[Die Auflösung der Nationalversammlung] | Inhalt | Der Staatsstreich der Kontrerevolution

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 85-100
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Der Nationalrat

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 165 vom 10. Dezember 1848]

<85> **Bern, 6. Dezember. Wer kümmert sich in dieser Zeit der europäischen Stürme um die Schweiz? Außer der Reichsgewalt, die hinter jedem Busch des linken Rheinufers von Konstanz bis Basel einen wegelagernden Freischärler wittert, gewiß so leicht niemand. Und doch ist die Schweiz ein wichtiger Nachbar für uns. Heute ist das konstitutionelle Belgien der offizielle Musterstaat <Siehe Band 5, S. 315-318 und 437-439>; bei dem stürmischen Wetter, das wir haben, wer steht uns dafür, daß morgen nicht die republikanische Schweiz offizieller Musterstaat sein wird? Ohnehin kenne ich mehr als einen farouchen <wilden> Republikaner, der keine höheren Wünsche hat, als die schweizerischen politischen Zustände mit großen und kleinen Bundes-, National-, Stände- und sonstigen Räten über den Rhein zu tragen, aus Deutschland eine Schweiz im Großen zu machen und sodann als Herr Großrat oder Landammann des Kantons Baden, Hessen oder Nassau ein stilles und geruhiges Leben zu führen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

Die Schweiz geht uns Deutsche also allerdings an, und was die Schweizer denken, sagen, tun und treiben, kann uns in sehr kurzer Frist als Vorbild vorgehalten werden. Es kann daher keinesfalls schaden, wenn wir uns schon vorher einigermaßen damit bekannt machen, was die zweiundzwanzig Kantone der "Eidgenossenschaft" für Sitten und für Leute in ihrer Föderativrepublik erzeugt haben.

Es ist billig, daß wir da zuerst die Creme der schweizerischen Gesellschaft betrachten, die Männer, die das Schweizer Volk selbst zu seinen Repräsentanten ernannt hat, ich meine den Nationalrat im Rathause zu Bern.

Wenn man die Tribüne des Nationalrats betritt, so muß man sich wundern über die Mannigfaltigkeit der Figuren, die das Schweizer Volk zur Beratung <86> seiner gemeinsamen Angelegenheiten nach Bern geschickt hat. Wer nicht vorher schon einen guten Teil der Schweiz gesehen hat, begreift kaum, wie es möglich ist, daß ein Ländchen von ein paar hundert Quadratmeilen und nicht dritthalb Millionen Einwohnern eine so bunte Versammlung zustande bringen kann. Und doch ist es nicht zu verwundern; die Schweiz ist ein Land, in dem vier verschiedene Sprachen gesprochen werden, Deutsch, Französisch, Italienisch (oder vielmehr Lombardisch) und Romanisch, und das alle verschiedenen Kulturstufen, von der ausgebildetsten Maschinenindustrie bis herab zum unverfälschtesten Hirtenleben, in sich vereinigt. Und der schweizerische Nationalrat vereinigt die Creme aller dieser Nationalitäten und Kulturstufen und sieht deshalb nichts weniger als national aus.

Von bestimmten Plätzen, von gesonderten Parteien ist in dieser zur Hälfte patriarchalischen Versammlung keine Rede. Die Radikalen haben einen schwachen Versuch gemacht, sich auf die äußerste Linke zu setzen, aber es scheint nicht gelungen zu sein. Jeder setzt sich, wohin er will, und wechselt den Platz oft drei- bis viermal in einer Sitzung. Doch haben die meisten Mitglieder gewisse Lieblingsplätze, die sie schließlich immer wieder einnehmen, und so scheidet sich die Versammlung doch in zwei ziemlich scharf voneinander getrennte Teile. Auf den vordersten drei halbkreisförmigen Bänken sieht man scharf markierte Gesichter, ziemlich viel Bart, sorgfältig gepflegtes Haar, moderne Kleider nach Pariser Schnitt; hier sitzen die Repräsentanten der französischen und italienischen Schweiz, oder, wie man hier sagt, die "Welschen", und von diesen Bänken aus wird selten anders als französisch gesprochen. Hinter den Welschen aber sitzt eine kurios gemischte Gesellschaft. Man sieht zwar keine Bauern in schweizerischen Nationaltrachten, im Gegenteil lauter Leute, über deren Kostümierung die Hand einer gewissen Zivilisation hinweggegangen ist; hie und da sogar einen mehr oder weniger modernen Frack, zu dem gewöhnlich auch ein anständiges Gesicht gehört; dann ein halb Dutzend schweizerischer Offizierstypen in Zivil, einer wie der andere, mehr feierlich als kriegerisch, in Gesicht und Kleidung etwas veraltet und einigermaßen an den Ajax in "Troilus und Cressida" erinnernd; und endlich das Gros, bestehend aus unbeschreiblich physiognomierten und kostümierten, mehr oder weniger ältlichen und altfränkischen Herren, jeder verschieden, jeder ein Typus für sich und meistens auch für eine Karikatur. Alle verschiedenen Spielarten des Spießbürgers, des campagnard endimanché <sonntäglich geputzten Landmannes> und des Kantönli-Oligarchen sind hier vertreten, alle aber gleich biedermännisch, gleich erschrecklich ernsthaft, mit gleich schweren silbernen <87> Brillen. Das sind die Repräsentanten der deutschen Schweiz, und dieses Gros der Gesellschaft ist von den kleineren Kantonen und den entlegenen Bezirken der größeren geliefert worden.

Dieser Versammlung gegenüber nimmt den Präsidentenstuhl ein der bekannte Dr. Robert Steiger von Luzern, noch vor wenig Jahren unter der Siegwart-Müllerschen Wirtschaft zum Tode verurteilt, jetzt Präsident der schweizerischen Bundesversammlung. Steiger ist ein kleiner, untersetzter Mann mit ausgeprägten Gesichtszügen, denen das weiße Haar, der braune Schnurrbart und selbst die unvermeidliche silberne Brille gar kein übles Relief geben. Er verwaltet sein Amt übrigens mit großer Ruhe und vielleicht etwas zu viel Mäßigung.

