MLWerke | 1843 | Marx/Engels

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/ Friedrich Engels - Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 1. Berlin/DDR. 1976. S. 468-479.
1,5. Korrektur
Erstellt am 30.08.1999

Friedrich Engels

Briefe aus London

I - II - III - IV


[»Schweizerischer Republikaner« Nr. 39 vom 16. Mai 1843]

I

|468| Die demokratische Partei in England macht reißende Fortschritte. Während Whiggismus und Toryismus, Geldaristokratie und Adelsaristokratie in der Nationalplauderstube«, wie der Tory Thomas Carlyle, oder in dem »Hause, das sich anmaßt, die Gemeinden von England vertreten zu wollen«, wie der Chartist Feargus O'Connor sagt, einen langweiligen Zungenstreit um des Kaisers Bart führen, während die Staatskirche allen ihren Einfluß auf die bigotten Neigungen der Nation aufbietet, um ihr verrottetes Gebäude noch etwas aufrechtzuerhalten, während die Anti-Korngesetz-Ligue Hunderttausende wegwirft, in der wahnsinnigen Hoffnung, dafür Millionen in die Taschen der baumwollspinnenden Lords strömen zu sehen - währenddes schreitet der verachtete und verspottete Sozialismus ruhig und sicher voran und drängt sich allmählich der öffentlichen Meinung auf, währenddes hat sich in ein paar Jahren eine neue, unzählbare Partei unter der Fahne der Volks-Charte gebildet und eine so energische Art der Agitation angenommen, daß O'Connell und die Ligue dagegen Stümper und Pfuscher sind. Es ist bekannt, daß in England die Parteien mit den sozialen Stufen und Klassen identisch sind; daß die Tories identisch mit dem Adel und der bigotten, streng orthodoxen Fraktion der Hochkirche sind, daß die Whigs aus den Fabrikanten, Kaufleuten und Dissenters, im ganzen aus der höhern Mittelklasse bestehen, daß die niedere Mittelklasse die sogenannten »Radikalen« ausmacht, und endlich der Chartismus seine Stärke in den working men, den Proletariern, hat. Der Sozialismus bildet keine geschlossene politische Partei, rekrutiert sich aber im ganzen aus der niedern Mittelklasse und den Proletariern. So zeigt England das merkwürdige Faktum, daß, je tiefer eine Klasse in der Gesellschaft steht, je »ungebildeter« sie im gewöhnlichen Sinne des Wortes ist, desto näher steht sie dem Fortschritt, desto mehr Zukunft hat sie. Im ganzen ist dies der Charakter jeder revolutionären Epoche, |469| wie dies namentlich bei der religiösen Revolution, deren Produkt das Christentum war, sich zeigte: »selig sind die Armen«, »die Weisheit dieser Welt ist zur Torheit geworden« usw. Aber so deutlich ausgeprägt, so scharf abgestuft wie jetzt in England, erschien dies Vorzeichen einer großen Umwälzung wohl noch nie. In Deutschland geht die Bewegung von der nicht nur gebildeten, sondern sogar gelehrten Klasse aus; in England sind die Gebildeten und vollends die Gelehrten seit dreihundert Jahren taub und blind gegen die Zeichen der Zeit. Der elende Schlendrian der englischen Universitäten, gegen den unsere deutschen Hochschulen noch golden sind, ist weltbekannt; aber welcher Art die Werke der ersten englischen Theologen und selbst eines Teils der ersten englischen Naturforscher sind, was für erbärmlich reaktionäre Schriften die Masse der wöchentlichen »Liste neuer Bücher« ausmachen, das läßt man sich auf dem Kontinent nicht träumen. England ist das Vaterland der Nationalökonomie; aber wie steht die Wissenschaft unter den Professoren und praktischen Politikern? Die Handelsfreiheit Adam Smiths ist in die wahnsinnige Konsequenz der Malthusschen Bevölkerungstheorie hineingetrieben worden und hat nichts produziert als eine neue zivilisiertere Gestalt des alten Monopolsystems, die in den heutigen Tories ihre Vertreter findet und die den Malthusschen Unsinn mit Erfolg bekämpft hat - aber zuletzt doch wieder auf Malthussche Konsequenzen getrieben wird. Inkonsequenz und Heuchelei auf allen Seiten, während die schlagenden ökonomischen Traktate der Sozialisten und zum Teil auch der Chartisten mit Verachtung beiseite gelegt werden und nur unter den niedern Ständen Leser finden. Strauß' »Leben Jesu« wurde ins Englische übersetzt. Kein »respektabler« Buchhändler wollte es drucken; endlich erschien es heftweise, 3 Pence das Heft, und zwar im Verlage eines ganz untergeordneten, aber energischen Antiquars. So ging es mit Übersetzungen von Rousseau, Voltaire, Holbach usw. Byron und Shelley werden fast nur von den untern Ständen gelesen; des letztem Werk dürfte kein »respektabler« Mann auf seinem Tische liegen haben, ohne in den schrecklichsten Verruf zu kommen. Es bleibt dabei: selig sind die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich, und wie lange wird's dauern - auch das Reich dieser Welt.

