden muß, was eurem Glauben widerspricht, was unterscheidet eure Prätension von der Prätension des Muhammedaners, von der Prätension jeder andern Religion? Soll die Philosophie für jedes Land, nach dem Sprichworte »ländlich, sittlich«, andere Grundsätze annehmen, um den Grundwahrheiten des Dogmas nicht zu widerstreiten; soll sie in dem einen Lande glauben, daß 3 × 1 = 1, in dem andern, daß die Weiber keine Seelen haben, im dritten, |94| daß im Himmel Bier getrunken wird? Gibt es keine allgemein menschliche Natur, wie es eine allgemeine Natur der Pflanzen und Gestirne gibt? Die Philosophie fragt, was wahr, nicht was gültig, sie fragt, was für alle Menschen wahr, nicht was für einzelne wahr ist; ihre metaphysischen Wahrheiten kennen nicht die Grenzen der politischen Geographie; ihre politischen Wahrheiten wissen zu gut, wo die »Grenzen« anfangen, um den illusorischen Horizont der besonderen Welt- und Volksanschauung mit dem wahren Horizont des menschlichen Geistes zu verwechseln. H[ermes] ist unter allen Verteidigern des Christentums der schwächste.

Die lange Existenz des Christentums ist sein einziger Beweis für das Christentum. Existiert nicht auch die Philosophie von Thales bis heutzutage, und zwar nach H[ermes] gerade jetzt mit größern Ansprüchen und größerer Meinung von ihrer Wichtigkeit als jemals?

Wie beweist nun H[ermes] endlich, daß der Staat ein »christlicher« Staat sei, daß er, statt eine freie Vereinigung sittlicher Menschen, eine Vereinigung von Gläubigen, statt der Verwirklichung der Freiheit die Verwirklichung des Dogmas bezweckt. »Unsere europäischen Staaten haben sämtlich das Christentum zur Grundlage.«

Auch der französische Staat? Es heißt in der Charte Artikel 3, nicht:

»jeder Christ«, oder »nur der Christ«, sondern: »tous les Français sont également admissibles aux emplois civiles et militaires«. |»alle Franzosen haben gleichermaßen Zugang zu den Zivil- und Militärämtern« |

Auch im preußischen Landrecht II. Teil, XIII. Titel etc. heißt es:

»Die vorzüglichste Pflicht des Oberhauptes im Staate ist, sowohl die äußere als die innere Ruhe und Sicherheit zu erhalten und einen jeden bei dem Seinigen gegen Gewalt und Störung zu schützen.«

Nach § 1 vereinigt aber das Staatsoberhaupt in sich alle »Pflichten und Rechte des Staates«. Es heißt nicht, die vorzüglichste Pflicht des Staates sei die Unterdrückung ketzerischer Irrtümer und die Seligkeit der andern Welt.

Wenn aber wirklich einige europäische Staaten auf dem Christentum beruhen, entsprechen diese Staaten ihrem Begriff, ist schon die »pure Existenz« eines Zustandes das Recht dieses Zustandes?

Nach der Ansicht unseres H[ermes] allerdings, denn er erinnert die Anhänger des jungen Hegeltums:

»daß nach den Gesetzen, die in dem größten Teil des Staates in Kraft sind, eine Ehe ohne kirchliche Weihe als Konkubinat angesehen und als solches polizeilich bestraft wird.«

|95| Also wenn die »Ehe ohne kirchliche Weihe« am Rhein nach dem Code Napoleon für »eine Ehe« und an der Spree nach dem preußischen Landrecht für ein »Konkubinat« angesehen wird, so soll die »polizeiliche« Strafe ein Argument für »Philosophen« sein, daß hier Recht, was dort Unrecht ist, daß nicht der Code, sondern das Landrecht den wissenschaftlichen und sittlichen, den vernünftigen Begriff von der Ehe hat. Diese »Philosophie der polizeilichen Strafen« mag sonstwo überzeugen, sie überzeugt nicht in Preußen. Wie wenig übrigens das preußische Landrecht die Tendenz der »heiligen« Ehen hat, sagt § 12, Teil II, Titel 1.