Wie die Physiognomie, so die Diskussion. Die Welschen sind die einzigen, die in ganz zivilisierter, rhetorischer Form sprechen, und auch sie nicht alle. Die Berner, die von den deutschen Schweizern noch am meisten welsche Sitte angenommen haben, kommen ihnen am nächsten. Bei ihnen findet man wenigstens noch einiges Feuer. Die Züricher, diese Söhne von Schweizer-Athen, sprechen mit der Gesetztheit und Gemessenheit, die einem Mittelding zwischen Professor und Zunftmeister zukommt, aber stets "gebildet". Die Offiziere sprechen mit feierlicher Langsamkeit, mit wenig Geschick und Inhalt, aber dafür mit einer Bestimmtheit, als ob ihr Bataillon schlagfertig hinter ihnen stände. Das Gros der Gesellschaft endlich liefert mehr oder weniger wohlmeinende, bedenkliche, gewissenhafte, rechts und links abwägende und doch schließlich stets auf die Seite ihrer Kantonalinteressen tretende Redner, die übrigens fast alle sehr holprig und stellenweise nach eignen grammatischen Prinzipien sprechen. Wenn der Kostenpunkt zur Sprache kommt, geschieht es stets zuerst von hier, namentlich von den Urkantonen aus. Uri hat sich schon in beiden Räten in dieser Beziehung einen wohlverdienten Ruhm erworben.

Die Diskussion ist daher im ganzen matt, ruhig, mittelmäßig. Rhetorische Talente, die auch in größern Versammlungen Erfolge erringen würden, zählt er Nationalrat sehr wenige; ich kenne bis jetzt nur zwei, Luvini und Dufour, und etwa Eytel. Ich habe freilich mehrere der einflußreicheren Mitglieder noch nicht gehört; aber weder ihre Erfolge in der Versammlung noch die Referate ihrer Reden in den Blättern sind der Art, daß sie zu glänzenden Erwartungen berechtigten. Nur Neuhaus soll glänzend sprechen. Wie wäre es auch möglich, daß rednerische Anlagen in Versammlungen sich entwickeln können, die höchstens ein paar hunderttausend Menschen repräsentieren und sich mit den kleinlichsten Bezirksinteressen zu beschäftigen haben! Die selige Tagsatzung war ohnehin mehr eine diplomatische als gesetzgebende <88> Versammlung; auf ihr konnte man lernen, Instruktionen zu verdrehen und Auswege plausibel zu machen, aber nicht eine Versammlung fortzureißen und zu beherrschen. Die Reden der Nationalräte beschränken sich daher meist auf motivierte Vota, in denen jeder Redner den Tatbestand darlegt, der ihn so oder so zu stimmen veranlaßt, und daher mit der größten Unbefangenheit alles ruhig wiederholt, was schon vor ihm bis zur Unerträglichkeit wiederholt worden ist. Namentlich haben die Reden des Gros diese patriarchalische Offenherzigkeit an sich. Und wenn einer dieser Herren einmal das Wort hat, so versteht es sich, daß er bei der Gelegenheit auch seine Meinung über alle Zwischenfälle der Diskussion ausplaudert, mögen sie noch so lange abgetan sein. Zwischen diesem vertraulichen Geplauder der Biedermänner halten dann einige Hauptreden den Faden der Debatte mühsam zusammen, und wenn die Sitzung aus ist, gesteht man sich, selten etwas Langweiligeres gehört zu haben. Die Spießbürgerei, die dem physique <Äußeren> der Versammlung etwas Originelles gibt, weil man sie in dieser Klassizität selten sieht, hört auch hier nicht auf, au moral <in ihrem Wesen> platt und einschläfernd zu sein. Von Leidenschaft ist wenig, von Esprit gar nicht die Rede; Luvini ist der einzige, der mit hinreißender, gewaltiger Leidenschaft spricht, Dufour der einzige, der durch echt französische Klarheit und Präzision imponiert. Frey von Baselland vertritt den Humor, zu dem zuweilen auch Oberst Bernold nicht mißlungene Anläufe macht. Der französische Esprit mangelt den französischen Schweizern gänzlich. Solange die Alpen und der Jura stehn, ist auf ihrem Rücken noch kein passabler Calembourg zustande gekommen, keine rasche, schlagende Repartie gehört worden. Der französische Schweizer ist nicht bloß sérieux <ernst>, er ist grave <gravitätisch>.

Die Debatte, die ich hier näher schildern will, ist die über die Tessiner Angelegenheit und die italienischen Flüchtlinge in Tessin. Die Sache ist bekannt; die sogenannten Umtriebe der italienischen Flüchtlinge in Tessin boten den Vorwand zu unangenehmen Maßregeln von seiten Radetzkys; der Vorort Bern sandte eidgenössische Repräsentanten mit ausgedehnten Vollmachten und zugleich eine Brigade Truppen nach Tessin; der Aufstand im Veltlin und in der Valle Intelvi veranlaßte eine Anzahl der Flüchtlinge, in die Lombardei zurückzukehren, was ihnen, trotz der Wachsamkeit der schweizerischen Grenzposten, gelang; sie überschritten, jedoch unbewaffnet, die Grenzen, nahmen an dem Aufstand teil, kamen nach der Niederlage der Insurgenten von Valle Intelvi, ebenfalls unbewaffnet, wieder auf Tessiner Gebiet und wurden von der Tessiner Regierung ausgewiesen. Inzwischen <89> verschärfte Radetzky seine Repressalien an der Grenze und verdoppelte seine Reklamationen bei den eidg[enössischen] Repräsentanten.