Dem Parlament liegt jetzt Sir F. Grahams Bill über die Erziehung der in den Fabriken arbeitenden Kinder vor, wonach die Arbeitszeit derselben beschränkt, der Schulzwang eingeführt und die Hochkirche mit der Aufsicht über die Schulen beschenkt werden soll. Diese Bill hat natürlich allgemeine Bewegung hervorgerufen und den Parteien wieder Gelegenheit gegeben, ihre Stärke zu messen. Die Whigs wollen die Bill ganz verworfen haben, weil sie die Dissenters von der Jugenderziehung verdrängt und den Fabrikanten |470| durch die Beschränkung der Arbeitszeit der Kinder Verlegenheiten bereitet. Unter den Chartisten und Sozialisten gibt sich dagegen eine bedeutende Zustimmung zu der allgemeinen, humanen Tendenz der Bill, mit Ausnahme der auf die Hochkirche bezüglichen Klauseln, kund. Lancashire, der Hauptsitz der Fabriken, ist natürlich auch der Hauptsitz der auf obige Bill bezüglichen Agitationen. Die Tories sind hier in den Städten durchaus machtlos; ihre desfallsigen Meetings waren auch nicht öffentlich. Die Dissenters versammelten sich erst in Korporationen, um gegen die Bill zu petitionieren, und ließen dann im Verein mit den liberalen Fabrikanten Stadtmeetings berufen. Ein solches Stadtmeeting wird vom obersten städtischen Beamten berufen, ist ganz öffentlich, und jeder Einwohner hat das Recht, zu sprechen. Hier also kann, wenn der Versammlungssaal groß genug ist, nur die stärkste und energischste Partei siegen. Und in allen bis jetzt berufenen Stadtmeetings haben die Chartisten und Sozialisten gesiegt. Das erste war in Stockport, wo die Resolutionen der Whigs nur eine Stimme, die der Chartisten das ganze Meeting für sich hatten, und so der whiggische Mayor von Stockport als Präsident des Meetings genötigt war, eine chartistische Petition zu unterschreiben und an ein chartistisches Parlamentsmitglied (Duncombe) zur Überreichung einzusenden. Das zweite war in Salford, einer Art Vorstadt von Manchester mit etwa 100.000 Einwohnern; ich war dort. Die Whigs hatten alle Vorkehrungen getroffen, um sich den Sieg zu verschaffen; der Boroughreeve nahm den Präsidentenstuhl ein und sprach viel von Unparteilichkeit; als aber ein Chartist fragte, ob Diskussion erlaubt sei, erhielt er zur Antwort: ja, wenn das Meeting vorüber sei! Die erste Resolution sollte durchgeschmuggelt werden, aber die Chartisten waren auf ihrer Hut und vereitelten es. Als ein Chartist die Plattform bestieg, kam ein dissentierender Geistlicher und wollte ihn herunterwerfen! Alles ging indes noch gut, bis zuletzt, als eine Petition im Sinne der Whigs vorgeschlagen wurde. Da trat ein Chartist auf und schlug ein Amendement vor; alsbald stand der Präsident und sein ganzer Whigschweif auf und verließ den Saal. Das Meeting wurde nichtsdestoweniger fortgesetzt und die chartistische Petition zur Abstimmung gebracht; aber gerade im rechten Augenblick machten die Polizeibeamten, die sich schon mehrere Male zugunsten der Whigs ins Mittel gelegt hatten, die Lichter aus und zwangen das Meeting, sich zu trennen. Nichtsdestoweniger ließen die Whigs in der nächsten Lokalzeitung ihre sämtlichen Resolutionen als durchgegangen einrücken und der Boroughreeve war ehrlos genug, seinen Namen »in Vertretung und auf Befehl des Meetings« zu unterzeichnen! Das ist Whigrechtlichkeit! Das dritte Meeting war zwei Tage später in Manchester, und hier trugen die radikalen Parteien gleichfalls den glänzendsten Sieg davon. Obwohl die |471| Stunde so gewählt war, daß die meisten Fabrikarbeiter nicht anwesend sein konnten, war doch eine bedeutende Majorität von Chartisten und Sozialisten im Saal. Die Whigs beschränkten sich rein auf die Punkte, welche ihnen mit den Chartisten gemeinsam waren; ein Sozialist und ein Chartist sprachen von der Plattform und gaben den Whigs das Zeugnis, daß sie sich heute als gute Chartisten aufgeführt hätten. Der Sozialist sagte ihnen geradezu, daß er hergekommen sei, um Opposition zu machen, wenn er die geringste Gelegenheit finde, aber es sei alles nach seinen Wünschen gegangen. So ist es also dahin gekommen, daß Lancashire, und namentlich Manchester, der Sitz des Whiggismus, der Zentralpunkt der Anti-Korngesetz-Ligue, eine glänzende Majorität zugunsten der radikalen Demokratie aufzuweisen hat, und die Macht der »Liberalen« dadurch komplett im Schach gehalten wird.

