Comité de sûreté général | Inhalt | Berliner Vereinbarungsdebatten

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 39-43
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1971


Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken zu Frankfurt

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 7 vom 7. Juni 1848]

<39> **Köln, 6. Juni. Wir haben unsern Lesern gestern das "motivierte Manifest der radikal-demokratischen Partei in der konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main" mitgeteilt. Unter der Rubrik Frankfurt finden sie heute das Manifest der Linken. Beide Manifeste scheinen sich auf den ersten Blick kaum anders zu unterscheiden als formell, indem die radikal-demokratische Partei einen unbeholfenen und die Linke einen gewandten Redakteur besitzt. Bei genauerer Ansicht heben sich indes einige wesentliche Unterscheidungspunkte hervor. Das radikale Manifest verlangt eine "ohne Zensus und durch direkte Wahlen", das der Linken eine durch die "freie Wahl aller" hervorgebrachte Nationalversammlung. Die freie Wahl aller schließt den Zensus aus, keineswegs aber die indirekte Methode. Und wozu überhaupt dieser unbestimmte, vieldeutige Ausdruck?

Wir begegnen noch einmal dieser größern Weite und Biegsamkeit der Forderungen der Linken, im Gegensatz zu den Forderungen der radikalen Partei. Die Linke verlangt "eine vollziehende Zentralgewalt, von der Nationalversammlung auf Zeit gewählt, und ihr verantwortlich". Sie läßt unentschieden, ob diese Zentralgewalt aus der Mitte der Nationalversammlung hervorgehen müsse, wie das radikale Manifest ausdrücklich bestimmt.

Das Manifest der Linken fordert endlich sofortige Feststellung, Verkündigung und Sicherstellung der Grundrechte des deutschen Volks allen möglichen Eingriffen der Einzelregierungen gegenüber. Das radikale Manifest begnügt sich nicht hiermit. Es erklärt,

"die Versammlung vereinige jetzt noch alle Staatsgewalten des Gesamtstaates in sich und habe die verschiedenen Gewalten und politischen Lebensformen, die sie zu beschließen berufen sei, auch sofort in Wirksamkeit zu setzen und die innere und äußere Politik des Gesamtstaates zu handhaben".

<40> Beide Manifeste stimmen darin überein, daß sie die "Konstituierung der Verfassung Deutschlands einzig und allein der Nationalversammlung" überlassen haben wollen und die Mitwirkung der Regierungen ausschließen. Beide stimmen darin überein, daß sie, "unbeschadet der von der Nationalversammlung zu proklamierenden Volksrechte", den Einzelstaaten die Wahl der Verfassung freigeben, sei es der konstitutionellen Monarchie, sei es der Republik. Beide stimmen endlich darin überein, daß sie Deutschland in einen Bundes- oder Föderativstaat verwandeln wollen.

Das radikale Manifest spricht wenigstens die revolutionäre Natur der Nationalversammlung aus. Es nimmt die angemessene revolutionäre Tätigkeit in Anspruch. Das bloße Bestehn einer konstituierenden Nationalversammlung, beweist es nicht, daß keine Verfassung mehr besteht? Wenn aber keine Verfassung mehr besteht, besteht keine Regierung mehr. Wenn keine Regierung mehr besteht, muß die Nationalversammlung selbst regieren. Ihr erstes Lebenszeichen mußte ein Dekret in sechs Worten sein: "Der Bundestag ist für immer aufgelöst."

Eine konstituierende Nationalversammlung muß vor allem eine aktive, revolutionär-aktive Versammlung sein. Die Versammlung in Frankfurt macht parlamentarische Schulübungen und läßt die Regierungen handeln. Gesetzt, es gelänge diesem gelehrten Konzil nach allerreifster Überlegung, die beste Tagesordnung und die beste Verfassung auszuklügeln, was nutzt die beste Tagesordnung und die beste Verfassung, wenn die Regierungen unterdes die Bajonette auf die Tagesordnung gesetzt?

Die deutsche Nationalversammlung, abgesehen davon, daß sie aus indirekter Wahl hervorgegangen, leidet an einer eigentümlich germanischen Krankheit. Sie residiert in Frankfurt am Main, und Frankfurt am Main ist nur ein idealer Mittelpunkt, wie er der bisherigen idealen, d.h. nur eingebildeten Einheit Deutschlands entsprach. Frankfurt am Main ist auch keine große Stadt mit einer großen revolutionären Bevölkerung, die hinter der Nationalversammlung steht, teils schützend, teils vorwärts treibend. Zum erstenmal in der Weltgeschichte residiert die konstituierende Versammlung einer großen Nation in einer kleinen Stadt. Die bisherige deutsche Entwickelung brachte dies mit sich. Während französische und englische Nationalversammlungen auf einem feuerspeienden Boden standen - Paris und London -, mußte die deutsche Nationalversammlung sich glücklich schätzen, einen neutralen Boden zu finden, einen neutralen Boden, wo sie in aller behaglichen Stille des Gemüts über die beste Verfassung und die beste Tagesordnung nachdenken kann. Dennoch bot ihr der augenblickliche Zustand Deutschlands Gelegenheit, ihre unglückliche materielle Situation zu über- <41> winden. Sie brauchte nur überall den reaktionären Übergriffen überlebter Regierungen diktatorisch entgegenzutreten, und sie eroberte sich eine Macht in der Volksmeinung, an der alle Bajonette und Kolben zersplittert wären. Statt dessen überläßt sie unter ihren Augen Mainz der Willkür der Soldateska und deutsche Ausländer den Schikanen Frankfurter Pfahlbürger. <Siehe "Die Frankfurter Versammlung"> Sie langweilt das deutsche Volk, statt es mit sich fortzureißen oder von ihm fortgerissen zu werden. Es existiert für sie zwar ein Publikum, das einstweilen noch mit gutmütigem Humor den burlesken Bewegungen des wiedererwachten heiligen römischen deutschen Reichstagsgespenstes zusieht, aber es existiert für sie kein Volk, das in ihrem Leben sein eignes Leben wiederfände. Weit entfernt, das Zentralorgan der revolutionären Bewegung zu sein, war sie bisher nicht einmal ihr Echo.