Diese verlangten Ausweisung aller Flüchtlinge ohne Unterschied; die Tessiner Regierung weigerte sich; der Vorort bestätigte die Maßregeln der Repräsentanten; die Tessiner Regierung appellierte an die inzwischen zusammengetretene Bundesversammlung. Über diesen Appell und über die von beiden Seiten vorgebrachten tatsächlichen Behauptungen, die sich besonders auf das Verhalten der Tessiner gegen die Repräsentanten und die schweizerischen Truppen bezogen, hatte der Nationalrat zu entscheiden.

Die Majorität der deshalb ernannten Kommission trug auf Ausweisung aller italienischen Flüchtlinge aus Tessin, Internierung derselben in der inneren Schweiz, Verbot, neuen Flüchtlingen den Aufenthalt in Tessin zu gestatten, überhaupt Bestätigung und Beibehaltung der vom Vorort ergriffenen Maßregeln an. Ihr Berichterstatter war Herr Kasimir Pfyffer von Luzern. Bis ich mir aber auf der öffentlichen Tribüne einen Weg durch die dichten Zuhörermassen gebahnt hatte, war Herr Pfyffer mit seinem ziemlich trocknen Bericht längst fertig, und Herr Pioda hatte das Wort.

Herr Pioda, Staatssekretär in Tessin, der für sich allein die Minorität der Kommission ausmachte, bringt seinen Antrag vor auf Ausweisung bloß derjenigen Flüchtlinge, die an dem letzten Aufstand teilgenommen und gegen die also ein positiver Grund zum Einschreiten vorliege. Herr Pioda, Major und Bataillonskommandant im Sonderbundkriege, hat sich trotz seines sanften blonden Aussehens damals bei Airolo sehr tapfer gehalten und gegenüber einem Truppenkorps, das zahlreicher, geübter und besser gerüstet war als das seinige und zudem eine vorteilhaftere Stellung einnahm, seinen Posten eine Woche lang behauptet. Pioda spricht ebenso sanft und gefühlvoll, wie er aussieht. Ich hätte ihn anfangs, da er, sowohl was Akzent wie Beherrschung der Sprache angeht, vollkommen französisch spricht, für einen französischen Schweizer gehalten und war erstaunt, als ich hörte, daß er ein Italiener sei. Als er aber auf die Vorwürfe zu sprechen kam, die man den Tessinern machte, als er dagegen das Auftreten der schweizerischen Truppen schilderte, die fast so taten, als wären sie in Feindes Land, als er warm wurde, entwickelte er zwar keine Leidenschaft, aber doch jene lebendige, durch und durch italienische Beredsamkeit, die bald die antiken Formen, bald einen gewissen modernen, zuweilen übertriebenen Redepomp anwendet. Ich muß ihm zum Ruhme nachsagen, daß er in letzterer Beziehung Maß zu halten wußte und daß diese Stellen seiner Entwicklung von sehr gutem Effekt waren. Im ganzen war sein Vortrag aber zu lang und zu gefühlsreich. Die deutschen Schweizer besitzen das aes triplex <dreifachen Erzpanzer> des Horaz, und an ihrer ebenso harten wie breiten <90> Brust prallten alle schönen Sentenzen, alle nobeln Gefühle des guten Pioda wirkungslos ab.

Nach ihm erhob sich Herr Doktor Alfred Escher von Zürich. A la bonne heure <Alle Achtung>, das ist ein Mann comme il en faut pour la Suisse <wie ihn die Schweiz braucht>! Herr Doktor Escher, eidgenössischer Repräsentant in Tessin, Vizepräsident des Nationalrats, Sohn - wenn ich nicht irre - des bekannten Mechanikers und Ingenieurs Escher, der die Linth kanalisierte und eine enorme Maschinenfabrik bei Zürich gründete. Herr Doktor Escher ist nicht sowohl ein Züricher als ein "schweizerischer Athenienser". Sein Frack, sein Gilet sind vom ersten marchand tailleur <Maßschneider> Zürichs angefertigt, man sieht das lobenswerte und stellenweise nicht erfolglose Bestreben, den Anforderungen des Pariser Modejournals nachzukommen, man sieht aber auch die reichsstädtische Erbsünde, die die Hand des Zuschneiders immer wieder in das altgewohnte kleinbürgerliche Geleise zurückführte. Wie der Frack, so der Mann. Die blonden Haare sind sehr sorglich geschnitten, aber schrecklich bürgerlich geschnitten, und der Bart desgleichen - denn unser schweizerischer Alcibiades trägt natürlich auch seinen Bart, eine Kaprice, die bei einem Züricher aus "guter Familie" sehr an Alcibiades den Ersten erinnert. Wenn Herr Doktor Escher den Präsidentenstuhl besteigt, um Steiger einen Moment abzulösen, so vollzieht er dies Manöver mit einer Mischung von Würde und eleganter Nonchalance, um die ihn Herr Marrast beneiden könnte. Man sieht deutlich, wie er die paar Augenblicke benutzt, um seinen auf der harten Bank müde gewordenen Rücken in dem weichen Polster des Fauteuils wieder auszuruhen. Kurz, Herr Escher ist so elegant, wie man es in Schweizer-Athen nur sein kann, und dazu ist er reich, hübsch, von kräftigem Körperbau und nicht über 33 Jahre alt. Die Berner Damen mögen sich hüten vor diesem gefährlichen Alcibiades von Zürich.

