Der "konstitutionelle Musterstaat" | Inhalt | "Aufruf des demokratischen Kongresse an das deutsche Volk"

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 5, S. 440-444
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959


Der Staatsprokurator "Hecker" und die "Neue Rheinische Zeitung"

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 129 vom 29. Oktober 1848]

<440> *Köln, 28. Oktober. Nr. 116 der "Neuen Rheinischen Zeitung" brachte hinter dem Striche, d.h. außerhalb des politischen Teils der Zeitung, "Ein Wort an das deutsche Volk", unterzeichnet "Hecker". Dies "historische Aktenstück" hatten deutsche Zeitungen vor der "Neuen Rheinischen Zeitung" mitgeteilt. Andere deutsche Zeitungen, rheinpreußische und altpreußische nicht ausgenommen, brachten es später. Selbst die "Kölnische Zeitung" besaß historischen Sinn genug, die Proklamation von Struve abzudrucken, nicht minder die von Fuad Effendi.

Wir wissen nicht - ließen die Lorbeeren des Republikaners Hecker den Staatsprokurator Hecker nicht ruhig schlafen? Die erstaunte Welt, sollte sie erfahren, daß die deutsche Revolution doppelt geschlagen sei durch die Flucht des Republikaners Hecker nach New York, durch die Anwesenheit des Staatsprokurators Hecker zu Köln? Man kann es nicht leugnen. Die Nachwelt wird in diesen beiden Riesengestalten die Gegensätze der modernen Bewegung dramatisch zusammengefaßt sehn. Ein künftiger Goethe wird sie in einen "Faust" binden. Wir überlassen es ihm, welchem Hecker er die Rolle des Faust zuteilen will, welchem die des Wagner.

Genug. Dem phantastischen Abschiedsworte des Republikaners Hecker folgte ein nicht minder phantastisches Requisitorium des Staatsprokurators Hecker.

Oder täuschen wir uns? Glaubt Hecker, der Staatsprokurator, "das Wort an das deutsche Volk" sei eigenstes Fabrikat der "Neuen Rheinischen Zeitung", und in ihrer erfinderischen Bosheit habe diese Zeitung ihre eigene Proklamation "Hecker" unterzeichnet, um dem deutschen Volke glauben zu machen, Hecker, der Staatsprokurator, wandere aus nach New York, Hecker, der Staats- <441> prokurator, proklamiere die deutsche Republik, Hecker, der Staatsprokurator, sanktioniere amtlich revolutionäre fromme Wünsche?

Eine solche Finte war glaublich, denn das in der Beilage zu Nr. 116 der "Neuen Rheinischen Zeitung" abgedruckte Aktenstück ist nicht Friedrich Hecker unterschrieben, sondern tout bonnement <ganz einfach> "Hecker". Hecker ohne Schnörkel, einfacher Hecker! Und besitzt Deutschland nicht einen zweifachen Hecker?

Und wer von den zweien ist der "einfache Hecker"? Zweideutig bleibt diese Einfachheit immerhin, wir meinen inkulpierend für die "Neue Rheinische Zeitung".

Wie dem auch sei, Herr Hecker, der Staatsprokurator, sah offenbar in dem "Wort an das deutsche Volk" ein Fabrikat der "Neuen Rheinischen Zeitung". Er erblickte darin eine direkte Aufforderung zum Umsturze der Regierung, Hochverrat in ausgebildetster Form oder zum allerwenigsten Teilnahme am Hochverrat, was nach dem Code pénal "einfacher" Hochverrat ist.

Herr Hecker trug also bei dem Instruktionsrichter darauf an, nicht den unterzeichneten Geranten <Korff>, sondern den Redakteur en chef, Karl Marx, als Hochverräter zu "konstituieren". Einen als Hochverräter "konstituieren" heißt aber mit andern Worten, einen vorläufig ins Gefängnis stecken und ihn bis aufs weitere mit der Untersuchungshaft bestrafen. Es handelt sich hier um die "Konstitution" des Zellengefängnisses. Der Instruktionsrichter weigerte sich. Wenn Herr Hecker einmal eine Idee gefaßt hat, so verfolgt er seine Idee. Den Redakteur en chef der "Neuen Rheinischen Zeitung" zu "konstituieren", war ihm zur fixen Idee geworden, wie der Name "Hecker" unter dem "Abschiedswort" zur Fiktion. Er wandte sich also an die Ratskammer. Die Ratskammer weigerte sich. Er ging von der Ratskammer an den Appellsenat. Der Appellsenat weigerte sich. Aber Herrn Hecker, den Staatsprokurator, verließ seine fixe Idee nicht, den Redakteur en chef der "Neuen Rheinischen Zeitung", Karl Marx, immer in dem angegebenen Sinne, zu "konstituieren Die Ideen des Parquets sind, wie man sieht, keine spekulativen Ideen im Hegelschen Sinne. Es sind Ideen im Kantschen Sinne. Einfälle der "praktischen" Vernunft.