»Doch verliert eine Ehe, welche nach den Landesgesetzen erlaubt ist, dadurch, daß die Dispensation der geistlichen Obern nicht nachgesucht oder versagt worden, nichts von ihrer bürgerlichen Gültigkeit.«

Auch hier wird die Ehe teilweise von den »geistlichen Obern« emanzipiert und ihre »bürgerliche« Gültigkeit von ihrer »kirchlichen« unterschieden.

Daß unser großer christlicher Staatsphilosoph keine »hohe« Ansicht vom Staate hat, versteht sich von selbst.

»Da unsere Staaten nicht bloß Rechtsgenossenschaften, sondern zugleich wahre Erziehungsanstalten sind, die ihre Pflege nur über einen weiteren Kreis ausbreiten als die Anstalten, die zur Erziehung der Jugend bestimmt sind« etc. »die gesamte öffentliche Erziehung« beruhe »auf der Grundlage des Christentums«.

Die Erziehung unserer Schuljugend basiert ebensosehr auf den alten Klassikern und den Wissenschaften überhaupt als auf dem Katechismus.

Der Staat unterscheidet sich nach H[ermes] von einer Kleinkinderbewahranstalt nicht durch den Gehalt, sondern durch die Größe, er dehnt seine »Pflege« weiter aus.

Die wahre »öffentliche« Erziehung des Staates ist aber vielmehr das vernünftige und öffentliche Dasein des Staates, selbst der Staat erzieht seine Glieder, indem er sie zu Staatsgliedern macht, indem er die Zwecke des Einzelnen in allgemeine Zwecke, den rohen Trieb in sittliche Neigung, die natürliche Unabhängigkeit in geistige Freiheit verwandelt, indem der Einzelne sich im Leben des Ganzen und das Ganze sich in der Gesinnung des Einzelnen genießt.

Der leitende Artikel dagegen macht den Staat nicht zu einem Verein freier Menschen, die sich wechselseitig erziehen, sondern zu einem Haufen Erwachsener, welche die Bestimmung haben, von oben erzogen zu werden und aus der »engen« Schulstube in die »weitere« Schulstube einzutreten.

Diese Erziehungs- und Bevormundungstheorie wird hier von einem Freunde der Preßfreiheit vorgebracht, der aus Liebe zu dieser Schönen die |96| »Vernachlässigungen der Zensur« notiert, der die »Fassungskraft der großen Menge« gehörigen Orts zu schildern weiß - (vielleicht erscheint die Fassungskraft der großen Menge neuerdings der »Kölnischen Zeitung« so prekär, weil die Menge verlernt hat, die Vorzüge der »unphilosophischen Zeitung« zu fassen?) -, der den Gelehrten anrät, eine Ansicht für die Bühne und eine andere Ansicht für die Kulissen zu haben!

Wie der leitende Artikel seine »untersetzte« Staatsansicht, mag er uns jetzt seine niedrige Ansicht »vom Christentum« dokumentieren,

»Alle Zeitungsartikel der Welt werden eine Bevölkerung, die sich im ganzen wohl und glücklich fühlt, niemals überreden, daß sie sich in einem unseligen Zustand befände.«

Und wie! Das materielle Gefühl des Wohls und Glücks ist stichhaltiger gegen Zeitungsartikel als die beseligende und alles besiegende Zuversicht des Glaubens! H[ermes] singt nicht: »Eine feste Burg ist unser Gott«. Das wahrhaft gläubige Gemüt der »großen Menge« sollte eher den Rostflecken des Zweifels ausgesetzt sein als die raffinierte Weltbildung der »kleinen Menge«!

»Selbst von Aufreizungen zum Aufruhr« fürchtet H[ermes] »in einem wohlgeordneten Staate« weniger als in einer »wohlgeordneten Kirche«, die noch überdem der »Geist Gottes« in alle Wahrheit leite. Ein schöner Gläubiger, und nun erst der Grund! Die politischen Artikel seien nämlich der Menge verständlich, und die philosophischen Artikel seien ihr unverständlich!