Herr Escher spricht ferner recht fließend und so gutes Deutsch, wie es einem Schweizer-Athenienser nur möglich ist: Attisches Idiom mit dorischem Akzent, aber ohne grammatische Fehler, und das ist nicht jedem Nationalrat der deutschen Schweiz gegeben, spricht er wie alle Schweizer mit schreckenerregender Feierlichkeit. Herr Escher könnte in seinem siebzigsten Jahre keinen solenneren Ton anschlagen als vorgestern - und er ist einer der jüngsten in der Versammlung. Dazu besitzt er noch eine andere nicht schweizerische Eigenschaft. Jeder deutsche Schweizer nämlich hat für alle seine Reden, bei allen Gelegenheiten, für die Dauer seines Lebens nur einen Gestus. Herr Doktor Kern z.B. streckt den rechten Arm seitwärts im rechten Winkel <91> erhoben von sich; die verschiedenen Offiziere machen genau denselben Griff, nur daß sie den Arm gerade vor sich hin und nicht seitwärts halten; Herr Tanner von Aarau macht bei jedem dritten Wort eine Verbeugung; Herr Furrer wechselt es zwischen Front, halbrechts und halblinks; kurz, wenn man den ganzen deutschredenden Nationalrat zusammennimmt, so bekommt man einen ziemlich vollständigen Telegraphen heraus. Der Gestus des Herrn Escher besteht darin, daß er die Hand gerade vor sich hinstreckt und mit ihr die Bewegung eines Pumpenschwengels aufs täuschendste nachmacht.

Was den Inhalt der Rede des Herrn Doktor Escher angeht, so brauche ich dieser Aufzählung der Beschwerden der Repräsentanten um so weniger zu wiederholen, als diese Beschwerden fast alle vermittelst der "Neuen Zürcher-Zeitung" in die meisten deutschen Blätter übergegangen sind. Neues enthielt die Rede absolut nicht.

Nach der Züricher Feierlichkeit die italienische Leidenschaft: nach Herrn Dr. Escher der Oberst Luvini. Luvini, ein ausgezeichneter Soldat, dem der Kanton Tessin seine ganze militärische Organisation verdankt, der die Revolution von 1840 als militärischer Chef dirigierte, der 1841 im August, als die gestürzten Oligarchen und Pfaffen einfielen und von Piemont her eine Kontrerevolution versuchten, durch seine Schnelligkeit und Energie in einem Tage den Versuch erstickte und der im Sonderbundskriege nur deswegen der einzige Gefangene war, weil die Bündner ihn im Stich ließen - Luvini sprang mit großer Schnelligkeit auf, um seine Landsleute gegen Escher zu verteidigen. Daß die Vorwürfe des Herrn Escher in der gespreizten, aber äußerlich ruhigen Sprache eines Schulmeisters vorgebracht waren, nahm ihnen nichts von ihrer Bitterkeit; im Gegenteil, jedermann weiß, daß die doktrinäre Weisheit an sich schon unerträglich und verletzend genug ist.

Luvini antwortete mit der ganzen Leidenschaft des alten Soldaten und des Tessiners, der Schweizer durch Zufall, aber Italiener von Natur ist:

"Macht man hier nicht den Tessinern ordentlich einen Vorwurf aus ihrer 'Sympathie für die italienische Freiheit'? Ja, es ist wahr, die Tessiner sympathisieren mit Italien, und ich bin stolz darauf, daß es so ist, und ich werde nicht aufhören, morgens und abends Gott um die Befreiung dieses Landes von seinen Unterdrückern zu bitten. Ja, trotz Herrn Escher, die Tessiner sind ein ruhiges und friedliches Volk; aber allerdings, wenn sie täglich und stündlich sehen müssen, wie die schweizerischen Soldaten fraternisieren mit den Österreichern, mit den Schergen eines Mannes, dessen Namen ich nie aussprechen kann ohne eine Bitterkeit, die aus tiefster Seele kommt, mit den Söldlingen Radetzkys, da sollen sie nicht erbittert werden, sie, vor deren Augen sozusagen die Kroaten die scheußlichsten Greuel begehen? Ja, die Tessiner sind ein ruhiges und friedliches Volk, aber wenn man ihnen schweizerische Soldaten schickt, die Partei <92> für die Österreicher ergreifen, die sich stellenweise wie die Kroaten benehmen, dann sind sie es freilich nicht!" (Folgt eine Aufzählung von Tatsachen über das Benehmen der Schweizer Truppen in Tessin.) "Es ist schon hart und traurig genug, wenn man von Fremden unterjocht und geknechtet wird, aber man duldet es in der Hoffnung auf den Tag, wo man die Fremden verjagen wird - aber daß meine eignen Brüder und Eidgenossen mich knechten, mir sozusagen den Strick um den Hals legen, wahrlich ..."

Die Klingel des Präsidenten unterbrach den Redner. Luvini wurde zur Ordnung gerufen. Er sprach noch einige Sätze und schloß ziemlich abrupt und verdrießlich.

Dem heißblütigen Luvini folgte der Oberst Michel aus Graubünden. Die Bündner sind von jeher, mit Ausnahme der italienisch redenden Misoxer, schlechte Nachbarn der Tessiner gewesen, und Herr Michel blieb seiner vaterländischen Traditionen treu. In höchst feierlich-biedermännischem Ton suchte er die Angaben der Tessiner zu verdächtigen, erging sich in einer langen Reihe unangebrachter Invektiven und Klatschereien gegen das Tessiner Volk und war sogar ungeschickt und unedel genug, den Tessinern einen Vorwurf daraus zu machen, daß sie (mit Recht) für ihre Niederlage bei Airolo seine, Michels Landsleute, die Bündner, verantwortlich machten. Er schloß mit dem liebevollen Antrag, der Tessiner Regierung einen Teil der Grenzokkupationskosten aufzubürden.

Auf Steigers Antrag wurde die Debatte hiermit ausgesetzt.

Am nächsten Morgen ergriff zuerst Herr Oberst Berg von Zürich daß Wort. Herr Oberst Berg - von seiner äußeren Erscheinung spreche ich nicht, denn, wie gesagt, sehen die deutsch-schweizerischen Offiziere einer aus wie der andre - Herr Berg ist Kommandant des in Tessin stehenden Züricher Bataillons, von dessen übermütigem Benehmen Luvini eine Menge Exempel gegeben hatte. Herr Berg mußte natürlich sein Bataillon verteidigen, und da er mit den deshalb vorgebrachten tatsächlichen Behauptungen bald zu Ende war, so erging er sich in einer Reihe der maßlosesten persönlichen Ausfälle gegen Luvini.