[»Schweizerischer Republikaner« Nr. 41 vom 23. Mai 1843]

II

Die Augsburger »Allgemeine Zeitung« hat einen liberalen Korrespondenten (*) in London, der den Whigumtrieben in entsetzlich langen und langweiligen Artikeln das Wort redet. »Die Anti-Korngesetz-Ligue ist jetzt die Macht des Landes«, sagt dies Orakel und spricht damit die größte Lüge aus, die je von einem Parteikorrespondenten gesagt ist. Die Ligue die Macht des Landes! Wo steckt diese Macht? Im Ministerium? Da sitzen ja Peel und Graham und Gladstone, die ärgsten Feinde der Ligue. Im Parlament? Da wird jeder ihrer Anträge mit einer Majorität verworfen, die ihresgleichen in den englischen Parlamentsannalen selten hat. Wo steckt diese Macht? Im Publikum, in der Nation? Die Frage kann nur so ein gedankenloser, flatterhafter Korrespondent bejahen, dem Drury-Lane das Publikum und eine zusammengetrompetete Versammlung die öffentliche Meinung ist. Wenn dieser weise Korrespondent schon so blind ist, daß er am hellen Tage nicht sehen kann, wie dies das Erbteil der Whigs ist, so will ich ihm sagen, wie es mit der Macht der Ligue steht. Von den Tories ist sie aus dem Ministerium und aus dem Parlament, von den Chartisten aus der öffentlichen Meinung gejagt worden. Feargus O'Connor hat sie in allen Städten Englands im Triumph vor sich hergetrieben, hat sie überall zu einer öffentlichen Diskussion aufgefordert, und die Ligue hat den Handschuh nie aufgenommen. Die Ligue kann kein einziges öffentliches Meeting berufen, ohne aufs schmählichste von den Chartisten geschlagen zu werden. Oder weiß der Augsburger Korrespondent nicht, daß die pomphaften Meetings in Manchester im Januar und jetzt die Zusammenkünfte im Londoner Drury-Lane-Theater, wo sich |472| die liberalen Gentlemen gegenseitig etwas vorlügen und sich über ihre innere Haltlosigkeit zu täuschen suchen - daß das alles »übertünchte Gräber« sind? Wer wird zu diesen Versammlungen zugelassen? Nur die Mitglieder der Ligue oder solche, denen die Ligue Billetts erteilt. Da kann also keine Gegenpartei die Chance einer erfolgreichen Opposition haben, und deshalb bewirbt sich auch keiner um Billetts; wenn auch noch soviel List angewandt würde, so könnte sie doch keine hundert ihrer Anhänger hineinschmuggeln. Solche Meetings, die dann nachher »öffentliche« genannt werden, hält die Ligue schon seit Jahren und gratuliert sich darin selbst über ihre »Fortschritte«. Es steht der Ligue dann auch sehr wohl an, in diesen »öffentlichen« Billettversammlungen über das »Gespenst des Chartismus« zu schimpfen, besonders da sie weiß, daß O'Connor, Duncombe, Cooper usw. diese Angriffe in wirklich öffentlichen Meetings redlich erwidern. Die Chartisten haben bis jetzt noch jedes öffentliche Meeting der Ligue mit glänzender Majorität gesprengt, aber die Ligue hat noch nie ein chartistisches Meeting beunruhigen können. Daher der Haß der Ligue gegen die Chartisten, daher das Geschrei über »Störung« eines Meetings durch Chartisten - d.h. Auflehnung der Majorität gegen die Minorität, die von der Plattform aus jene zu ihren Zwecken zu benutzen sucht. Wo ist denn die Macht der Ligue? - In ihrer Einbildung und - in ihrem Geldbeutel. Die Ligue ist reich, sie hofft durch Abschaffung der Korngesetze eine gute Handelsperiode herbeizuzaubern und wirft daher mit der Wurst nach dem Schinken. Ihre Subskriptionen tragen bedeutende Massen Geld ein, und damit werden alle die pomphaften Versammlungen und der übrige Schein und Flitterstaat aufgebracht. Aber hinter all dem gleißenden Exterieur steckt gar nichts Reelles. Die »National-Charter-Association«, die Verbindung der Chartisten, ist an Mitgliederzahl stärker, und es wird sich bald zeigen, daß sie auch mehr Geldmittel aufbringen kann, obwohl sie nur aus armen Arbeitern besteht, während die Ligue alle reichen Fabrikanten und Kaufleute in ihren Reihen zählt. Und das aus dem Grunde, weil die chartistische Assoziation ihre Gelder zwar pfennigweise, aber von fast jedem ihrer Mitglieder erhält, während bei der Ligue zwar bedeutende Summen, aber nur von einzelnen beigetragen werden Die Chartisten können mit Leichtigkeit jede Woche eine Million Pence |Macht jährlich 1.787.500 fl. Rhein, was nach unsern festländischen Begriffen von »armen« Leuten kaum glaublich scheint. Die Red. [des »Schweiz. Republ.« ]| aufbringen - es fragt sich sehr, ob die Ligue das durchhalten könnte. Die Ligue hat eine Kontribution von 50.000 Pfund Sterling ausgeschrieben und etwa 70.000 erhalten; Feargus O'Connor wird nächstens für ein Projekt 125.000 Pfund Sterling und |473| vielleicht bald darauf wieder ebensoviel ausschreiben - er erhält sie, das ist gewiß - und was will dann die Ligue mit ihren »großen Fonds«?