Bildet die Nationalversammlung eine Zentralgewalt aus ihrem Schoße, so ist bei ihrer jetzigen Zusammensetzung und nachdem sie den günstigen Augenblick unbenutzt hat vorübergehen lassen, wenig Erquickliches von dieser provisorischen Regierung zu erwarten. Bildet sie keine Zentralgewalt, so hat sie ihre eigne Abdankung unterschrieben und wird bei dem schwächsten revolutionären Luftzug nach allen Seiten hin auseinanderstieben.

Das Programm der Linken, wie der radikalen Seite, hat das Verdienst, diese Notwendigkeit begriffen zu haben. Beide Programme rufen auch mit Heine aus:

"Bedenk' ich die Sache ganz genau,
So brauchen wir gar keinen Kaiser",
<"Deutschland. Ein Wintermärchen", Kaput XVI>

und die Schwierigkeit, "wer der Kaiser sein soll", die vielen guten Gründe, die für einen Wahlkaiser und die ebenso guten Gründe, die für einen Erbkaiser sprechen, werden auch die konservative Majorität der Versammlung zwingen, den gordischen Knoten zu durchhauen, indem sie gar keinen Kaiser wählt.

Unbegreiflich ist es, wie die sogenannte radikal-demokratische Partei eine Föderation von konstitutionellen Monarchien, Fürstentümchen und Republikchen, einen aus so heterogenen Elementen zusammengesetzten Bundesstaat mit einer republikanischen Regierung an der Spitze - denn weiter ist doch wohl der von der Linken akzeptierte Zentralausschuß nichts - als schließliche Verfassung Deutschlands hat proklamieren können.

Kein Zweifel. Zunächst muß die von der Nationalversammlung gewählte Zentralregierung Deutschlands neben den faktisch noch bestehenden Regierungen sich erheben. Aber mit ihrer Existenz beginnt schon ihr Kampf mit den Einzelregierungen, und in diesem Kampfe geht die Gesamtregierung mit <42> der Einheit Deutschlands unter oder die Einzelregierungen mit ihren konstitutionellen Fürsten oder Winkelrepublikchen.

Wir stellen nicht das utopistische Verlangen, daß a priori <von vornherein> eine einige unteilbare deutsche Republik proklamiert werde, aber wir verlangen von der sogenannten radikal-demokratischen Partei, den Ausgangspunkt des Kampfes und der revolutionären Bewegung nicht mit ihrem Zielpunkt zu verwechseln. Die deutsche Einheit wie die deutsche Verfassung können nur als Resultat aus einer Bewegung hervorgehen, worin ebensosehr die inneren Konflikte als der Krieg mit dem Osten zur Entscheidung treiben werden. Die definitive Konstituierung kann nicht dekretiert werden; sie fällt zusammen mit der Bewegung, die wir zu durchlaufen haben. Es handelt sich daher auch nicht um die Verwirklichung dieser oder jener Meinung, dieser oder jener politischen Idee; es handelt sich um die Einsicht in den Gang der Entwicklung. Die Nationalversammlung hat nur die zunächst praktisch möglichen Schritte zu tun.

Nichts konfuser als der Einfall des Redakteurs des demokratischen Manifestes, so sehr er uns versichert, "jeder Mensch ist froh, seine Konfusion loszuwerden", als an dem nordamerikanischen Föderativstaat sich das Maß der deutschen Verfassung nehmen zu wollen!

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, abgesehen davon, daß sie alle gleichartig konstituiert sind, erstrecken sich über eine Fläche so groß wie das zivilisierte Europa. Nur in einer europäischen Föderation könnten sie eine Analogie finden. Und damit Deutschland sich mit andern Ländern föderiert, muß es vor allem ein Land werden. In Deutschland ist der Kampf der Zentralisation mit dem Föderativwesen der Kampf zwischen der modernen Kultur und dem Feudalismus. Deutschland verfiel in ein verbürgerlichtes Feudalwesen in demselben Augenblicke, wo sich die großen Monarchien im Westen bildeten, aber es wurde auch von dem Weltmarkt ausgeschlossen in demselben Augenblicke, wo dieser sich dem westlichen Europa eröffnete. Es verarmte, während sie sich bereicherten. Es verbauerte, während sie großstädtisch wurden. Klopfte nicht Rußland an die Pforten Deutschlands an, die nationalökonomischen Verhältnisse allein wurden es zur straffesten Zentralisation zwingen. Selbst nur vom bürgerlichen Standpunkt betrachtet, ist die widerspruchslose Einheit Deutschlands die erste Bedingung, um es aus der bisherigen Misere zu erretten und den Nationalreichtum zu erschaffen. Und wie nun gar die modernen sozialen Aufgaben lösen auf einem in 39 Ländchen zersplitterten Terrain?

<43> Der Redakteur des demokratischen Programms hat übrigens nicht nötig, auf untergeordnete materielle ökonomische Verhältnisse einzugehen. Er hält sich in seiner Motivierung an den Begriff Föderation. Die Föderation ist eine Vereinigung Freier und Gleicher. Also muß Deutschland ein Föderativstaat sein. Können sich die Deutschen nicht auch zu einem großen Staat föderieren, ohne gegen den Begriff von einer Vereinigung Freier und Gleicher zu sündigen?