Stellt man endlich den Wink des leitenden Artikels: »die halben Maßregeln, die man in der letzten Zeit gegen das junge Hegeltum ergriffen, haben die gewöhnlichen Folgen halber Maßregeln gehabt«, mit dem biedern Wunsch zusammen, daß die letzten Unternehmungen der Hegelinge »ohne allzu nachteilige Folgen« für sie vorübergehen mögen, so begreift man die Worte Cornwalls im »Lear« :

Der kann nicht schmeicheln, der! - ein ehrlicher
Und grader Sinn: er muß die Wahrheit sagen.
Will man es sich gefallen lassen, gut; -
Wo nicht, so ist er grade. - Diese Art
Von Schelmen kenn ich, die in diese Gradheit
Mehr Arglist hüllen, mehr verschmitzte Zwecke
Als zwanzig alberne, gebückte Schranzen
Mit ihrer breiten Dienstbeflissenheit.

Wir wurden die Leser der »Rheinischen Zeitung« zu beleidigen glauben, wenn wir sie mit dem mehr komischen als ernsten Schauspiel befriedigt |97| wähnten, einen ci-devant |ehemaligen| Liberalen, einen »Jungen Mann von ehedem« in die gebührenden Schranken zurückgewiesen zu sehen; wir wollen einige wenige Worte über »die Sache selbst« sagen. Solange wir mit der Polemik gegen den leidenden Artikel beschäftigt waren, wäre es Unrecht gewesen, ihn in dem Geschäft der Selbstvernichtung zu unterbrechen.

[»Rheinische Zeitung« Nr. 195 vom 14. Juli 1842]

Zunächst wird die Frage gestellt: »Soll die Philosophie die religiösen Anliegenheiten auch in Zeitungsartikeln besprechen?«

Man kann diese Frage nur beantworten, indem man sie kritisiert.

Die Philosophie, vor allem die deutsche Philosophie, hat einen Hang zur Einsamkeit, zur systematischen Abschließung zur leidenschaftslosen Selbstbeschauung, die sie dem schlagfertigen, tageslauten, nur in der Mitteilung sich genießenden Charakter der Zeitungen von vornherein entfremdet gegenüberstellt. Die Philosophie, in ihrer systematischen Entwicklung begriffen, ist unpopulär, ihr geheimes Weben in sich selbst erscheint dem profanen Auge als ein ebenso überspanntes wie unpraktisches Treiben; sie gilt für einen Professor der Zauberkünste, dessen Beschwörungen feierlich klingen, weil man sie nicht versteht.

Die Philosophie hat, ihrem Charakter gemäß, nie den ersten Schritt dazu getan, das asketische Priestergewand mit der leichten Konventionstracht der Zeitungen zu vertauschen. Allein die Philosophen wachsen nicht wie Pilze aus der Erde, sie sind die Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste, kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren. Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht außer der Welt, so wenig das Gehirn außer dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füßen sich auf den Boden stellt, während manche andere menschliche Sphären längst mit den Füßen in der Erde wurzeln und mit den Händen die Früchte der Welt abpflücken, ehe sie ahnen, daß auch der »Kopf« von dieser Welt oder diese Welt die Welt des Kopfes sei.