Weshalb die Chartisten Opposition gegen die Ligue machen, darüber ein andermal. Jetzt nur noch die eine Bemerkung, daß die Anstrengungen und Arbeiten der Ligue eine gute Seite haben. Dies ist die Bewegung, die durch die Antikorngesetz-Agitation in eine bisher total stabile Klasse der Gesellschaft gebracht wird - in die ackerbauende Bevölkerung. Bisher hatte diese gar kein öffentliches Interesse; abhängig vom Grundbesitzer, der den Pachtkontrakt jedes Jahr kündigen kann, phlegmatisch, unwissend, schickten die Farmers jahraus, jahrein lauter Tories ins Parlament, 251 aus 658 Mitgliedern des Unterhauses - und dies war bisher die starke Basis der reaktionären Partei. Wenn ein einzelner Farmer sich gegen diese erbliche Stimmgebung auflehnen wollte, fand er keine Unterstützung bei seinesgleichen und konnte vom Grundbesitzer mit Leichtigkeit abgedankt werden. Jetzt indes gibt sich eine ziemliche Regsamkeit unter dieser Klasse der Bevölkerung kund, es existieren schon liberale Farmers, und es gibt Leute unter ihnen, welche einsehen, daß das Interesse des Grundbesitzers und das des Pächters in sehr vielen Fällen sich gerade entgegenstehen. Vor drei Jahren hätte namentlich im eigentlichen England kein Mensch einem Pächter das sagen dürfen, ohne entweder ausgelacht oder gar geprügelt zu werden. Unter dieser Klasse wird die Arbeit der Ligue Früchte tragen, aber ganz gewiß andere als sie erwartet; denn wenn es wahrscheinlich ist, daß die Masse der Pächter den Whigs allmählich zugeht, so ist es noch viel wahrscheinlicher, daß die Masse der ackerbauenden Taglöhner auf die Seite der Chartisten geworfen wird. Eins ohne das andere ist unmöglich, und so wird die Ligue auch hier nur einen schwachen Ersatz bekommen für den entschiedenen und totalen Abfall der arbeitenden Klasse, den sie in den Städten und Fabrikbezirken seit fünf Jahren durch den Chartismus erlitten hat. Das Reich des juste-milieus ist vorüber, und »die Macht des Landes« hat sich auf die Extreme verteilt. Ich aber frage nach diesen unleugbaren Tatsachen den Herrn Korrespondenten der »Allgemeinen Zeitung« von Augsburg, wo »die Macht der Ligue« steckt?

[»Schweizerischer Republikaner« Nr. 46 vom 9. Juni 1843]

