[Neuer preußischer Fußtritt für die Frankfurter] | Inhalt | [Elberfeld]

Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 493-499
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Die neue Standrechts-Charte

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 299 vom 16. Mai 1849]

<493> *Köln ,15. Mai. Wir haben noch von den neuesten landesväterlichen Absichten des Potsdamer Unterknäs um seine durch Raub und Menschenschacher ihm "angestammten" Untertanen Akt zu nehmen. Wir meinen die neu oktroyierte Standrechts-Charte <Siehe "Die neue preußische Verfassung">, diese einzig wahre von allen Hohenzollernschen Verheißungen, in welcher die preußische Herrlichkeit sich endlich auch den stupidesten Vertrauensgimpeln in ihrer natürlichsten Nacktheit, entblößt von dem letzten heuchlerischen Komödiantenplunder, offenbart hat.

Die Verjagung der harmlosen Berliner Kammern, welche die oktroyierte Verfassung vom 5. Dezember "revidieren" sollten, war bekanntlich nur die notwendige Vorbereitung zu dem Einmarsch der Russen auf deutschem Boden. Aber die Vereinbarung des Potsdamer Baschkirentums mit den stammverwandten hundenüstrigen Kosaken des Prawoslawny-Zar hatte noch einen andern Zweck als den berühmten Dreifaltigkeitszug gegen Ungarn, in welchem Preußen seiner feigen perfiden Natur nach als Polizeibüttel mit Steckbriefen am Tore stand, während die östreichischen und russischen Henker drinnen die Mordjagd anstellen sollten. Der wahre Zweck dieses Hohenzollernschen Bündnisses war, dem Potsdamer Helden durch Einmarsch der Russen den nötigen Mut einzublasen, um an der Revolution für das im März v. J. ihm abgedrungene Geständnis der Feigheit Rache zu nehmen.

Wir brauchen, um die den Hohenzollern zu allen Zeiten ureigene und natürliche Feigheit zu beweisen, keine geschichtlichen Exkursionen zu machen und vielleicht gar zu den Ahnen dieser edlen Sippschaft hinaufzusteigen, welche hinter Sträuchern und Hecken auf wehrlose Reisende lauerten und also als Buschklepper den Grundstein zu dem "Glanz des Hauses" legten. Wir <494> brauchen weder an den renommistischen Feldzug Friedrich Wilhelms II. gegen die französische Republik zu erinnern, in welchem der große Hohenzoller zuerst Reißaus nahm und die deutschen "Reichstruppen" verriet, um mit Rußland den neuen polnischen Raub ins Werk zu setzen; noch weniger haben wir nötig, von der erbärmlichen Rolle zu sprechen, welche sein Nachfolger Friedrich Wilhelm III. in den Kaiserkriegen spielte, bevor er "Sein Volk" durch lügnerische Versprechungen in den Kampf jagte. Die Geschichte der "Märzerrungenschaften" war nur die Fortsetzung der alten "angestammten" Feigheit und Perfidie. Die Vereinbarungsversammlung war die erste Konzession der Feigheit an die Revolution, welche die berühmten Prahlereien von dem "Stück Pergament" ablöste; sie wurde auseinandergejagt, als der Fall Wiens dem wiedererstarkten Hohenzoller den gehörigen Mut dazu an die Hand gab. Die oktroyierte Verfassung mit den "revidierenden" Kammern war die zweite feige Heuchelei, da die "ungeschwächte Krone" zu dieser Zeit immer noch einige liberale Konzessionen für nötig befand. Die Kammer wurde nach Hause geschickt, als die Verschwörung mit dem russischen Kaiser und Herrn zum ersehnten Abschluß gekommen war. Aber erst der wirkliche Einmarsch der Russen auf deutschem Boden, die sichere Nähe der schützenden Kosaken gaben dem Hohenzoller den Mut, mit dem letzten Plan herauszurücken: Aufhebung der letzten heuchlerischen "Konstitutionsgarantien" durch die unbeschränkteste, willkürlichste Säbeldiktatur, Suspension der alten, selbst vormärzlichen Gesetze und Gerichte, Rache mit "Pulver und Blei" an der Revolution für die in den Märzkonzessionen proklamierte hohenzollersche Feigheit.

Dies ist die historische Entstehung der neu oktroyierten Standrechtsverfassung. Sehen wir uns jetzt den Inhalt derselben an.