"Luvini", sagte er, "sollte sich schämen, die Rede auf die Disziplin der Truppen zu bringen und vollends die Disziplin eines der besten und ordentlichsten Bataillone zu verdächtigen. Denn wenn mir passiert wäre, was dem Herrn Luvini passiert ist, so würde ich längst meine Demission gegeben haben. Es ist dem Herrn Luvini passiert, daß er im Sonderbundskriege mit einer überlegenen Armee geschlagen wurde und auf den Befehl vorzurücken erwiderte: das sei unmöglich, seine Truppen seien demoralisiert usw. Übrigens wünsche ich nicht hier, sondern anderswo mit dem Herrn Luvini ein Wörtchen über diese Angelegenheit zu sprechen, ich liebe es, meinem Gegner das Weiße im Auge zu sehen."

<93> Alle diese und zahllose andere Provokationen und Beleidigungen wurden Herrn Berg in einem halb würdevollen, halb polternden Ton vorgebracht. Er wollte offenbar die fougueuse <feurige> Rhetorik Luvinis nachmachen, erreichte nur ein komplettes Fiasko.

Da die Geschichte von Airolo nun schon zweimal in meinem Bericht vorgekommen ist und nochmals vorkommt, so will ich kurz an die Hauptumstände erinnern. Der Plan Dufours im Sonderbundskriege war: Während die Hauptarmee Freiburg und Luzern angriff, sollten die Tessiner über den Gotthard, die Bündner über die Oberalp in das Urserental vordringen, die dortige liberale Bevölkerung befreien und bewaffnen und durch diese Diversion Wallis von den Urkantonen abschneiden und die Luzerner Hauptarmee der Sonderbündler zwingen, sich zu teilen. Der Plan wurde vereitelt, erstens durch die Besetzung des Gotthard durch die Urner und Walliser noch vor Eröffnung der Feindseligkeiten und zweitens durch die Lauheit der Bündner. Die Bündner zogen die katholischen Milizen gar nicht ein, und selbst die eingezogenen Truppen ließen sich im Hochgericht Disentis von der katholischen Bevölkerung vom weiteren Vordringen abhalten. Tessin war also ganz allein, und wenn man bedenkt, daß die militärische Organisation dieses Kantons noch sehr jung, daß die ganze Tessiner Armee nur an 3.000 Mann beträgt, so begreift man die Schwäche Tessins gegenüber dem Sonderbund. Die Urner, Walliser und Unterwalder hatten sich inzwischen auf mehr als 2.000 Mann mit Artillerie verstärkt und brachen am 17. November 1847 mit ihrer gesamten Macht den Gotthard hinab nach Tessin herein. Die Tessiner Truppen standen von Bellinzona bis Airolo das Leventinatal hinauf echeloniert; ihre Reserve stand in Lugano. Die Sonderbündler, von einem dichten Nebel verhüllt, besetzten alle Höhen um Airolo, und als der Nebel sich verzog, sah Luvini, daß die Position verloren sei, noch ehe ein Schuß gefallen. Er setzte sich indes zur Gegenwehr, und nach einem mehrstündigen Gefecht, worin die Tessiner sich mit der höchsten Tapferkeit schlugen, wurden seine Truppen von den überlegenen Feinden geworfen. Anfangs wurde der Rückzug von einigen Truppenteilen gedeckt; aber von den Höhen herab in die Flanke genommen, mit Artillerie beschossen, gerieten die Tessiner Rekruten bald in die größte Unordnung und waren nicht eher zum Stehen zu bringen als acht Stunden von Airolo, hinter der Moesa. Wer die Gotthardstraße passiert hat, begreift die enormen Vorteile, die die von oben herabdringende Armee hat, besonders wenn sie Artillerie besitzt, und begreift die Unmöglichkeit für eine bergab fliehende Armee, sich irgendwo wieder zu setzen und in dem engen <94> Tal ihre Kräfte zu deployieren. Übrigens waren die Tessiner, die wirklich ins Gefecht kamen, keineswegs den Sonderbündlern überlegen, sondern umgekehrt. An dieser Niederlage, die übrigens keine weiteren Folgen hatte, war also nicht Luvini, sondern erstens seine geringen und ungeübten Streitkräfte, zweitens das ungünstige Terrain, drittens und hauptsächlich das Ausbleiben der Bündner schuld, die sich in Disentis den Veltliner schmecken ließen, statt auf der Oberalp zu sein, und die jetzt endlich, über den Bernardin, den Tessinern post festum <hinterher> zwei Bataillone stark zu Hülfe kamen. Und dieser Sieg des Sonderbunds an der einzigen Stelle, wo er die Übermacht hatte, wird den schmählich im Stich gelassenen Tessinern zum Vorwurf gemacht von denen, die sie im Stich ließen, oder die bei Freiburg und Luzern, drei gegen einen kämpfend, wohlfeile Lorbeeren erwarben!

Wie Sie wissen, ist auf diese Expektorationen Bergs gegen Luvini ein Duell erfolgt, in dem der Welsche den Züricher derb abführte.

Doch zurück zur Debatte. Herr Dr. Kern aus Thurgau erhob sich, um die Anträge der Majorität zu unterstützen. Herr Kern ist eine große, breitschultrige Schweizergestalt mit einem nicht unangenehmen, ausgeprägten Gesicht und etwas theatralischem Haar, etwa wie sich ein biedrer Schweizer den olympischen Jupiter vorstellen mag, etwas gelehrt angezogen und im Blick, Ton, Gebärde von unerschütterlicher Entschlossenheit. Herr Kern gilt für einen der tüchtigsten und scharfsinnigsten Juristen der Schweiz; "mit der ihm eigenen Logik" und hochbeteuernden Manier ging der Präsident des Bundesgerichts auf die Tessiner Frage ein, wurde mir aber bald so langweilig, daß ich vorzog, ins Café italien zu gehen und einen Schoppen Walliser zu trinken.