Weil jede wahre Philosophie die geistige Quintessenz ihrer Zeit ist, muß die Zeit kommen, wo die Philosophie nicht nur innerlich durch ihren Gehalt, sondern auch äußerlich durch ihre Erscheinung mit der wirklichen Welt ihrer Zeit in Berührung und Wechselwirkung tritt. Die Philosophie hört |98| dann auf, ein bestimmtes System gegen andere bestimmte Systeme zu sein, sie wird die Philosophie überhaupt gegen die Welt, sie wird die Philosophie der gegenwärtigen Welt. Die Formalien, welche konstatieren, daß die Philosophie diese Bedeutung erreicht, daß sie die lebendige Seele der Kultur, daß die Philosophie weltlich und die Welt philosophisch wird, waren in allen Zeiten dieselben; man kann jedes Historienbuch nachschlagen, und man wird mit stereotyper Treue die einfachsten Ritualien wiederholt finden, welche ihre Einführung in die Salons und in die Pfarrerstuben, in die Redaktionszimmer der Zeitungen und in die Antichambres der Höfe, in den Haß und in die Liebe der Zeitgenossen unverkennbar bezeichnen. Die Philosophie wird in die Welt eingeführt von dem Geschrei ihrer Feinde, welche die innere Ansteckung durch den wilden Notruf gegen die Feuersbrunst der Ideen verraten. Dieses Geschrei ihrer Feinde hat für die Philosophie dieselbe Bedeutung, welche der erste Schrei eines Kindes für das ängstlich lauschende Ohr der Mutter hat, es ist der Lebensschrei ihrer Ideen, welche die hieroglyphische regelrechte Hülse des Systems gesprengt und sich in Weltbürger entpuppt haben. Die Korybanten und Kabyren, welche mit lautem Lärm der Welt die Geburt des Zeuskindes eintrommeln, wenden sich zunächst gegen die religiöse Partie der Philosophen, teils weil der inquisitorische Instinkt an dieser sentimentalen Seite des Publikums am sichersten zu halten weiß, teils weil das Publikum, zu welchem auch die Gegner der Philosophie gehören, nur mit seinen idealen Fühlhörnern die ideale Sphäre der Philosophie tangieren kann, und der einzige Kreis der Ideen, an dessen Wert das Publikum beinahe soviel glaubt wie an die Systeme der materiellen Bedürfnisse, ist der Kreis der religiösen Ideen, endlich weil die Religion nicht gegen ein bestimmtes System der Philosophie, sondern gegen die Philosophie überhaupt der bestimmten Systeme polemisiert.

Die wahre Philosophie der Gegenwart unterscheidet sich nicht durch dieses Schicksal von den wahren Philosophien der Vergangenheit. Dies Schicksal ist vielmehr ein Beweis, den die Geschichte ihrer Wahrheit schuldig war.

Und seit sechs Jahren haben die deutschen Zeitungen gegen die religiöse Partie der Philosophie getrommelt, verleumdet, entstellt, verballhornt. Die Allgemeine Augsburger sang die Bravourarien fast jede Ouvertüre spielte das Thema, die Philosophie verdiene nicht, von der weisen Dame besprochen zu werden, sie sei eine Windbeutelei der Jugend, ein Modeartikel blasierter Koterien, aber, aber trotz all dem konnte man nicht von ihr los, und immer von neuem wurde getrommelt, denn die Augsburger spielt nur ein Instrument in ihren antiphilosophischen Katzenkonzerten, die eintönige |99| Pauke. Alle deutschen Blätter, von dem »Berliner politischen Wochenblatt« und dem »Hamburger Correspondenten« bis zu den Winkelzeitungen, bis zur »Kölnischen Zeitung« herab, ballten wider von Hegel und Schelling, Feuerbach und Bauer, »Deutschen Jahrbüchern« etc. - Endlich wurde das Publikum begierig, den Leviathan selbst zu sehen, um so begieriger, als halboffizielle Artikel drohten, der Philosophie von den Kanzleistuben her ihr legitimes Schema vorschreiben zu wollen, und gerade das war der Moment, wo die Philosophie in Zeitungen auftrat. Die Philosophie hatte lange geschwiegen zu der selbstgefälligen Oberflächlichkeit, die in einigen abgestandenen Zeitungsphrasen die langjährigen Studien des Genies, die mühsamen Früchte einer aufopfernden Einsamkeit, die Resultate jener unsichtbaren, aber langsam aufreibenden Kämpfe der Kontemplation wie Seifenblasen wegzuhauchen prahlten; die Philosophie hatte sogar protestiert gegen die Zeitungen, als ein unpassendes Terrain, aber endlich mußte die Philosophie ihr Schweigen brechen, sie wurde Zeitungskorrespondent und - eine unerhörte Diversion - da auf einmal fällt es den redseligen Zeitungslieferanten ein, daß die Philosophie kein Futter für das Zeitungspublikum sei, da durften sie es nicht unterlassen, die Regierungen darauf aufmerksam zu machen, daß es nicht ehrlich sei, daß nicht zur Aufklärung des Publikums, sondern zur Erreichung äußerer Zwecke philosophische und religiöse Fragen in das Gebiet der Zeitungen gezogen werden.