Nach Art. 1 und 2 kann "für den Fall eines Aufruhrs" nicht nur jeder Festungskommandant seine Festung, sondern auch jeder "kommandierende General" den ganzen Bezirk des Armeekorps in Belagerungszustand erklären.

"Für den Fall eines Aufruhrs", c'est-à-dire <das heißt>, wenn der Kommandant oder General für gut befindet, den "Fall eines Aufruhrs" vorauszusehen. Oder sollten die Hohenzollernschen Minister, in deren Stilübungen gewöhnlich der merkwürdigste Überfluß an Mangel grammatischer Kenntnisse vorherrscht, sagen wollen: "Im Fall eines Aufruhrs"? Die Interpretation wird dem erprobten Verstand der Generale und Kommandanten überlassen bleiben.

"Für den Fall eines Aufruhrs" also kann der Kommandant seine Festung, der kommandierende General aber eine ganze Provinz in Belagerungszustand <495> erklären. Die Grenzen dieses "Falls" sind nicht bestimmt. Ob der "Fall des Aufruhrs" gerade innerhalb der Festung oder Provinz sich anzeigen muß oder die Festung oder Provinz nur aus größerer oder geringerer Entfernung zu bedrohen braucht -, das wird ebenfalls nur der "Takt" der Generale und Kommandanten herauszufühlen haben. Und der "Takt" ist nach dem großen Wort des Generallieutenant Tietzen das erste Erfordernis eines preußischen Offiziers.

Die Macht des Generals "für den Fall eines Aufruhrs" ist jedoch im Interesse aller Rechtsbodenschwärmer höchst merkwürdig wieder beschränkt worden. Nur "für den Fall eines Krieges" sollen Generale und Kommandanten selbständig die Provinzen und Festungen in Belagerungszustand erklären können. "Für den Fall eines Aufruhrs" aber, erklärt Art. 2 der neuen Charte, geht die Verkündigung des Belagerungszustandes vom Ministerium aus; der Kommandant soll seine Festung, der General die Provinz "für diesen Fall" nur provisorisch, vorbehaltlich der Bestätigung oder (!) Beseitigung durch das Ministerium, in Belagerungszustand erklären dürfen. Angenehme Sicherheit der aufruhrsbedrohten Untertanen! Haben wir nicht "verantwortliche" Minister? Ist nicht durch das bloße "Provisorium" der Kommandanten- und Generaldiktatur, durch die letzte Instanz der "verantwortlichen" Minister der "Rechtsboden" gerettet? Das "Provisorium" des Kommandanten oder Generals gibt zwar denselben nach Art. 7 und 13 das Recht, provisorisch die gewöhnlichen Gerichte zu suspendieren, provisorische Kriegsgerichte einzusetzen, welche dann ebenfalls provisorisch zum Tode verurteilen (Art. 8), und provisorisch die Todesurteile binnen 24 Stunden (Art. 13, § 7) vollstrecken zu lassen - aber der "Rechtsboden" ist immer durch die letzte Bestätigung der "verantwortlichen" Minister gerettet ind es lebe der Rechtsboden! Unser einziger stiller Wunsch ist dabei, daß an den Rechtsboden-Männern die ersten provisorischen Exekutionen im Namen Gottes und Sr. christlich-germanischen Unterknäsen-Majestät erprobt werden möchten.

["Neue Rheinische Zeitung" Nr. 300 vom 17. Mai 1849]

*Köln, 6. Mai. Cervantes erzählt irgendwo von einem braven Alguacil <Polizeidiener in Spanien> und seinem Schreiber, welche zum Schutz der öffentlichen Sittlichkeit zwei Weiber von weniger als zweideutigem Ruf unterhielten. Diese gefälligen Nymphen zogen bei großen Jahrmärkten oder sonstigen festlichen Gelegenheiten in einer Kleidung aus, daß man den Vogel schon von weitem an seinen <496> Federn erkennen konnte. Hatten sie irgendeinen Fremdling erwischt, so wußten sie sogleich ihre Liebhaber zu benachrichtigen, in welches Gasthaus sie gegangen seien; der Alguacil und sein Schreiber stürzten dann, zum großen Entsetzen der Weiber, herein, spielten die Eifersüchtigen und ließen den Fremden erst nach langem Flehen gegen Hinterlegung einer angemessenen Geldentschädigung entlaufen. Auf diese Weise hatten sie ihre eigenen Vorteile mit den Interessen der öffentlichen Sittlichkeit vereinigt, denn die Gerupften hüteten sich, so bald wieder ihren unlauteren Neigungen nachzugehen.