Als ich wiederkam, hatten nach Kern Almeras von Genf, Homberger, Blanchenay von Waadt und Castoldi von Genf gesprochen, mehr oder weniger Lokalgrößen, deren eidgenössischer Ruhm erst im Entstehen ist. Am Sprechen war Eytel von Waadt.

Herr Eytel kann in der Schweiz, wo die Menschen in demselben Verhältnis groß sind wie das gewöhnliche Rindvieh, für einen feingewachsenen Mann gelten, obwohl er in Frankreich als jeune homme fort robuste <sehr kräftiger jungen Mann> passieren würde. Er hat ein hübsches, feines Gesicht mit blondem Schnurrbart und blondem Lockenhaar und erinnert, wie die Waadtländer überhaupt, mehr als andre welsche Schweizer an einen Franzosen. Daß er eine der Hauptstützen der ultraradikalen, rotrepublikanischen Waadtländer ist, brauche ich nicht erst zu sagen. Er ist übrigens auch noch jung und gewiß nicht älter als <95> Escher. Herr Eytel sprach mit großer Lebhaftigkeit gegen die eidgenössischen Repräsentanten.

"Sie haben sich in Tessin benommen, als ob Tessin nicht ein souveräner Staat, sondern eine Provinz wäre, die sie als Prokonsule zu verwalten hätten; wahrlich, wären die Herren in einem französischen Kanton so aufgetreten, ihres Bleibens wäre nicht länger dort gewesen! Und die Herren, statt Gott zu danken, daß die Tessiner sich all ihre Herrschergelüste und Phantasien so ruhig gefallen ließen, beklagen sich noch über schlechte Aufnahme!"

Herr Eytel spricht recht gut, aber etwas zu weitschweifig. Es geht ihm wie allen französischen Schweizern: Die Pointe ist ihnen abhanden gekommen.

Der alte Steiger sprach vom Präsidentenstuhl aus auch einige Worte zugunsten der Majoritätsanträge, und sodann erhob sich zum zweitenmal unser Alcibiades Escher, um seine schon einmal erzählte Geschichte zum zweitenmal zu erzählen. Diesmal aber versuchte er einen rhetorischen Schluß, dem man das Schulpensum indes auf drei Meilen weit ansah.

"Entweder sind wir neutral, oder wir sind es nicht, was wir aber sind, müssen wir ganz sein; und die alte Schweizertreue erfordert, daß wir unser Wort halten, sei es auch einem Despoten gegeben."

Aus diesem neuen und schlagenden Gedanken pumpte der unermüdliche Arm des Herrn Escher den Strom einer feierlichen Peroration heraus, und als sie vollendet war, setzte sich Alcibiades, sichtlich zufrieden, wieder hin.

Herr Tanner von Aarau, Obergerichtspräsident, der sich nun erhob, ist ein mittelgroßes, dünnes Männchen, das sehr laut spricht, und zwar sehr gleichgültige Dinge. Seine Rede war im Grunde weiter nichts als die hundertmalige Wiederholung eines einzigen grammatischen Fehlers.

Ihm folgte Herr Maurice Barman aus Französisch-Wallis. Man sieht ihm nicht an, daß er 1844 am Pont de Trient sich so tapfer geschlagen hat, als die Oberwalliser unter Anführung derer von Kalbermatten, von Riedmatten und anderen Matten den Kanton kontrerevolutionierten. Herr Barman hat ein ruhig-bürgerliches, doch kein unangenehmes Äußere; er spricht bedächtig und etwas abgebrochen. Er wies die Persönlichkeiten Bergs gegen Luvini zurück und sprach für Pioda.

Herr Battaglini aus Tessin, der etwas bürgerlich aussieht und einen boshaften Beobachter an den Dottore Bartholo des "Figaro" erinnern könnte, las eine längere französische Abhandlung über Neutralität zugunsten seines Kantons ab, die zwar ganz richtige Prinzipien enthält, aber sehr oberflächlich angehört wurde.

<96> Auf einmal hörte das Geplauder und Herumlaufen in der Versammlung auf. Die größte Stille trat ein, und alle Blicke richteten sich auf einen alten, bartlosen, kahlköpfigen Mann mit langer, gebogner Nase, der in französischer Sprache zu reden anfing. Dieser kleine alte Mann, der in seiner einfachen schwarzen Kleidung und seinem ganz bürgerlichen Äußern eher einem Gelehrten als allem andern glich und nur durch ein ausdrucksvolles Gesicht und einen beweglichen, penetranten Blick auffiel, war der General Dufour, derselbe, dessen umsichtige Strategik den Sonderbund fast ohne Blutvergießen erstickte. Welch ein Abstand von den deutsch-schweizerischen Offizieren der Versammlung! Diese Michel, Ziegler, Berg usw., diese biedern Haudegen, diese pedantischen Schnurrbärte machen gegenüber dem kleinen, unscheinbaren Dufour eine höchst charakteristische Figur. Man sieht auf den ersten Blick, wie Dufour der Kopf war, der den ganzen Sonderbundkrieg [lenkte], und diese würdevollen Ajaxe nur die Fäuste, die er zur Ausführung seiner Beschlüsse gebraucht. Die Tagsatzung hatte wirklich richtig gewählt und den notwendigen Mann getroffen.