Was könnte die Philosophie von der Religion, was von sich selbst Schlimmeres sagen, was euer Zeitungsgeschrei nicht schon längst schlimmer und frivoler ihr imputiert hätte? Sie braucht nur zu wiederholen, was ihr unphilosophische Kapuziner in tausend und abermal tausend Kontroversreden von ihr gepredigt, und sie hat das Schlimmste gesagt.

Aber die Philosophie spricht anders über religiöse und philosophische Gegenstände, wie ihr darüber gesprochen habt. Ihr sprecht ohne Studium, sie spricht mit Studium, ihr wendet euch an den Affekt, sie wendet sich an den Verstand, ihr flucht, sie lehrt, ihr versprechet Himmel und Welt, sie verspricht nichts als Wahrheit, ihr fordert den Glauben an euren Glauben, sie fordert nicht den Glauben an ihre Resultate, sie fordert die Prüfung des Zweifels; ihr schreckt, sie beruhigt. Und wahrlich, die Philosophie ist weltklug genug, zu wissen, daß ihre Resultate nicht schmeicheln, weder der Genußsucht und dem Egoismus der himmlischen noch der irdischen Welt; das Publikum, das aber die Wahrheit, die Erkenntnis ihrer selbst wegen liebt, dessen Urteilskraft und Sittlichkeit wird sich wohl mit der Urteilskraft und Sittlichkeit unwissender, serviler, inkonsequenter und besoldeter Skribenten messen können. |100| Allerdings mag dieser oder jener aus Miserabilität des Verstandes und der Gesinnung die Philosophie mißdeuten aber glaubt ihr Protestanten nicht, daß die Katholiken das Christentum mißdeuten, werft ihr nicht der christlichen Religion die schmählichen Zeiten des achten und neunten Jahrhunderts vor oder die Bartholomäusnacht oder die Inquisition? Daß zum großen Teil der Haß der protestantischen Theologie gegen die Philosophen aus der Toleranz der Philosophie gegen die besondere Konfession als besondere entspringt, zeigen evidente Beweise. Man hat dem Feuerbach, dem Strauß mehr vorgeworfen, daß sie die katholischen Dogmen für christliche hielten, als daß sie die Dogmen des Christentums für keine Dogmen der Vernunft erklärten.

Wenn aber einzelne Individuen die moderne Philosophie nicht verdauen und an philosophischer Indigestion sterben, so beweist das nicht mehr gegen die Philosophie, als es gegen die Mechanik beweist, wenn hie und da ein Dampfkessel einzelne Passagiere in die Luft sprengt.

Die Frage, ob philosophische und religiöse Anliegenheiten in den Zeitungen zu besprechen, löst sich in ihre eigene Ideenlosigkeit auf.

Wenn solche Fragen schon als Zeitungsfragen das Publikum interessieren, sind sie Fragen der Zeit geworden, dann fragt es sich nicht, ob sie besprochen, dann fragt es sich, wo und wie sie besprochen werden sollen, ob im Innern der Familien und der Hotels, der Schulen und der Kirche, aber nicht von der Presse, von den Gegnern der Philosophie, aber nicht von den Philosophen, ob in der trüben Sprache der Privatmeinung, aber nicht in der läuternden Sprache des öffentlichen Verstandes, dann fragt es sich, ob in das Bereich der Presse gehört, was in der Wirklichkeit lebt, dann handelt es sich nicht mehr von einem besondern Inhalt der Presse, dann handelt es sich um die allgemeine Frage, ob die Presse wirkliche Presse, d.h. freie Presse sein soll?

Die zweite Frage scheiden wir gänzlich von der ersten: »Ist die Politik philosophisch von den Zeitungen zu behandeln in einem sogenannten christlichen Staat?«

Wenn die Religion zu einer politischen Qualität wird, zu einem Gegenstand der Politik, so scheint fast keiner Erwähnung zu bedürfen, daß die Zeitungen politische Gegenstände nicht nur besprechen dürfen, sondern auch müssen. Es scheint von vornherein die Weisheit der Welt, die Philosophie, mehr Recht zu haben, sich um das Reich dieser Welt, um den Staat zu bekümmern, als die Weisheit jener Welt, die Religion. Es fragt sich hier nicht, ob über den Staat philosophiert, es fragt sich, ob gut oder schlecht, philosophisch oder unphilosophisch, ob mit Vorurteilen oder ohne Vorurteile, ob mit Bewußtsein oder ohne Bewußtsein, ob mit Konsequenz oder ohne Konsequenz, ob ganz rational oder halb rational über den Staat philosophiert |101| werden soll. Wenn ihr die Religion zur Theorie des Staatsrechts macht, so macht ihr die Religion selbst zu einer Art Philosophie.

