Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 6, S. 567-561
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1959

Friedrich Engels

[Die französische Arbeiterklasse und die Präsidentenwahl]

<557> *Paris, Raspail oder Ledru-Rollin? Sozialist oder Montagnard? Das ist die Frage, die jetzt die Partei der roten Republik in zwei feindliche Lager teilt.

Worum handelt es sich eigentlich in diesem Streit?

Fragt die Journale der Montagnards, die "Réforme", die "Révolution", und sie werden Euch sagen, daß sie es selbst nicht entdecken können; daß die Sozialisten buchstäblich dasselbe Programm der permanenten Revolution, der Progressiv- und Erbschaftssteuer, der Organisation der Arbeit aufstellen, das der Berg aufgestellt hat; daß gar kein Streit um Prinzipien vorhanden ist und daß der ganze unzeitige Skandal von einigen Neidischen und Ehrgeizigen angestiftet worden ist, die die "Religion und den guten Glauben" des Volks täuschen und die Männer der Volkspartei aus Egoismus verdächtigen.

Fragt das Journal der Sozialisten, den "Peuple", und es wird euch mit bittern Expektorationen über die Unwissenheit und Hohlköpfigkeit der Montagnards, mit endlosen juristisch-moralisch-ökonomischen Abhandlungen und schließlich mit dem geheimnisvollen Wink antworten, es handle sich im Grunde um die neue Panazee des Bürgers Proudhon, die im Begriff sei, den alten sozialistischen Phrasen aus der Schule Louis Blancs den Rang abzulaufen.

Fragt endlich die sozialistischen Arbeiter, und sie werden euch kurz zur Antwort gehen: Ce sont des bourgeois, les montagnards. <Das sind Bourgeois, die Montagnards>

Die einzigen, die den Nagel auf den Kopf treffen, sind wieder die Arbeiter. Sie wollen vom Berge nichts wissen, weil der Berg aus lauter Bourgeois besteht.

Die sozialistisch-demokratische Partei bestand schon vor dem Februar aus zwei verschiednen Fraktionen; erstens aus den Wortführern, Deputierten, <558> Schriftstellern, Advokaten usw. mit ihrem nicht unbeträchtlichen Schweif kleiner Bourgeois, die die eigentliche Partei der "Réforme" bildeten; zweitens aus der Masse der Pariser Arbeiter, die keineswegs unbedingte Nachfolger der ersteren, sondern im Gegenteil sehr mißtrauische Bundesgenossen waren und sich ihnen bald enger anschlossen, bald weiter von ihnen entfernten, je nachdem die Leute von der "Réforme" entschiedner oder schwankender auftraten. In den letzten Monaten der Monarchie war die "Réforme", infolge ihrer Polemik mit dem "National", sehr entschieden aufgetreten, und das Verhältnis zwischen ihr und den Arbeitern war ein sehr intimes.

Die Leute von der "Réforme" traten daher auch als Vertreter des Proletariats in die provisorische Regierung.

Wie sie in der provisorischen Regierung in der Minorität waren und dadurch, unfähig das Interesse der Arbeiter durchzusetzen, nur den "reinen" Republikanern dazu dienten, die Arbeiter solange hinzuhalten, bis die reinen Republikaner die öffentliche Gewalt, die jetzt ihre Gewalt gegenüber den Arbeitern war, wieder organisiert hatten; wie der Chef der "Réforme"-Partei, Ledru-Rollin, sich durch Lamartines Aufopferungsphrasen und durch den Reiz der Macht bereden ließ, in die Exekutivkommission zu treten; wie er dadurch die revolutionäre Partei spaltete, schwächte, teilweise der Regierung zur Verfügung stellte, und so die Insurrektionen des Mai und Juni scheitern machte, ja selbst gegen sie kämpfte - das alles braucht hier nicht weiter ausgeführt zu werden. Die Tatsachen sind noch zu frisch im Gedächtnis.

Genug, nach der Juniinsurrektion, nach dem Sturz der Exekutivkommission und der Erhebung der reinen Republikaner zur ausschließlichen Herrschaft in der Person Cavaignacs, waren der Partei der "Réforme", der demokratisch-sozialistischen kleinen Bourgeoisie, alle Illusionen über die Entwicklung der Republik vergangen. Sie war in die Opposition gestoßen, sie war wieder frei, machte wieder Opposition und knüpfte ihre alten Verbindungen mit den Arbeitern wieder an.

