MLWerke | 1842 | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1962. S. 148-151.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Karl Marx

Der Ehescheidungsgesetzentwurf


[»Rheinische Zeitung« Nr. 353 vom 19. Dezember 1842]

|148| ** Köln, 18. Dezember. Die »Rheinische Zeitung« hat in bezug auf den Ehescheidungsgesetzentwurf eine gänzlich isolierte Stellung eingenommen, deren Unhaltbarkeit ihr bis jetzt von keiner Seite nachgewiesen worden ist. Die »Rheinische Zeitung« stimmt mit dem Entwurfe überein, soweit sie die bisherige preußische Ehegesetzgebung für unsittlich, die bisherige Unzahl und Frivolität der Scheidungsgründe für unzulässig, die bisherige Prozedur nicht der Würde des Gegenstandes angemessen findet, was übrigens von dem ganzen altpreußischen Gerichtsverfahren gelte. Dagegen machte die »Rheinische Zeitung« gegen den neuen Entwurf folgende Haupteinwendungen: 1. Daß an die Stelle einer Reform eine bloße Revision getreten, also das preußische Landrecht als Fundamentalgesetz beibehalten worden, wodurch eine große Halbheit und Unsicherheit entstanden sei; 2. daß die Ehe nicht als sittliche, sondern als religiöse und kirchliche Institution von der Gesetzgebung behandelt, also das weltliche Wesen der Ehe verkannt worden sei; 3. daß die Prozedur sehr mangelhaft und eine äußerliche Komposition widersprechender Elemente sei; 4. daß einerseits polizeiliche, dem Begriff der Ehe widersprechende Härten, andererseits eine zu große Nachgiebigkeit gegen die sogenannten Billigkeitsgründe nicht zu verkennen seien; 5. daß die ganze Fassung des Entwurfes an logischer Konsequenz, Präzision, Klarheit und durchgreifenden Gesichtspunkten viel zu wünschen übriglasse.

Soweit die Gegner des Entwurfes einen dieser Mängel rügen, stimmen wir daher mit ihnen überein, können dagegen ihre unbedingte Apologie des früheren Systems keineswegs billigen. Wir wiederholen noch einmal unsern früher ausgesprochenen Satz: »Wenn die Gesetzgebung die Sittlichkeit nicht verordnen, so kann sie noch weniger die Unsittlichkeit als zu Recht gültig anerkennen.« Fragen wir, worauf das Räsonnement dieser Gegner (die nicht Gegner der kirchlichen Auffassung und der andern angegebenen Mängel |149| sind) fußt, so sprechen sie uns beständig von dem Unglücke der wider ihren Willen gebundenen Ehegatten. Sie stellen sich auf einen eudämonistischen Standpunkt, sie denken nur an die zwei Individuen, sie vergessen die Familie, sie vergessen, daß beinahe jede Ehescheidung eine Familienscheidung ist und, selbst rein juristisch betrachtet, die Kinder und ihr Vermögen nicht von dem willkürlichen Belieben und seinen Einfällen abhängig gemacht werden können. Wäre die Ehe nicht die Basis der Familie, so wäre sie ebensowenig Gegenstand der Gesetzgebung, als es etwa die Freundschaft ist. Jene berücksichtigen also den individuellen Willen oder richtiger die Willkür der Ehegatten, aber berücksichtigen nicht den Willen der Ehe, die sittliche Substanz dieses Verhältnisses. Der Gesetzgeber aber hat sich wie ein Naturforscher zu betrachten. Er macht die Gesetze nicht, er erfindet sie nicht, er formuliert sie nur, er spricht die innern Gesetze geistiger Verhältnisse in bewußten positiven Gesetzen aus. Wie man es nun als die maßloseste Willkür dem Gesetzgeber vorwerfen müßte, sobald er an die Stelle des Wesens der Sache seine Einfälle treten ließe, so hat doch wohl der Gesetzgeber nicht minder das Recht, es als die maßloseste Willkür zu betrachten, wenn Privatpersonen ihre Kapricen gegen das Wesen der Sache durchsetzen wollen. Niemand wird gezwungen, eine Ehe zu schließen; aber jeder muß gezwungen werden, sobald er eine Ehe schließt, sich zum Gehorsam gegen die Gesetze der Ehe zu entschließen. Wer eine Ehe schließt, der macht, der erfindet die Ehe nicht, so wenig als ein Schwimmer die Natur und die Gesetze des Wassers und der Schwere erfindet. Die Ehe kann sich daher nicht seiner Willkür, sondern seine Willkür muß sich der Ehe fügen. Wer willkürlich die Ehe bricht, der behauptet: die Willkür, das Gesetzlose ist das Gesetz der Ehe, denn kein Vernünftiger wird die Anmaßung besitzen, seine Handlungen für privilegierte Handlungen, für Handlungen zu halten, die ihm allein zustehen, wird sie vielmehr für gesetzmäßige, allen zustehende Handlungen ausgeben. Wogegen opponiert ihr aber? Gegen Gesetzgebungen der Willkür, aber ihr werdet doch nicht in demselben Momente die Willkür zum Gesetze machen wollen, wo ihr den Gesetzgeber der Willkür anklagt.