Hat nicht vor allem das Christentum Staat und Kirche gesondert?

Leset den heiligen Augustinus »De civitate Dei«, studiert die Kirchenväter und den Geist des Christentums, und dann kommt wieder und sagt uns, ob der Staat oder die Kirche der »christliche Staat« ist! Oder straft nicht jeder Augenblick eures praktischen Lebens eure Theorie Lügen? Haltet ihr es für Unrecht, die Gerichte in Anspruch zu nehmen, wenn ihr übervorteilt werdet? Aber der Apostel schreibt, daß es Unrecht sei. Haltet ihr euren rechten Backen dar, wenn man euch auf den linken schlägt, oder macht ihr nicht einen Prozeß wegen Realinjurien anhängig? Aber das Evangelium verbietet es. Verlangt ihr vernünftiges Recht auf dieser Welt, murrt ihr nicht über die kleinste Erhöhung einer Abgabe, geratet ihr nicht außer euch über die geringste Verletzung der persönlichen Freiheit? Aber es ist euch gesagt, daß dieser Zeit Leiden der künftigen Herrlichkeit nicht wert sei, daß die Passivität des Ertragens und die Seligkeit in der Hoffnung die Kardinaltugenden sind.

Handelt der größte Teil eurer Prozesse und der größte Teil der Zivilgesetze nicht vom Besitz? Aber es ist euch gesagt, daß eure Schätze nicht von dieser Welt sind. Oder beruft ihr euch darauf, das dem Kaiser zu geben, was des Kaisers, und Gott, was Gottes, so haltet nicht nur den goldenen Mammon, sondern wenigstens ebensosehr die freie Vernunft für den Kaiser dieser Welt, und die »Aktion der freien Vernunft« nennen wir Philosophieren.

Als in der Heiligen Allianz zuerst ein quasi religiöser Staatenbund geknüpft und die Religion europäisches Staatenwappen werden sollte, da weigerte sich mit tiefem Sinn und richtigster Konsequenz der Papst, diesem Heiligenbunde beizutreten, denn das allgemeine christliche Band der Völker sei die Kirche und nicht die Diplomatie, nicht der weltliche Staatenbund.

Der wahrhaft religiöse Staat ist der theokratische Staat; der Fürst solcher Staaten muß entweder, wie im jüdischen der Gott der Religion, der Jehova selbst sein oder, wie in Tibet der Stellvertreter des Gottes, der Dalai Lama oder endlich, wie Görres in seiner letzten Schrift richtig von den christlichen Staaten verlangt, sie müssen sich sämtlich einer Kirche unterwerfen, die eine »unfehlbare Kirche« ist, denn wenn wie im Protestantismus kein oberstes Haupt der Kirche existiert, so ist die Herrschaft der Religion nichts anderes als die Religion der Herrschaft, der Kultus des Regierungswillens.

Sobald ein Staat mehrere gleichberechtigte Konfessionen einschließt, kann er nicht mehr religiöser Staat sein, ohne eine Verletzung der besondern |102| Religionskonfessionen zu sein, eine Kirche, die jeden Anhänger einer andern Konfession als Ketzer verdammt, die jedes Stück Brot von dem Glauben abhängig, die das Dogma zum Band zwischen den einzelnen Individuen und der staatsbürgerlichen Existenz macht. Fragt die katholischen Bewohner des »armen, grünen Erin«, fragt die Hugenotten vor der Französischen Revolution, nicht an die Religion haben sie appelliert, denn ihre Religion war nicht die Staatsreligion, an die »Rechte der Menschheit« haben sie appelliert, und die Philosophie interpretiert die Rechte der Menschheit, sie verlangt, daß der Staat der Staat der menschlichen Natur sei.