Solange keine wichtigen Fragen vorkamen, solange es sich nur um die Bloßstellung der feigen, verräterischen und reaktionären Politik Cavaignacs handelte, solange konnten die Arbeiter es sich gefallen lassen, in der Presse durch die "Réforme" und "Révolution démocratique et sociale" vertreten zu sein. Die "Vraie République" und die eigentlichen Arbeiterblätter waren ohnehin schon durch den Belagerungszustand, durch Tendenzprozesse und Kautionen unterdrückt worden. Ebenso konnten sie es sich gefallen lassen, in der Nationalversammlung durch den Berg sich vertreten zu lassen. Raspail, Barbés, Albert waren verhaftet, Louis Blanc und Caussidiere mußten flüchten. Die Klubs waren teils geschlossen, teils unter strenger Aufsicht, und die <559> alten Gesetze gegen die Redefreiheit bestanden und bestehen noch fort. Wie man sie gegen die Arbeiter anzuwenden versteht, davon gaben die Journale täglich Beispiele genug. Die Arbeiter, in der Unmöglichkeit, ihre eignen Vertreter sprechen zu lassen, mußten sich wieder mit denen begnügen, von denen sie vor dem Februar vertreten worden waren - von den radikalen kleinen Bourgeois und ihren Wortführern.

Da taucht die Präsidentschaftsfrage auf. Drei Kandidaten stehn da:

Cavaignac, Louis-Napoleon, Ledru-Rollin. Von Cavaignac konnte für die Arbeiter keine Rede sein. Der Mann, der sie im Juni mit Kartätschen und Brandraketen zusammengeschossen, konnte nur auf ihren Haß rechnen. Louis Bonaparte? Für ihn konnten sie nur aus Ironie stimmen, um ihn heute durch die Abstimmung zu erheben, morgen durch die Waffen wieder zu stürzen und mit ihm die honette, "reine" Bourgeoisrepublik. Und endlich Ledru-Rollin, der sich den Arbeitern als der einzige rote, sozialistisch-demokratische Kandidat empfahl.

Also nach den Erfahrungen von der provisorischen Regierung, vom 15. Mai und 24. Juni her, verlangte man von den Arbeitern, daß sie der radikalen kleinen Bourgeoisie und Ledru-Rollin abermals ein Vertrauensvotum geben sollten? denselben Leuten, die am 25. Februar, als das bewaffnete Proletariat Paris beherrschte, als alles durchzusetzen war, statt revolutionärer Taten nur erhabne Beruhigungsphrasen, statt rascher, entscheidender Maßregeln nur Versprechungen und Vertröstungen, statt der Energie von [17]93 nur die Fahne, die Redensart, die Titulaturen von 93 hatten? denselben Leuten, die mit Lamartine und Marrast riefen: Man muß vor allem die Bourgeois beruhigen, und die darüber die Revolution fortzuführen vergaßen? denselben Leuten, die am 15. Mai unentschieden waren, und die am 23. Juni Artillerie von Vincennes und Bataillone von Orléans und Bourges holen ließen?

Und doch hätte das Volk vielleicht, um die Stimmen nicht zu teilen, für Ledru-Rollin gestimmt. Aber da kam seine Rede vom 25. November gegen Cavaignac, worin er abermals sich auf die Seite der Sieger stellt, Cavaignac zum Vorwurf macht, daß er nicht energisch genug gegen die Revolution eingeschritten, nicht noch mehr Bataillone gegen die Arbeiter bereit gehabt habe.

Diese Rede hat Ledru-Rollin bei den Arbeitern vollends um allen Kredit gebracht. Auch jetzt noch, nach fünf Monaten, nachdem er alle Folgen der Junischlacht sozusagen an seinem eignen Leibe hat büßen müssen, auch jetzt noch hält er es, gegenüber den Besiegten, mit den Siegern, ist er stolz darauf, mehr Bataillone gegen die Insurgenten verlangt zu haben, als Cavaignac stellen konnte!

<560> Und der Mann, dem die Junikämpfer nicht rasch genug besiegt wurden, der will Chef der Partei sein, die die Erbschaft der Erschlagnen des Juni angetreten hat?

Nach dieser Rede war Ledru-Rollins Kandidatur bei den Pariser Arbeitern verloren. Die Gegenkandidatur Raspails, schon früher aufgestellt, schon früher von den Sympathien der Arbeiter umgeben, hatte in Paris gesiegt. Hätten die Stimmzettel von Paris zu entscheiden, Raspail wäre jetzt Präsident der Republik.

Die Arbeiter wissen sehr gut, daß Ledru-Rollin noch nicht ausgespielt hat, daß er der radikalen Partei noch große Dienste leisten kann und wird. Aber er hat das Vertrauen der Arbeiter verscherzt. Seine Schwäche, seine kleine Eitelkeit, seine Abhängigkeit von hochfahrenden Phrasen, wodurch sogar Lamartine ihn beherrschte, sie, die Arbeiter, haben sie büßen müssen. Kein Dienst, den er leisten kann, wird dies vergessen machen. Die Arbeiter werden immer wissen, daß, wenn Ledru-Rollin wieder energisch wird, seine Energie nur die der bewaffneten Arbeiter ist, die treibend hinter ihm stehn werden.