III

Die englischen Sozialisten sind weit grundsätzlicher und praktischer als die französischen, was besonders davon herrührt, daß sie in offenem Kampfe mit den verschiedenen Kirchen sind und von der Religion nichts wissen wollen. In den größern Städten nämlich halten sie gewöhnlich eine Hall (Versammlungshaus |474|*), wo sie alle Sonntage Reden anhören, häufig sind dieselben polemisch gegen das Christentum und atheistisch, oft aber beschlagen sie auch eine das Leben der Arbeiter berührende Seite; von ihren Lektürers (Predigern) scheint mir Watts in Manchester jedenfalls ein bedeutender Mann zu, welcher mit vielem Talente einige Broschüren über die Existenz Gottes und über die Nationalökonomie geschrieben hat. Die Lektürers haben eine sehr gute Manier zu räsonieren; alles geht von der Erfahrung und von beweisbaren oder anschaulichen Tatsachen aus, dabei aber findet eine so grundsätzliche Durchführung statt, daß es schwerhält, auf ihrem gewählten Boden mit ihnen zu kämpfen. Will man aber ein anderes Terrain nehmen, so verlachen sie einen ins Gesicht; ich sage z.B.: Die Existenz Gottes ist nicht vom Beweise aus Tatsachen für den Menschen abhängig, da entgegnen sie: »Wie lächerlich ist Ihr Satz: Wenn er nicht durch Tatsachen sich manifestiert, was wollen wir uns auch um ihn bekümmern; aus Ihrem Satze folgt gerade, daß die Existenz Gottes oder die Nichtexistenz den Menschen gleichgültig sein kann. Da wir nun für so tausend andere Dinge zu sorgen haben, so lassen wir Ihnen den lieben Gott hinter den Wolken, wo er vielleicht existiert, vielleicht auch nicht. Was wir nicht durch Tatsachen wissen, das geht uns gar nichts an; wir halten uns auf dem Boden 'der schönen Fakten', wo von solchen Phantasiestücken wie Gott und Religiosa keine Rede sein kann.« So stützen sie ihre übrigen kommunistischen Sätze auf den Beweis von Tatsachen, bei deren Annahme sie in der Tat vorsichtig sind. Die Hartnäckigkeit dieser Leute ist unbeschreiblich, und wie die Geistlichen sie herumkriegen wollen, weiß der liebe Himmel. In Manchester z.B. zählt die Kommunistengemeinde 8.000 erklärte für die Hall eingeschriebene und an derselben bezahlende Mitglieder, und es ist keine Übertreibung, wenn behauptet wird, die Hälfte der arbeitenden Klassen in Manchester teilen ihre Ansichten über das Eigentum; denn wenn der Watts von der Plattform (bei den Kommunisten, was die Kanzel bei den Christen) sagt: heute geh' ich an dies oder jenes Meeting, so kann man darauf rechnen, daß die Motion, welche der Lektürer bringt, die Mehrheit hat.

Es gibt aber auch unter den Sozialisten Theoretiker oder, wie die Kommunisten sie nennen, ganze Atheisten, während jene die praktischen heißen; von diesen Theoretikern ist der berühmteste Charles Southwell in Bristol, der eine streitfertige Zeitschrift: »Das Orakel der Vernunft« herausgab und dafür mit einem Jahr Gefängnis und einer Buße von etwa 100 Pfund gestraft wurde: natürlich ist dieselbe schnell durch Subskriptionen gedeckt worden; wie denn jeder Engländer seine Zeitung hält, seinen Führern die Bußen tragen hilft, an seine Kapelle oder Hall zahlt, an seine Meeting geht. |475| Charles Southwell aber sitzt schon wieder; es mußte nämlich die Hall in Bristol verkauft werden, weil nicht so viele Sozialisten in Bristol und darunter wenig Reiche sind, währenddem eine solche Hall ein ziemlich kostspieliges Ding ist. Dieselbe wurde von einer christlichen Sekte gekauft und in eine Kapelle umgewandelt. Als die Hall zur Kapelle geweiht wurde, drangen die Sozialisten und Chartisten hinein, um die Sache mitanzusehen und zu hören. Als nun aber der Geistliche anfing Gott zu loben, daß all das ruchlose Zeug ein Ende genommen habe, daß nun da, wo Gott sonst gelästert wurde, der Allmächtige nun gepriesen werde, hielten sie es für einen Angriff, und da nach englischen Begriffen jeder Angriff eine Abwehr heischt, schrien sie: Southwell, Southwell! Southwell soll dagegen Rede halten! Southwell also macht sich auf und beginnt eine Rede: Jetzt aber stellen sich die Geistlichen der christlichen Sekte an die Spitze ihrer in Kolonnen gestellten Pfarrkinder und stürmen auf Southwell los, andere der Sekte holen Polizei, da der Southwell den christlichen Gottesdienst gestört habe; die Geistlichen packen ihn mit eigenen Fäusten, schlagen ihn (was in solchen Fällen häufig geschieht) und übergeben ihn einem Polizeimann. Southwell selbst befahl seinen Anhängern, keinen leiblichen Widerstand zu machen; als er weggeführt wurde, folgten ihm bei 6.000 Mann mit Hurrarufen und Lebehoch.