Wie diese Sittlichkeitswächter haben die preußischen Ordnungshelden ein vereinfachtes Verfahren, für die normale Standrechtsruhe zu sorgen. Die anreizende Aussendung einiger schnapsduftender Gerechtigkeitssäulen, einige verlockende Säbelhiebe unter das Volk, und die Aufruhrgelüste, welche dadurch in irgendeiner entlegenen Stadt oder einem Dorf hervorgerufen werden, gehen Gelegenheit, durch Verkündigung des Belagerungszustandes die ganze Provinz vor ferneren unlauteren Regungen zu wahren und um den letzten Rest ihres konstitutionellen Vermögens zu prellen.

Nach Art. 5 der neuen Standrechts-Charte kann der "Militärbefehlshaber" bei Erklärung des Belagerungszustandes distriktsweise die Art. 5-7 und 24-28 der letzten im Dezember oktroyierten "Errungenschaften" außer Kraft setzen.

Sehen wir, was noch übrigbleibt, wenn wir diese durch die neue Standrechts-Charte wegoktroyierten Artikel von den Märzverheißungen abziehen. "Für den Fall eines Aufruhrs" nach dem Belieben eines "Militärbefehlshabers" hört also auf:

Art. 5 der Dezemberverfassung: "Die persönliche Freiheit ist gewährleistet."

Art. 6. "Die Wohnung ist unverletzlich."

Art. 7. "Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden."

Art. 24. "Jeder Preuße hat das Recht, etc. seine Gedanken frei zu äußern."

Art. 25. "Vergehen, welche durch Wort, Schrift etc. begangen werden, sind nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen."

Art. 26. "Ist der Verfasser einer Schrift bekannt und im Bereich der richterlichen Gewalt, so sollen Drucker, Verleger, Verteiler nicht bestraft werden."

Art 27. "Alle Preußen sind berechtigt, sich friedlich und ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu versammeln."

Art. 28. "Alle Preußen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen.

<497> Sobald der Militärbefehlshaber "für den Fall eines Aufruhrs" den Belagerungszustand proklamiert, ist die "persönliche Freiheit" nicht mehr gewährleistet, die Wohnung nicht mehr für unverletzlich erklärt, hören die "gesetzlichen" Gerichte, Preßfreiheit, Schutz der Drucker und Vereinsrecht auf, und selbst die "Gesellschaften" der Philister: Kasinos und Bälle, deren "Zweck den Strafgesetzen nicht zuwiderläuft", können nur par grâce de M. le commandant <von des Herrn Kommandanten Gnaden>, keineswegs aber von "Rechts wegen" bestehen.

Zugleich verfügt Art. 4 der neuen Standrechts-Charte, daß

"mit der Erklärung des Belagerungszustandes" (pur et simple <schlicht und einfach>) "die vollziehende Gewalt an die Militärbefehlshaber übergehen soll und die Zivilverwaltungs- und Kommunalbehörden den Anordnungen und Aufträgen der Militärbefehlshaber Folge zu leisten haben".

Mit diesem Paragraphen sind denn glücklich alle gewöhnlichen Kommunal- und Verwaltungsformeln aufgehoben und die Ochsen der stumpfnüstrigen, arroganten Bürokratie als "Auftrags-Lakaien" in das Joch der souveränen Militärdiktatur gespannt.

Art. 8 und 9 enthalten die Strafen, mit denen die hohenzollersche Tatkraft noch unter Bajonetten und Kanonen ihre Sicherheit und Ordnung zu schützen gedenkt. Dies neue Strafgesetz hat jedenfalls vor allen langweiligen vereinbarten Rechtstheorien den Vorzug der Kürze.

Art. 8. "Wer an einem in Belagerungszustand erklärten Ort oder Bezirke der vorsätzlichen Brandstiftung, der vorsätzlichen Verursachung einer Überschwemmung" (welche Vorsicht !) "oder des Angriffs oder des Widerstandes gegen die bewaffnete Macht oder Abgeordnete der Zivil- und Militärbehörden in offener Gewalt und mit gefährlichen Waffen versehen sich schuldig macht, wird mit dem Tode bestraft."