Aber wenn man Dufour reden hört, erstaunt man erst. Dieser alte Genieoffizier, der sein Leben lang bloß Artillerieschulen organisiert, Reglements entworfen und Batterien inspiziert, der sich nie in parlamentarische Verhandlungen gedrängt, nie öffentlich gesprochen hat, tritt auf mit einer Sicherheit, spricht mit einem Fluß, einer Eleganz und einer Präzision, einer Klarheit, die bewundernswert und im schweizerischen Nationalrat einzig ist. Dieser maidenspeech <diese Jungfernrede> Dufours über die Tessiner Angelegenheit würde, was Form und Vortrag angeht, in einer französischen Kammer das größte Aufsehen erregt haben und übertrifft in jeder Beziehung bei weitem die dreistündige Rede, wodurch Cavaignac sich zum ersten Advokaten von Paris gemacht hat - wenn man nach dem Abdruck im "Moniteur" urteilen kann. Die Schönheit der Sprache ist aber bei einem Genfer doppelt anzuerkennen. Die Nationalsprache von Genf ist ein kalvinistisch-reformiertes Französisch, breit, platt, arm, tonlos und ermattet. Aber Dufour sprach kein Genferisch, sondern wirkliches, echtes Französisch. Und dazu waren die Gesinnungen, die er kundgab, so nobel, so soldatisch im guten Sinne des Worts, daß sie die brotneidischen Eifersüchteleien, die kleinlichen Kantönliborniertheiten der deutsch-schweizerischen Offiziere erst recht grell hervortreten ließen.

"Ich freue mich, daß die Neutralität im Munde aller ist", sprach Dufour. "Aber worin besteht die Neutralität? Sie besteht darin, daß wir nichts unternehmen oder unternehmen lassen, wodurch der Friedenszustand zwischen der Schweiz und den <97> Nachbarstaaten gefährdet wird. Nichts weniger, aber auch nichts mehr. Wir haben also das Recht, den fremden Flüchtlingen ein Asyl zu gestatten, es ist ein Recht, worauf wir stolz sind. Wir sehen es als eine Pflicht an, die wir dem Unglück schuldig sind. Aber unter einer Bedingung: daß der Flüchtling sich unsern Gesetzen unterwerfe, daß er nichts unternehme, was unsere innere und äußere Sicherheit gefährdet. Daß ein von der Tyrannei verjagter Patriot sich auch von unserm Gebiet aus bestrebt, die Freiheit seines Vaterlandes wiederzugewinnen, ich finde es erklärlich, ich mache ihm keinen Vorwurf daraus, aber auch wir haben dann zu sehen, was wir zu tun haben. Wenn daher der Flüchtling seine Feder spitzt oder seine Flinte ergreift gegen die Nachbarregierung, gut, so werden wir ihn nicht ausweisen, das wäre ungerecht, aber von der Grenze entfernen, ihn internieren. Das gebietet unsere eigne Sicherheit, unsre Rücksicht auf die Nachbarstaaten; nichts weniger, aber auch nichts mehr. Schreiten wir dagegen ein nicht bloß gegen den Freischärler, der ins fremde Gebiet eingefallen, sondern auch gegen den Bruder, den Vater des Freischärlers, gegen den, der ruhig geblieben, so tun wir mehr als wir müssen, so sind wir nicht mehr unparteiisch, so ergreifen wir Partei für die fremde Regierung, für den Despotismus, gegen seine Schlachtopfer." (Allgemeines Bravo) "Und gerade jetzt, wo Radetzky, ein Mann, mit dem gewiß niemand in dieser Versammlung sympathisiert, wo er bereits von uns diese ungerechte Entfernung aller Flüchtlinge von der Grenze verlangt hat, wo er seine Forderung durch Drohungen, ja durch feindselige Maßregeln unterstützt, gerade jetzt ziemt es uns am allerwenigsten, der ungerechten Forderung eines übermächtigen Gegners nachzukommen, weil es aussieht, als hätten wir der Übermacht nachgegeben, als hätten wir diesen Beschluß gefaßt, weil ein Stärkerer ihn von uns verlangt." (Bravo.)

Ich bedaure, nicht mehr von dieser Rede und nicht wörtlichere Auszüge geben zu können. Aber Stenographen gibt's hier nicht, und ich. muß aus der Erinnerung aufschreiben. Genug, Dufour erstaunte die ganze Versammlung ebensosehr durch seine Rednergabe und durch die Anspruchslosigkeit seines Vortrags wie durch die schlagenden Argumente, die er vorbrachte, und setzte sich mit der Erklärung, er stimme für Pioda, unter allgemeinem Beifall nieder. Ich habe sonst nie Beifallsbezeugungen im Nationalrat während der Diskussion gehört. Die Sache war entschieden, nach Dufours Rede war nichts mehr zu sagen, der Antrag Piodas war durchgesetzt.

Aber damit war den in ihrem Gewissen erschütterten Kantönlirittern nicht gedient, und auf den Ruf nach Schluß antworteten sie durch 48 Stimmen für Fortsetzung der Debatte. Nur 42 stimmten für den Schluß; die Diskussion ging also weiter. Herr Veillon von Waadt schlug vor, die ganze Sache dem Bundesrat zu überweisen. Herr Pittet von Waadt, ein hübscher Mann mit französischen Zügen, sprach für Pioda, fließend, aber breit und doktrinär, und die Debatte schien eingeschlafen, als endlich Herr Bundespräsident Furrer sich erhob.

<98> Herr Furrer ist ein Mann in seinen besten Jahren, das Seitenstück zu Alcibiades Escher. Wenn dieser Schweizer-Athen vertritt, so repräsentiert Herr Furrer Zürich. Neigt Escher zum Professor, so neigt Furrer zum Zunftmeister hin. Beide zusammen repräsentieren Zürich vollständig.