Der Stifter der Sozialisten Owen schreibt in seinen vielen Büchlein wie ein deutscher Philosoph, d.h. sehr schlecht, doch hat er zuweilen lichte Augenblicke, wo er seine dunkeln Sätze genießbar macht; seine Ansichten sind übrigens umfassend. Nach Owen sind »Ehe, Religion und Eigentum die einzigen Ursachen alles Unglücks, was seit Anfang der Welt existiert hat« (!!), alle seine Schriften wimmeln von Wutausbrüchen gegen die Theologen, die Juristen und Mediziner, welche er in einen Topf wirft. »Die Geschwornengerichte werden aus einer Klasse Leuten besetzt, welche noch ganz theologisch, also Partei ist; auch die Gesetze sind theologisch und müssen deswegen samt dem Jury abgeschafft werden.«

Während die englische Hochkirche praßte, haben die Sozialisten für die Bildung der arbeitenden Klassen in England unglaublich viel getan; man kann sich anfänglich nicht genug wundern, wenn man die gemeinsten Arbeiter in der Hall of Science über den politischen, den religiösen und sozialen Zustand mit klarem Bewußtsein sprechen hört; aber wenn man die merkwürdigen Volksschriften aufspürt, wenn man die Lektürers der Sozialisten, z.B. den Watts in Manchester hört, so nimmt es einen nicht mehr wunder. Die Arbeiter besitzen gegenwärtig in sauberen wohlfeilen Ausgaben die Übersetzungen der französischen Philosophie des verflossenen Jahrhunderts, am meisten den »Contrat social« von Rousseau, das »Système de la |476| Nature« und verschiedene Werke von Voltaire, außerdem in Pfennig- und Zweipfennigbroschüren und Journalen die Auseinandersetzung der kommunistischen Grundsätze; ebenso sind die Ausgaben von Thomas Paine und Shelleys Schriften zu billigem Preise in den Händen der Arbeiter. Dazu kommen noch die sonntäglichen Vorlesungen, welche sehr fleißig besucht werden; so sah ich bei meiner Anwesenheit in Manchester die Kommunisten-Hall, welche etwa 3.000 Menschen faßt, jeden Sonntag gedrängt voll und hörte da Reden, welche unmittelbare Wirkung haben, in welchen dem Volke auf den Leib geredet wird, auch Witze gegen die Geistlichen vorkommen. Daß das Christentum geradezu angegriffen wird, daß die Christen als »unsere Feinde« bezeichnet werden, kommt oft vor.

Die Formen dieser Zusammenkünfte gleichen zum Teil den kirchlichen; ein Sängerchor, von einem Orchester begleitet, singt auf der Galerie die sozialen Hymnen, es sind halb und ganz geistliche Melodien mit kommunistischen Texten, wobei die Zuhörer stehen. Dann tritt ein Vorleser auf die Plattform, auf welcher ein Pult und Stühle stehen, ganz ungeniert mit dem Hut auf dem Kopf, macht mit dem Hutlüften den Anwesenden seinen Gruß und zieht den Überrock aus; dann setzt er sich und hält seinen Vortrag, wobei gewöhnlich viel gelacht wird, da der englische Witz im sprudelnden Humor sich in diesen Reden Luft macht; in der einen Ecke der Hall ist ein Bücher- und Broschürenladen, in der andern eine Bude mit Orangen und andern Erfrischungen, wo jeder seine dahin einschlagenden Bedürfnisse befriedigen oder, wenn ihn die Rede langweilen sollte, sich ihr entziehen kann. Zuweilen werden Sonntagabends da Teepartieen gegeben, wo alle Alter, Stände und Geschlechter untereinander sitzend das gewöhnliche Abendessen, Tee mit Butterbrot, zu sich nehmen; an Werktagen werden oft Bälle und Konzerte in der Hall aufgeführt, wo man sich recht lustig macht; ebenso ist noch ein Kaffee in der Halle.