Indem die Arbeiter Ledru-Rollin ein Mißtrauensvotum gaben, gaben sie zugleich der ganzen radikalen Kleinbürgerschaft ein Mißtrauensvotum. Die Unentschiedenheit, die Abhängigkeit von den hergebrachten Phrasen des dévoûment <der Ergebenheit> etc., das Vergessen der revolutionären Handlungen über den revolutionären Reminiszenzen sind lauter Eigenschaften, die Ledru-Rollin mit der Klasse teilt, die er vertritt.

Die radikalen Kleinbürger sind bloß deshalb sozialistisch, weil sie ihren Ruin, ihren Übergang ins Proletariat klar vor Augen sehn. Nicht als Kleinbürger, als Besitzer eines kleinen Kapitals, sondern als zukünftige Proletarier schwärmen sie für Organisation der Arbeit und Umwälzung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit. Gebt ihnen die politische Herrschaft, so werden sie die Organisation der Arbeit bald vergessen. Die politische Herrschaft gibt ihnen ja, wenigstens im Rausch des ersten Augenblicks, Aussicht auf Kapitalerwerb, auf Rettung vom drohenden Ruin. Nur wenn die bewaffneten Proletarier mit gefälltem Bajonett hinter ihnen stehn, nur dann werden sie sich ihrer Bundesgenossen von gestern erinnern. So haben sie im Februar und März gehandelt, und Ledru-Rollin, als ihr Chef, war der erste, der so handelte. Wenn sie jetzt enttäuscht sind, ändert das die Stellung der Arbeiter zu ihnen? Wenn sie bußfertig wiederkommen, haben sie das Recht zu verlangen, daß die Arbeiter jetzt unter ganz andern Verhältnissen abermals in die Falle gehn sollen?

<561> Daß die Arbeiter dies nicht tun werden, daß sie wissen, wie sie zu den radikalen kleinen Bourgeois stehn, das geben sie ihnen zu verstehn, indem sie nicht für Ledru-Rollin stimmen, sondern für Raspail.

Aber Raspail - wodurch hat sich denn Raspail um die Arbeiter so verdient gemacht?. Wie kann man ihn gegenüber von Ledru-Rollin als Sozialisten par excellence <reinsten Wassers> hinstellen?

Das Volk weiß recht gut, daß Raspail kein offizieller Sozialist, kein Systemmacher von Profession ist. Das Volk will die offiziellen Sozialisten und Systemmacher gar nicht, es hat sie satt. Sonst wäre der Bürger Proudhon sein Kandidat und nicht der heißblütige Raspail.

Aber das Volk hat ein gutes Gedächtnis und ist lange nicht so undankbar, wie verkannte reaktionäre Größen in ihrer Bescheidenheit zu sagen lieben. Das Volk erinnert sich noch sehr gut, daß Raspail der erste war, der der provisorischen Regierung ihre Untätigkeit, ihre Beschäftigung mit bloßem republikanischen Larifari vorwarf. Das Volk hat den "Ami du Peuple", par le citoyen <des Bürgers> Raspail, noch nicht vergessen, und weil Raspail zuerst den Mut hatte - es gehörte wirklich Mut dazu -, revolutionär gegen die provisorische Regierung aufzutreten, und weil Raspail gar keine bestimmte sozialistische couleur <Färbung>, sondern nur die soziale Revolution vertritt - darum stimmt das Volk von Paris für Raspail.

Es handelt sich gar nicht um die paar kleinlichen, im Manifest des Bergs feierlichst als weltrettend verkündeten Maßregeln. Es handelt sich um die soziale Revolution, die den Franzosen noch ganz andre Dinge bringen wird als diese zusammenhangslosen, bereits stehend gewordenen Phrasen. Es handelt sich um die Energie, diese Revolution durchzusetzen. Es handelt sich darum, ob die kleine Bourgeoisie diese Energie haben wird, nachdem sie schon einmal sich ohnmächtig erwiesen hat. Und das Proletariat von Paris, indem es für Raspail stimmt, antwortet: Nein!

Daher die Verwunderung der "Réforme" und "Révolution", daß man ihre Phrasen akzeptieren und doch nicht für Ledru-Rollin stimmen kann, der doch diese Phrasen vertritt. Diese braven Blätter, die sich für Arbeiterblätter halten und doch jetzt mehr als je vorher Blätter der kleinen Bourgeois sind, können natürlich nicht einsehn, daß dieselbe Forderung im Munde der Arbeiter revolutionär, in ihrem Munde eine bloße Phrase ist. Sie müßten ja sonst ihre eignen Illusionen nicht haben!

Und der Bürger Proudhon und sein "Peuple"? Davon morgen.

Geschrieben Anfang Dezember 1848 während des Aufenthalts von Engels in der Schweiz für die "Neue Rheinische Zeitung". Der Artikel blieb im Manuskript erhalten. Nach der Handschrift.