Aber, sagt der halbe, der bornierte, der ebenso ungläubige als theologische Rationalismus, der allgemeine christliche Geist, abgesehen von dem Unterschiede der Konfessionen, soll Staatsgeist sein! Es ist die größte Irreligiosität, es ist der Übermut des weltlichen Verstandes, den allgemeinen Geist der Religion von der positiven Religion zu trennen; diese Trennung der Religion von ihren Dogmen und Institutionen ist dasselbe, als behauptete man, der allgemeine Geist des Rechts solle im Staat herrschen, abgesehen von den bestimmten Gesetzen und von den positiven Institutionen des Rechts.

Wenn ihr euch überhebt, so hoch über der Religion zu stehn, daß ihr berechtigt seid, den allgemeinen Geist derselben von ihren positiven Bestimmungen zu scheiden, was habt ihr den Philosophen vorzuwerfen, wenn sie diese Scheidung ganz und nicht halb vollziehen, wenn sie den allgemeinen Geist der Religion nicht christlichen, sondern menschlichen Geist nennen?

Die Christen wohnen in Staaten von verschiedenen Verfassungen, die einen in einer Republik, die andern in einer absoluten, die dritten in einer konstitutionellen Monarchie. Das Christentum entscheidet nicht über die Güte der Verfassungen, denn es kennt keinen Unterschied der Verfassungen, es lehrt, wie die Religion lehren muß: Seid untertan der Obrigkeit, denn jede Obrigkeit ist von Gott. Also nicht aus dem Christentum, aus der eigenen Natur, aus dem eigenen Wesen des Staates müßt ihr das Recht der Staatsverfassungen entscheiden, nicht aus der Natur der christlichen, sondern aus der Natur der menschlichen Gesellschaft.

Der byzantinische Staat war der eigentliche religiöse Staat, denn die Dogmen waren hier Staatsfragen, aber der byzantinische Staat war der schlechteste Staat. Die Staaten des ancien régime waren die allerchristlichsten Staaten, aber nichtsdestoweniger waren sie Staaten des »Hofwillens«.

Es gibt ein Dilemma, dem der »gesunde« Menschenverstand nicht widerstehen kann.

|103| Entweder entspricht der christliche Staat dem Begriff des Staates, eine Verwirklichung der vernünftigen Freiheit zu sein, und dann ist nichts erforderlich, als ein vernünftiger Staat zu sein, um ein christlicher Staat zu sein, dann genügt es, den Staat aus der Vernunft der menschlichen Verhältnisse zu entwickeln, ein Werk, was die Philosophie vollbringt. Oder der Staat der vernünftigen Freiheit läßt sich nicht aus dem Christentum entwickeln, dann werdet ihr selbst gestehen, daß diese Entwicklung nicht in der Tendenz des Christentums liegt, da es keinen schlechten Staat wolle, und ein Staat, der nicht die Verwirklichung der vernünftigen Freiheit ist, ist ein schlechter Staat.

Ihr mögt das Dilemma beantworten, wie ihr wollt, und werdet gestehen müssen, daß der Staat nicht aus der Religion, sondern aus der Vernunft der Freiheit zu konstruieren ist. Nur die krasseste Ignoranz kann die Behauptung stellen, diese Theorie, die Verselbständigung des Staatsbegriffs, sei ein Tageseinfall der neusten Philosophen.