Karl Marx konnte nimmer gleich direkt als Hochverräter "konstituiert" werden, konstituierte selbst der Abdruck revolutionärer Tatsachen oder Proklamationen eine Zeitung zur Hochverräterin. Zunächst hatte man sich an den zu halten, der die Zeitung unterzeichnet, ganz besonders in diesem Falle, wo <442> das fragliche Aktenstück unter dem Strich steht. Was blieb übrig? Eine Idee gibt die andere. Man konnte Karl Marx nach Artikel 60 des Code pénal als Komplice des angeblich vom Geranten begangenen Verbrechens zitieren. Man kann ihn, wenn man will, auch als Komplice jener Annonce, stehe sie selbst in der "Kölnischen Zeitung", zitieren. Karl Marx erhielt also von dem Instruktionsrichter einen Erscheinungsbefehl, erschien und wurde zu Protokoll vernommen. Die Setzer wurden, soviel wir wissen, als Zeugen geladen, der Korrektor wurde als Zeuge geladen, der Druckereibesitzer wurde als Zeuge geladen. Endlich aber wurde der Gerant als Zeuge geladen. Die letzte Ladung verstehen wir nicht.

Soll der angebliche Autor gegen seinen Komplicen zeugen?

Um in unserer Geschichtserzählung vollständig zu sein: Eine Haussuchung wurde im Büro der "Neuen Rheinischen Zeitung" abgehalten.

Hecker, der Staatsprokurator, hat Hecker, den Republikaner, übertroffen. Der eine vollbringt rebellische Tatsachen und erläßt rebellische Proklamationen. Der andere streicht die Tatsachen trotz allem Widerstreben aus, aus den Memoiren der Zeitgeschichte, aus den Zeitungen. Er macht das Geschehene ungeschehn. Teilt die "schlechte Presse" revolutionäre Tatsachen und Proklamationen mit, so hochverrät sie doppelt. Sie ist moralischer Komplice; sie teilt die rebellischen Tatsachen nur mit, weil dieselben sie innerlich kitzeln. Sie ist Komplice im gewöhnlichen juristischen Sinne: indem sie referiert, verbreitet sie, und indem sie verbreitet, macht sie sich zum Werkzeuge des Aufruhrs. Nach beiden Seiten hin wird sie daher "konstituiert" und genießt so die Früchte der "Konstitution". Die "gute Presse" dagegen wird das Monopol haben, revolutionäre Aktenstücke und Tatsachen mitzuteilen oder nicht mitzuteilen, zu verfälschen oder nicht zu verfälschen. Radetzky hat diese Theorie angewandt, indem er den Mailänder Blättern verbot, die Wiener Tatsachen und Proklamationen mitzuteilen. Dagegen brachte die "Mailänder Zeitung" an der Stelle der großen Wiener "Revolution" einen eigens von Radetzky komponierten kleinen Wiener Krawall. Ein Aufstand soll, so munkelt man, nichtsdestoweniger in Mailand ausgebrochen sein.

Herr Hecker, der Staatsprokurator, ist, wie jedermann weiß, Mitarbeiter an der "Neuen Rheinischen Zeitung" <Siehe "Gerichtliche Untersuchung gegen die 'Neue Rheinische Zeitung'">. Als unserm Mitarbeiter vergeben wir ihm viel, nur nicht die Sünde gegen den unheiligen "Geist" unserer Zeitung. Und er begeht eine solche Sünde, indem er mit einem Mangel an Kritik, der an einem Mitarbeiter der "Neuen Rheinischen Zeitung" unerhört ist, die Proklamation Heckers, des Flüchtlings, in die Proklamation der "Neuen <443> Rheinischen Zeitung" verwandelt. Friedrich Hecker verhält sich pathetisch, die "Neue Rheinische Zeitung" verhält sich kritisch zur Bewegung. Friedrich Hecker erwartet alles von dem magischen Wirken einzelner Persönlichkeiten. Wir erwarten alles von den Kollisionen, die aus den ökonomischen Verhältnissen hervorgehen. Friedrich Hecker reist nach den Vereinigten Staaten, um die "Republik" zu studieren. Die "Neue Rheinische Zeitung" findet in den großartigen Klassenkämpfen, die innerhalb der französischen Republik vorgehen, interessantere Gegenstände des Studiums als in einer Republik, wo die Klassenkämpfe im Westen noch nicht existieren und im Osten nur noch in der alten lautlosen englischen Form sich bewegen. Für Friedrich Hecker sind die sozialen Fragen Konsequenzen der politischen Kämpfe, für die "Neue Rheinische Zeitung" sind die politischen Kämpfe nur die Erscheinungsformen der sozialen Kollisionen. Friedrich Hecker könnte ein guter trikolorer Republikaner sein. Die eigentliche Opposition der "Neuen Rheinischen Zeitung" beginnt erst in der trikoloren Republik.