"Widerstand gegen die bewaffnete Macht oder Abgeordnete der Behörden"! Man kennt die Taten "Meines herrlichen Kriegsheers", man weiß, wie die braven Pommern, Preußen und Wasserpolacken, welche im Interesse der Einheit so eifrig in die westlichen Provinzen gepfropft werden, nach allerhöchstem Beispiel ihren Mut erst aus den Umständen schöpfen und nach Entwaffnung der Bürger, wie in Düsseldorf, Breslau, Posen, Berlin, Dresden, den Belagerungszustand durch Ermordung der Wehrlosen, Weiber und Kinder krönen. Die "angestammten" Untertanen des Potsdamer Baschkiren-Knäs haben daher die höchst anerkennenswerte Freiheit, sich nach erklärtem Belagerungszustand von den mutvollen Exekutoren des landesväterlichen Wohl- <498> wollens "ordnungsmäßig" ermorden oder durch "Widerstand" standrechtlich erschießen zu lassen.

Sollen wir noch weiter von den Bestimmungen des Art. 9 sprechen, wonach Verbreitung von Nachrichten, welche die Behörden "irreführen", Übertretung eines "im Interesse der öffentlichen Sicherheit erlassenen Verbotes" usw. bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft werden soll und selbst die allerordinärsten Polizei - und Gendarmenfunktionen fernerhin eine standrechtliche Vervollkommnung erhalten?

Sollen wir auf die feige Perfidie eingehen, mit welcher der Hohenzollersche Landesvater und seine Spießgesellen Simons-von der Heydt-Manteuffel die Bildung der militärischen Standrechtsgerichte aus drei "höheren Offizieren" und zwei von dem Militärbefehlshaber zu ernennenden Zivilrichtern verordnen, um vor den stupiden Bourgeois den Schein einer "richterlichen" Prozedur zu bewahren und doch durch die Überzahl der militärischen Mordknechte zugleich der Verurteilung sicher zu sein?

Sollen wir von den verschiedenen Bestimmungen des Art. 13 über das "Verfahren vor Kriegsgerichten" Akt nehmen, worin von einem Zeugenbeweis nirgend die Rede ist, sondern im Sinne des Mordhundes Windischgrätz offenbar "nach Zusammentreffen von Umständen" geurteilt werden kann?

Von den Bestimmungen, daß gegen die Urteile der Standrechtshöfe kein Rechtsmittel stattfinde, daß die Todesurteile lediglich vom "Militär-Befehlshaber" bestätigt und binnen 24 Stunden vollstreckt werden, daß endlich selbst nach Aufhebung des Belagerungszustandes bei noch nicht vollzogenen Standrechtsurteilen die "ordentlichen Gerichte" nur die Standrechtsstrafe in die gesetzliche Strafe zu verwandeln, die "Tat aber als erwiesen anzunehmen" und nicht über Richtigkeit oder Nichtigkeit der Anklage zu entscheiden haben?

Sollen wir uns endlich auf den letzten, besten Artikel dieser kosakenerstarkten neuen Verfassung einlassen, wonach "auch außer dem Belagerungszustand", also "nicht für den Fall eines Aufruhrs"' die Art. 5, 6, 24-28 der Dezember-Errungenschaft, die "persönliche Freiheit", die "Unverletzlichkeit der Wohnung"' die "Preßfreiheit" und das "Vereinsrecht" distriktsweise aufgehoben werden können?

Wir haben nach allen diesen Herrlichkeiten nicht nötig, allen wohlgesinnten Preußen zu den neuen, einzig wahren Verheißungen, dem endlichen wahren Ausbruch des landesväterlichen Wohlwollens infolge der Kosakennähe, von Herzen Glück zu wünschen. Wir freuen uns aufrichtig über diese blutige Züchtigung der ordnungswütigen Bourgeoisseelen und elenden Rechtsbodentölpel.

<499> Das Volk aber wird durch diese neue Errungenschaft das Maß seiner Rache an einem lügenhaften, feigen Landplagengeschlecht bald erfüllt finden und das Rheinland vor allem die langersehnte Stunde nicht verstreichen lassen, wo wir rufen: Ça ira!

Die magere Ritterschaft
wird nun von dannen reisen,
Und der Abschiedstrunk wird ihnen kredenzt
Aus langen Flaschen von Eisen!
<H. Heine, "Deutschland. Ein Wintermärchen", Kaput VIII>