Die Philosophie hat nichts in der Politik getan, was nicht die Physik, die Mathematik, die Medizin, jede Wissenschaft innerhalb ihrer Sphäre getan hat. Baco von Verulam erklärte die theologische Physik für eine gottgeweihte Jungfrau, die unfruchtbar sei, er emanzipierte die Physik von der Theologie und - sie wurde fruchtbar. So wenig ihr den Arzt fragt, ob er gläubig sei, so wenig habt ihr den Politiker zu fragen. Gleich vor und nach der Zeit der großen Entdeckung des Kopernikus vom wahren Sonnensystem wurde zugleich das Gravitationsgesetz des Staats entdeckt, man fand seine Schwere in ihm selbst, und wie die verschiedenen europäischen Regierungen dieses Resultat mit der ersten Oberflächlichkeit der Praxis in dem System des Staatengleichgewichts anzuwenden suchten, so begannen früher Machiavelli, Campanella, später Hobbes, Spinoza, Hugo Grotius, bis zu Rousseau, Fichte, Hegel herab, den Staat aus menschlichen Augen zu betrachten und seine Naturgesetze aus der Vernunft und der Erfahrung zu entwickeln, nicht aus der Theologie, so wenig als Kopernikus sich daran stieß, daß Josua der Sonne zu Gideon und dem Mond im Tale Ajalon stillezustehen geheißen. Die neueste Philosophie hat nur eine Arbeit weitergeführt, die schon Heraklit und Aristoteles begonnen haben. Ihr polemisiert also nicht gegen die Vernunft der neusten Philosophie, ihr polemisiert gegen die stets neue Philosophie der Vernunft. Allerdings, die Unwissenheit, die vielleicht gestern oder vorgestern in der »Rheinischen« oder »Königsberger Zeitung« zum erstenmal die uralten Staatsideen auffand, diese Unwissenheit hält die Ideen der Geschichte für übernächtige Einfälle einzelner Individuen, weil sie ihr neu und über Nacht gekommen sind; sie vergißt, daß sie selbst die alte Rolle des Doktors|104|der Sorbonne übernimmt, der den Montesquieu öffentlich anzuklagen für seine Pflicht hielt, weil Montesquieu so frivol war, die politische statt der Tugend der Kirche für die höchste Staatsqualität zu erklären; sie vergißt, daß sie die Rolle des Joachim Lange übernimmt, der den Wolff denunzierte, weil seine Lehre von der Prädestination die Desertion der Soldaten und damit die Lockerung der militärischen Disziplin und endlich die Auflösung des Staats herbeiführen werde; sie vergißt endlich, daß das preußische Landrecht aus der Philosophenschule eben »dieses Wolfes« und der französische Code Napoleon nicht aus dem alten Testament, sondern aus der Ideenschule der Voltaire, Rousseau, Condorcet, Mirabeau, Montesquieu und aus der Französischen Revolution hervorgegangen ist. Die Unwissenheit ist ein Dämon, wir fürchten, sie wird noch manche Trauerspiele aufführen; mit Recht haben die größten griechischen Dichter sie in den furchtbaren Dramen der Königshäuser von Mykene und Theben als das tragische Geschick dargestellt

Wenn aber die früheren philosophischen Staatsrechtslehrer aus den Trieben, sei es des Ehrgeizes, sei es der Geselligkeit, oder zwar aus der Vernunft, aber nicht aus der Vernunft der Gesellschaft, sondern aus der Vernunft des Individuums den Staat konstruierten: so die ideellere und gründlichere Ansicht der neuesten Philosophie aus der Idee des Ganzen. Sie betrachtet den Staat als den großen Organismus, in welchem die rechtliche, sittliche und politische Freiheit ihre Verwirklichung zu erhalten hat und der einzelne Staatsbürger in den Staatsgesetzen nur den Naturgesetzen seiner eignen Vernunft, der menschlichen Vernunft gehorcht. Sapienti sat |Dem Eingeweihten genügt das|.

Zum Schlusse wenden wir uns noch einmal mit einem philosophischen Abschiedsworte an die »Kölnische Zeitung«. Es war vernünftig von ihr, einen Liberalen »von ehedem« sich anzueignen. Man kann auf die bequemste Art liberal und reaktionär zugleich sein, wenn man nur stets so geschickt ist, sich an die Liberalen der jüngsten Vergangenheit zu adressieren, die kein anderes Dilemma kennen als das des Vidocq »Gefangener oder Gefangenenwärter«. Es war noch vernünftiger, daß der Liberale der jüngsten Vergangenheit die Liberalen der Gegenwart bekämpfte. Ohne Parteien keine Entwicklung, ohne Scheidung kein Fortschritt. Wir hoffen, daß mit dem leitenden Artikel in Nr. 179 für die »Kölnische Zeitung« eine neue Ära begonnen hat, die Ära des Charakters.


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