Wie hätte z.B. die "Neue Rheinische Zeitung", ohne vollständig ihre Vergangenheit zu desavouieren, dem deutschen Volke zurufen können:

"Schart euch um die Männer, welche das Banner der Volkssouveränität hoch und bei demselben treue Wache halten, um die Männer der äußersten Linken zu Frankfurt a.M.; schließt euch in Rat und Tat fest an die tapferen Führer der republikanischen Schilderhebung."

Wir haben wiederholt erklärt, daß wir kein "parlamentarisches" Blatt sind <Siehe "Die Polendebatte in Frankfurt", S. 347 und "Die Freiheit der Beratungen in Berlin", S. 406> und uns daher nicht scheuen, von Zeit zu Zeit den Zorn selbst der äußersten Linken von Berlin und Frankfurt auf unser Haupt zu ziehen. Wir haben den Herrn von Frankfurt zugerufen, sich an das Volk, wir haben nie dem Volke zugerufen, sich an die Herren von Frankfurt anzuschließen. Und "die tapfern Führer der republikanischen Schilderhebung", wo sind sie, wer sind sie? Hecker ist bekanntlich in Amerika, Struve im Gefängnisse. Also Herwegh? Die Redakteure der "Neuen Rheinischen Zeitung", namentlich Karl Marx, sind dem Herweghschen Unternehmen zu Paris in öffentlichen Volksversammlungen entschieden gegenübergetreten, ohne die Ungunst der aufgeregten Massen zu scheuen. Sie sind dafür ihrer Zeit gebührendermaßen von Utopisten, die sich für Revolutionäre versahn, verdächtigt worden (vergleiche u.a. die "Deutsche Volkszeitung"). Und jetzt, wo die Ereignisse wiederholt unsere Vorhersagungen bestätigt haben, sollten wir uns den Männern der entgegengesetzten Meinung anschließen?

<444> Doch seien wir gerecht. Herr Hecker, der Staatsprokurator, ist noch ein junger Mitarbeiter an unserm Blatte. Der Anfänger in der Politik wie der Anfänger in der Naturwissenschaft gleicht jenem Maler, der nur zwei Farben kennt, weiß und schwarz, oder, wenn man lieber will, schwarzweiß und rot. Die feineren Unterschiede innerhalb jeder espèce <Art> enthüllen sich nur dem geübten und erfahrenen Auge. Und überdem, war Herr Hecker nicht beherrscht von der fixen Idee, den Redakteur en chef der "Neuen Rheinischen Zeitung", Karl Marx, zu "konstituieren"! - eine fixe Idee, die weder im Fegefeuer des Instruktionsgerichtes, noch der Ratskammer, noch des Appellsenats zerschmolz, also eine feuerhaltige fixe Idee sein muß.

Die größte Errungenschaft der Märzrevolution ist unstreitig, um mit Brutus Bassermann zu reden, die "Herrschaft der Edelsten und Besten" und ihr rasches Steigen auf der Stufenleiter der Herrschaft. Wir hoffen daher, daß auch die Verdienste unsres geehrten Mitarbeiters, des Herrn Staatsprokurators Hecker, den schneeweißen Tauben gleich, die vor den Wagen der Aphrodite gespannt, sie pfeilschnell zum Olymp trugen, ihn auf die Höhen des Staatsolymps tragen werden. Unsere Regierung ist, wie jedermann weiß, konstitutionell. Pfuel schwärmt für den Konstitutionalismus. In konstitutionellen Staaten ist es Usus, den Empfehlungen der Oppositionsblätter aufmerksames Gehör zu schenken. Wir bewegen uns also auf konstitutionellem Boden, wenn wir der Regierung raten, unserm Hecker die erledigte Oberprokuratur von Düsseldorf zu erteilen. Herr Prokurator Amman von Düsseldorf, der, soviel uns bekannt, bisher noch keine Rettungsmedaille um das Vaterland verdient hat, wird keinen Augenblick anstehn, vor dem höhern Verdienste seinen eignen etwaigen Ansprüchen ehrfurchtvolles Schweigen zu diktieren. Sollte aber Herr Heimsoeth Justizminister werden, wie wir hoffen, so empfehlen wir Herrn Hecker zum Generaladvokaten. Größeres erwarten wir für Herrn Hecker. Herr Hecker ist noch jung. Und, wie jener Russe sagt: Der Zar ist groß, Gott ist noch größer, aber der Zar ist noch jung.

Geschrieben von Karl Marx.