Herr Furrer ist natürlich ein Mann der unbedingtesten Neutralität, und als er durch Dufours Rede sein System gewaltig bedroht sah, mußte er die äußersten Mittel aufbieten, um sich die Majorität zu sichern. Herr Furrer war zwar erst seit drei Tagen Bundespräsident, aber dessenungeachtet bewies er, daß er die Politik der Kabinettsfragen versteht trotz Duchâtel und trotz Hausemann. Er erklärte, der Bundesrat sei ungeheuer begierig auf den Beschluß des Nationalrats, weil dieser Beschluß der ganzen Politik der Schweiz die entscheidende Wendung geben werde usw., und nach einiger Ausschmückung dieser captatio benevolentiae <Werbung um die Gunst des Hörers> ging er allmählich dazu über, auseinanderzusetzen, was seine Meinung sei und die Meinung der Majorität des Bundesrats, nämlich, daß es bei der Neutralitätspolitik sein Bewenden haben müsse und daß die Ansicht der Majorität der Kommission auch die der Majorität des Bundesrates sei. Und das alles sagte er mit so feierlicher Würde und so eindringlicher Stimme, daß die Kabinettsfrage aus jeder Silbe seiner Rede her vorsah. Nun muß man wissen, daß in der Schweiz die vollziehende Gewalt nicht wie in der konstitutionellen Monarchie oder der neuen französischen Verfassung eine selbständige Gewalt neben der gesetzgebenden, sondern daß sie bloß der Ausfluß und der Arm der gesetzgebenden Gewalt ist. Man muß wissen, daß es hier gar nicht Gebrauch ist, daß die vollziehende Gewalt zurücktritt, wenn die gesetzgebende Versammlung etwas andres beschließt, als sie wünscht; im Gegenteil pflegt sie diesen Beschluß gehorsamst zu vollziehen und auf bessere Zeiten zu warten. Und da die vollziehende Gewalt ebenfalls aus einem gewählten Rat besteht, der auch verschiedene Nuancen enthält, so hat es gar nicht so viel zu sagen, wenn die Minorität im vollziehenden Rat in manchen Fragen die Majorität im gesetzgebenden Rat hat. Und hier waren wenigstens zwei Bundesräte, Druey und Franscini, für Pioda und gegen Furrer. Dieser Appell Furrers an die Versammlung war also nach Schweizer Sitte und Anschauungsweise ganz unparlamentarisch. Aber einerlei! Die gewichtige Stimme des Herrn Bundespräsidenten gab den Kantönlirittern wieder Courage, und als er sich setzte, versuchten sie sogar ein verhallendes Bravo und schrien nach Schluß.

Der alte Steiger war aber billig genug, vorher Herrn Pioda als Berichterstatter der Minorität noch das Wort zu geben. Pioda sprach mit derselben <99> Ruhe und demselben Anstand wie früher. Er widerlegte nochmals alle Einwürfe, indem er die Debatte kurz resümierte. Er verteidigte mit Wärme seinen Freund Luvini, dessen fougueuse <feurige> Beredsamkeit ihn vielleicht hier zu weit fortgerissen, aber bei einer früheren Gelegenheit, man solle es nicht vergessen, der Schweiz seinen Kanton erhalten habe. Endlich kam er auf Airolo und bedauerte, daß dies Wort hier vorgebracht, daß es vollends von einer Seite vorgebracht, von der er es am wenigsten erwartete.

"Es ist wahr", sagte er, "wir haben bei Airolo eine Niederlage erlitten. Aber wie ging das zu? Wir standen allein da, unser kleiner, dünnbevölkerter Kanton gegen die ganze Wucht der Urkantone und des Wallis, die sich auf uns warfen und uns, nachdem wir uns tapfer verteidigt, erdrückten. Es ist wahr, wir sind geschlagen worden. Aber geziemt es Ihnen" (zu Michel gewandt), "uns daraus einen Vorwurf zu machen? Sie, meine Herren, Sie sind Schuld daran, daß wir geschlagen wurden. Sie sollten auf der Oberalp sein und den Sonderbündlern in die Flanke fallen, und wer nicht da war, wer uns im Stich ließ, das waren Sie, und deshalb wurden wir geschlagen. Ja, Sie sind gekommen, meine Herren, aber als es zu spät, als alles vorüber war - da endlich sind Sie gekommen!"

Wütend und mit krebsrotem Gesicht sprang Oberst Michel auf und erklärte dies für eine Lüge und Verleumdung. Durch lautes Murren und die Klingel des Präsidenten zur Ordnung gerufen, fuhr er etwas ruhiger fort. Er wisse nichts davon, daß er habe auf der Oberalp sein sollen. Er wisse bloß, daß, als er gerufen worden sei, er den Tessinern zu Hülfe gekommen, und zwar er zu allererst.

Pioda erwiderte ebenso ruhig wie vorher: es sei ihm nicht eingefallen, Herrn Michel persönlich angreifen zu wollen, er habe nur von den Graubündnern im allgemeinen gesprochen, und da sei es allerdings ein Faktum, daß sie hätten von der Oberalp herab die Tessiner unterstützen sollen. Wenn Herr Michel das nicht wisse, so sei das leicht erklärlich, da er damals bloß ein Bataillon kommandiert habe und also die allgemeinen Dispositionen des Feldzugs ihm sehr wohl unbekannt geblieben sein könnten.

Mit diesem Intermezzo, das noch zu verschiedenen Privatverhandlungen zwischen diesen Herren außerhalb des Versammlungssaals führte und endlich durch beiderseitig zufriedenstellende Erklärungen beigelegt wurde, schloß die Debatte. Die Abstimmung erfolgte durch Namensaufruf. Die Franzosen und vier bis fünf Deutsche stimmten mit den Tessinern; die Masse der deutschen Schweizer stimmten dagegen; Tessin wurde des Asylrechts beraubt, Radetzkys Forderungen wurden zugestanden, die Neutralität um jeden Preis <100> proklamiert, und Herr Furrer konnte mit sich und dem Nationalrat zufrieden sein.

Das ist der schweizerische Nationalrat, die Blüte der schweizerischen Staatsmänner. Ich finde, daß sie nur durch eine Tugend sich vor andern Gesetzgebern auszeichnen: durch eine größere Geduld.

Geschrieben von Friedrich Engels.