Wie kommt es, daß man diesen ganzen Kram duldet? Aber einmal haben die Kommunisten sich unter dem Whigministerium eine Parlamentsakte verschafft und sich überhaupt damals so festgesetzt, daß man ihnen jetzt als Korporation nichts mehr tun kann. Zweitens würde man den hervorragenden Einzelnen sehr gerne zu Leib gehen, aber man weiß, daß dies nur zum Vorteil der Sozialisten ausschlüge, indem es die öffentliche Aufmerksamkeit auf sie lenkt, wonach sie streben. Gäbe es Märtyrer für ihre Sache (und wie viele wären alle Augenblicke dazu bereit), so entstände Agitation; Agitation aber ist das Mittel, ihre Sache noch mehr zu verbreiten, während jetzt ein großer Teil des Volkes sie übersieht, indem es sie für eine Sekte wie eine andere hält; Gegenmaßregeln, wußten die Whigs sehr wohl, wirken kräftiger für eine |477| Sache als Selbstagitation, daher gaben sie ihnen Existenz und eine Form; jede Form aber ist bindend. Die Tories schlagen hingegen etwa los, wenn die atheistischen Schriften zu arg ausfallen; aber jedesmal zum Nutzen der Kommunisten; im Dezember 1840 wurden Southwell und andere wegen Blasphemie gestraft; gleich erschienen drei neue Zeitschriften, eine »Der Atheist«, die andere »Der Atheist und der Republikaner«, die dritte, von dem Lektürer Watts herausgegeben: »Der Gotteslästerer«. Einige Nummern des »Gotteslästerers« haben großes Aufsehen erregt, und man studierte umsonst darauf, wie man diese Richtung unterdrücken könnte. Man ließ sie gehen, und siehe da, alle drei Blätter gingen wieder ein!

Drittens retten sich die Sozialisten wie alle die andern Parteien durch Gesetzumgehen und Wortklauben, was hier an der Tagesordnung ist.

So ist hier alles Leben und Zusammenhang, fester Boden und Tat, so nimmt hier alles äußere Gestalt an: während wir glauben etwas zu wissen, wenn wir die matte Elendigkeit des Steinschen Buches verschlucken, oder etwas zu sein, wenn wir da oder dort eine Meinung mit Rosenöl verduftet aussprechen.

In den Sozialisten sieht man recht deutlich die englische Energie; was mich aber mehr in Erstaunen setzte, war das gutmütige Wesen dieser, fast hätte ich gesagt Kerls, das aber so weit von Schwäche entfernt ist, daß sie über die bloßen Republikaner lachen, da die Republik ebenso heuchlerisch, ebenso theologisch, ebenso gesetzlich ungerecht sein würde als die Monarchie; für die soziale Reform aber wollen sie, samt Weib und Kindern, Gut und Blut einsetzen.

IV

[»Schweizerischer Republikaner« Nr. 51 vom 27. Juni 1843]

Man hört jetzt von nichts als von O'Connell und der irischen Repeal (Aufhebung der Verbindung Irlands mit England). O'Connell, der alte und schlaue Advokat, der während der Whigregierung ruhig im Unterhause saß und »liberale« Maßregeln durchbringen half, damit sie im Oberhause durchfielen, O'Connell hat sich auf einmal aus London und der parlamentarischen Debatte fortgemacht und bringt seine alte Repealfrage wieder auf. Kein Mensch dachte noch daran; da steigt Old Dan in Dublin ans Land und rührt den alten verjährten Plunder wieder auf. Kein Wunder, daß das alte gärende Zeug nun merkwürdige Luftblasen entwickelt. Da zieht der alte Schlaukopf von Stadt zu Stadt und jedesmal von einer Leibgarde begleitet, wie kein |478| König sie aufzuweisen hat, zweimalhunderttausend Mann immer um sich! Was könnte damit alles getan werden, wenn ein vernünftiger Mensch die Popularität O'Connells, oder O'Connell ein wenig mehr Einsicht und etwas weniger Egoismus und Eitelkeit besäße! Zweimalhunderttausend Mann; und was für Leute! - Leute, die keinen Pfennig zu verlieren, die zu zwei Dritteln keinen ganzen Rock am Leibe haben, echte Proletarier und Sansculotten, und dazu Irländer, wilde, unbändige, fanatische Gälen. Wer die Irländer nicht gesehen hat, der kennt sie nicht. Gebt mir zweimalhunderttausend Irländer, und ich werfe die ganze britische Monarchie über den Haufen. Der Irländer ist ein sorgloses, heiteres, kartoffelessendes Naturkind. Von der Heide, auf der er unter einem schlechten Dach, bei dünnem Tee und schmaler Kost herangewachsen ist, wird er in unsere Zivilisation hineingerissen. Der Hunger treibt ihn nach England. In dem mechanischen, egoistischen, eisig-kalten Getriebe der englischen Fabrikstädte erwachen seine Leidenschaften. Was weiß der rohe Junge, dessen Jugend auf der Heide spielend und auf der Landstraße bettelnd verbracht wurde, von Sparsamkeit? Was er verdient, wird verjubelt; dann hungert er bis zum nächsten Zahltag oder bis er wieder Arbeit findet. Das Hungern ist er so gewöhnt. So kehrt er zurück, sucht sich seine Familie von der Landstraße zusammen, wo sie sich zum Betteln zerstreute und zuweilen wieder um den Teekessel sammelte, den die Mutter mit sich führte. Aber er hat in England viel gesehen, öffentliche Meetings und Arbeitervereine besucht, er weiß, was Repeal ist und was es mit Sir Robert Peel auf sich hat, er hat sich mit der Polizei ganz gewiß sehr oft herumgeschlagen und weiß von der Hartherzigkeit und Schändlichkeit der »Peelers« (Polizeidiener) viel zu erzählen. Auch von Daniel O'Connell hat er viel gehört. Jetzt sucht er sich sein altes Haus mit einem Stück Kartoffelland wieder auf. Die Kartoffeln sind reif geworden, er macht sie aus und hat nun für den Winter zu leben. Da kommt der Oberpächter und fragt nach der Pacht. Ja du lieber Gott, wo ist Geld? Der Oberpächter ist dem Grundherrn für die Pacht verantwortlich, er läßt also pfänden. Der Irländer widersetzt sich und wird eingesteckt. Man läßt ihn am Ende wieder laufen, und bald darauf findet man den Oberpächter oder sonst jemand, der sich bei der Pfändung beteiligte, im Graben erschlagen.