Hegel sagt: An sich, dem Begriffe nach, sei die Ehe untrennbar, aber nur an sich, d.h. nur ihrem Begriffe nach. Es ist damit nichts Eigentümliches über die Ehe gesagt. Alle sittlichen Verhältnisse sind ihrem Begriffe nach unauflöslich, wie man sich leicht überzeugen kann, wenn man ihre Wahrheit voraussetzt. Ein wahrer Staat, eine wahre Ehe, eine wahre Freundschaft sind unauflöslich, aber kein Staat, keine Ehe, keine Freundschaft entsprechen durchaus ihrem Begriffe, und wie die wirkliche Freundschaft sogar in der Familie, wie der wirkliche Staat in der Weltgeschichte, so ist die wirkliche |150| Ehe im Staate auflösbar. Keine sittliche Existenz entspricht, oder muß wenigstens nicht ihrem Wesen entsprechen. Wie nun in der Natur von selbst die Auflösung und der Tod da erscheint, wo ein Dasein seiner Bestimmung durchaus nicht mehr entspricht, wie die Weltgeschichte entscheidet, ob ein Staat so sehr mit der Idee des Staates zerfallen ist, daß er nicht weiterzubestehen verdient, so entscheidet der Staat, unter welchen Bedingungen eine existierende Ehe aufgehört hat, eine Ehe zu sein. Die Ehescheidung ist nichts als die Erklärung: diese Ehe ist eine gestorbene Ehe, deren Existenz nur Schein und Trug ist. Es versteht sich von selbst, daß weder die Willkür des Gesetzgebers noch die Willkür der Privatpersonen, sondern nur das Wesen der Sache entscheiden kann, ob eine Ehe gestorben ist oder nicht, denn eine Todeserklärung hängt bekanntermaßen vom Tatbestand und nicht von den Wünschen der beteiligten Parteien ab. Wenn ihr aber bei dem physischen Tod prägnante unverkennbare Beweise verlangt, sollte nicht der Gesetzgeber nur nach den untrüglichsten Symptomen einen sittlichen Tod konstatieren dürfen, da das Leben der sittlichen Verhältnisse zu konservieren nicht nur sein Recht, sondern auch seine Pflicht, die Pflicht seiner Selbsterhaltung ist!

Die Sicherheit, daß die Bedingungen, unter denen die Existenz eines sittlichen Verhältnisses seinem Wesen nicht mehr entspricht, treu, dem Stande der Wissenschaft und der allgemeinen Einsicht angemessen, ohne vorgefaßte Meinungen konstatiert werden, wird allerdings nur dann vorhanden sein, wenn das Gesetz der bewußte Ausdruck des Volkswillens, also mit ihm und durch ihn geschaffen ist. Über die Erleichterung oder Erschwerung der Ehescheidung fügen wir noch ein Wort hinzu: Haltet ihr einen Naturkörper für gesund, für fest, für wahrhaft organisiert, wenn jeder äußere Anstoß, jede Verletzung ihn aufheben wird? Würdet ihr euch nicht für beleidigt halten, wenn man als Axiom aufstellte, eure Freundschaft könne den kleinsten Zufällen nicht widerstehen und müsse vor jeder Grille sich auflösen? Der Gesetzgeber kann aber hinsichtlich der Ehe nur bestimmen, wann sie aufgelöst werden darf, also ihrem Wesen nach aufgelöst ist. Die richterliche Auflösung kann nur eine Protokollierung der inneren Auflösung sein. Der Gesichtspunkt des Gesetzgebers ist der Gesichtspunkt der Notwendigkeit. Der Gesetzgeber ehrt also die Ehe, erkennt ihr tiefes sittliches Wesen an, wenn er sie für mächtig genug hält, viele Kollisionen bestehen zu können, ohne sich selber einzubüßen. Die Weichheit gegen die Wünsche der Individuen würde in eine Härte gegen das Wesen der Individuen, gegen ihre sittliche Vernunft, die sich in sittlichen Verhältnissen verkörpert, umschlagen.

Schließlich können wir es nur eine Übereilung nennen, wenn die Länder der strengen Ehescheidung, zu denen das Rheinland stolz ist sich zu zählen, von |151| manchen Seiten der Heuchelei beschuldigt werden. Nur ein Gesichtskreis, der über die ihn umgebende Sittenverderbnis nicht hinausreicht, kann dergleichen Anschuldigungen wagen, die man z.B. in der Rheinprovinz lächerlich findet und höchstens als einen Beweis hinnimmt, wie selbst die Vorstellung sittlicher Verhältnisse verlorengehen und jede sittliche Tatsache als ein Märchen und eine Lüge verstanden werden kann; was die unmittelbare Konsequenz solcher Gesetze ist, welche nicht die Hochachtung vor dem Menschen diktiert hat, ein Fehler, der dadurch nicht aufgehoben wird, daß man von der materiellen Verachtung zu der ideellen Verachtung übergeht und statt der bewußten Unterwerfung unter sittlich-natürliche Mächte einen bewußtlosen Gehorsam gegen eine übersittliche und übernatürliche Autorität verlangt.


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