Das ist eine Geschichte aus dem Leben der irischen Proletarier, wie sie alle Tage passiert. Die halbwilde Erziehung und die später ganz zivilisierte Umgebung bringen den Irländer in einen Widerspruch mit sich selbst, in eine stete Gereiztheit, in eine stets inwendig fortglimmende Wut, die ihn zu allem |479| fähig machen. Dazu liegt die Last einer fünfhundertjährigen Unterdrückung mit allen ihren Folgen auf ihm. Was Wunder, daß er da, wie jeder Halbwilde, bei jeder Gelegenheit blind und wütend dreinschlägt, daß ein ewiger Rachedrang, eine Wut des Zerstörens, in seinen Augen brennt, der es ganz gleichgültig ist, wogegen sie sich äußert, wenn sie nur dreinschlagen, nur zerstören kann? Das aber ist noch nicht alles. Wütender Nationalhaß des Gälen gegen den Sachsen, altkatholischer, von den Priestern genährter Fanatismus gegen den protestantisch-episkopalen Hochmut - mit solchen Elementen läßt sich alles durchsetzen. Und alle diese Elemente sind in O'Connells Hand. Und über welche Massen hat er zu verfügen! Vorgestern in Cork - 150.000 Mann; gestern in Nenaph - 200.000 Mann; heute in Kilkenny - 400.000 Mann, so geht das durch. Ein Triumphzug von vierzehn Tagen, ein Triumphzug, wie kein römischer Imperator ihn hielt. Und wollte O'Connell wirklich das Beste des Volks, wäre es ihm um die Wegschaffung des Elends wirklich zu tun - wären es nicht seine elenden kleinlichen juste-milieu-Zwecke. die hinter all dem Lärmen, der Agitation der Repeal stecken, wahrlich ich möchte wissen, was ihm Sir Robert Peel verweigern dürfte, wenn er es an der Spitze einer solchen Macht forderte, wie er sie jetzt hat. Aber was richtet er aus mit all seiner Macht und seinen Millionen waffenfähiger, verzweifelter Irländer? Nicht einmal die elende Repeal der Union kann er durchsetzen; natürlich, bloß weil es ihm kein Ernst damit ist, weil er das ausgesogene, zerdrückte irische Volk dazu mißbraucht, den Toryministern Verlegenheit zu bereiten und seine juste-milieu Freunde wieder ins Amt zu bringen. Das weiß auch Sir Robert Peel gut genug, und darum reichen 25.000 Mann Soldaten hin, ganz Irland im Zaum zu halten. Wenn O'Connell wirklich der Mann des Volks wäre, wenn er Mut genug besäße und sich nicht selbst vor dem Volke fürchtete, d.h., wenn er kein doppelzüngiger Whig, sondern ein gerader konsequenter Demokrat wäre, so wäre längst kein englischer Soldat mehr in Irland, kein protestantischer faulenzender Pfaff in rein katholischen Bezirken, kein altnormännischer Baron in seinem Schloß. Aber da liegt der Haken. Wenn das Volk für einen Augenblick losgelassen wäre, so würden Daniel O'Connell und seine Geldaristokraten bald ebenso aufs Trockene gesetzt werden, wie er die Tories aufs Trockene setzen will. Darum schließt sich Daniel so eng an die katholische Geistlichkeit, darum warnt er seine Irländer vor dem gefährlichen Sozialismus, darum weist er die angebotene Unterstützung der Chartisten zurück, obwohl er zum Schein hie und da von Demokratie spricht, wie Louis Philippe einst von den republikanischen Institutionen, und darum wird er es nie zu etwas bringen, als zu einer politischen Heranbildung des irischen Volks, die am Ende für niemanden gefährlicher ist als für ihn selbst.


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