Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 8, "Revolution und Konterrevolution in Deutschland", S. 93-97
Dietz Verlag, Berlin/DDR, 1960

XVI - [Die Nationalversammlung und die Regierungen] | Inhalt | XVIII - [Die Kleinbürger]

XVII
[Der Aufstand]

<93> Der unvermeidliche Konflikt zwischen der Frankfurter Nationalversammlung und den Regierungen der deutschen Staaten brach in den ersten Maitagen 1849 endlich in offene Feindseligkeiten aus. Die österreichischen Abgeordneten, von ihrer Regierung abberufen, hatten die Versammlung bereits verlassen und waren nach Hause gefahren, mit Ausnahme einiger Mitglieder der Linken oder der demokratischen Partei. Die konservativen Mitglieder, die merkten, welche Wendung die Dinge zu nehmen drohten, zogen sich in ihrer überwiegenden Mehrheit sogar schon zurück, noch ehe sie von ihren betreffenden Regierungen dazu aufgefordert wurden. Ganz abgesehen von den Gründen, die, wie in unseren früheren Artikeln dargelegt, den Einfluß der Linken stärkten, genügte somit die bloße Tatsache, daß die Mitglieder der Rechten von ihren Posten desertierten, um die frühere Minderheit in die Mehrheit der Versammlung zu verwandeln. Die neue Mehrheit, die sich früher ein solches Glück nicht einmal im Traum hätte einfallen lassen, hatte ihre Oppositionsstellung dazu benutzt, gegen die Schwäche, die Unentschlossenheit, die Lässigkeit der alten Mehrheit und ihres Reichsverwesers große Reden zu führen. Jetzt war sie auf einmal dazu berufen, an die Stelle der alten Mehrheit zu treten. Sie sollte jetzt zeigen, was sie leisten könne. Natürlich, ihre Herrschaft konnte nur die Herrschaft der Energie, Entschlossenheit und Tatkraft sein. Sie, die Elite Deutschlands würde bald imstande sein, den senilen Reichsverweser und seine schwankenden Minister vorwärtszutreiben, und falls das nicht möglich sein sollte, würden sie - daran konnte kein Zweifel bestehen - kraft des souveränen Rechts des Volkes jene unfähige Regierung absetzen und durch eine energische, unermüdliche Exekutivgewalt ersetzen, die Deutschlands Rettung gewährleisten würde. Arme Teufel! Ihre Regierung - wenn von Regierung die Rede sein kann, wo niemand gehorcht - fiel noch lächerlicher aus als selbst die ihrer Vorgänger.

<94> Die neue Mehrheit erklärte, trotz aller Hindernisse müsse die Reichsverfassung durchgeführt werden, und zwar sofort; am nächsten 15. Juli solle das Volk die Abgeordneten zum neuen Reichstag wählen, und dieser solle darauf am 15. August in Frankfurt zusammentreten. Das war nun aber eine offene Kriegserklärung an jene Regierungen, die die Reichsverfassung nicht anerkannt hatten, darunter in erster Reihe Preußen, Österreich und Bayern, die mehr als Dreiviertel der Bevölkerung Deutschlands umfaßten - eine Kriegserklärung, die von ihnen eiligst angenommen wurde. Auch Preußen und Bayern beriefen jetzt die Abgeordneten ab, die von ihren Gebieten nach Frankfurt entsandt worden waren, und beschleunigten ihre militärischen Vorbereitungen gegen die Nationalversammlung. Auf der anderen Seite nahmen (außerhalb des Paramentes) die Demonstrationen der demokratischen Partei zugunsten der Reichsverfassung und der Nationalversammlung einen immer stürmischeren und gewaltsameren Charakter an, und die Masse des arbeitenden Volkes, geführt von den Männern der extremsten Partei, war bereit zu den Waffen zu greifen für eine Sache, die, wenn sie auch nicht ihre eigene war, ihnen wenigstens eine Möglichkeit gab, ihren Zielen durch die Säuberung Deutschlands von seinem alten monarchischen Ballast etwas näherzukommen. So standen sich Volk und Regierung überall mit äußerster Erbitterung gegenüber, der Ausbruch war unvermeidlich; die Mine war geladen, und ein Funke genügte, um sie zur Explosion zu bringen. Die Auflösung der Kammern in Sachsen, die Einberufung der Landwehr <In der "N.-Y.D.T" deutsch> in Preußen, der offene Widerstand der Regierungen gegen die Reichsverfassung waren solche Funken; sie fielen, und im Nu stand das ganze Land in Flammen. In Dresden bemächtigte sich das Volk am 4. Mai siegreich der Stadt und verjagte den König <Friedrich August II.>, während sämtliche umliegenden Bezirke den Aufständischen Verstärkungen sandten. In Rheinpreußen und in Westfalen weigerte sich die Landwehr auszumarschieren, besetzte die Zeughäuser und bewaffnete sich zum Schutz der Reichsverfassung. In der Pfalz bemächtigte sich das Volk der bayrischen Regierungsbeamten und der öffentlichen Gelder und setzte einen Verteidigungsausschuß ein, der die Provinz unter den Schutz der Nationalversammlung stellte. In Württemberg zwang das Volk den König <Wilhelm I.>, die Reichsverfassung anzuerkennen; und in Baden zwang die Armee im Verein mit dem Volk den Großherzog <Leopold> zur Flucht und errichtete eine provisorische Regierung. In anderen Teilen Deutschlands wartete das Volk nur auf das entscheidende Zeichen der Nationalversammlung, um zu den Waffen zu eilen und sich ihr zur Verfügung zu stellen.

<95> Die Lage der Nationalversammlung war weit günstiger, als nach ihrer unrühmlichen Vergangenheit erwartet werden konnte. Die westliche Hälfte Deutschlands hatte ihretwegen zu den Waffen gegriffen; die Truppen waren überall schwankend; in den kleineren Staaten standen sie der Bewegung zweifellos freundlich gegenüber. Österreich war durch den siegreichen Vormarsch der Ungarn gelähmt, und Rußland, diese Reserve der deutschen Regierungen, spannte alle Kräfte an, um Österreich gegen die Heere der Magyaren zu unterstützen. Es galt nur, Preußen zu bezwingen, und bei den revolutionären Sympathien, die dort vorhanden waren, bestand zweifellos Aussicht, dies Ziel zu erreichen. So hing alles vom Verhalten der Nationalversammlung ab.

Nun ist der Aufstand eine Kunst, genau wie der Krieg oder irgendeine andere Kunst, und gewissen Regeln unterworfen, deren Vernachlässigung zum Verderben der Partei führt, die sich ihrer schuldig macht. Diese Regeln, logische Schlußfolgerungen aus dem Wesen der Parteien und der Verhältnisse, mit denen man in einem solchen Falle zu tun hat, sind so klar und einfach, daß die kurze Erfahrung von 1848 die Deutschen ziemlich bekannt mit ihnen gemacht hat. Erstens darf man nie mit dem Aufstand spielen, wenn man nicht fest entschlossen ist, alle Konsequenzen des Spiels auf sich zu nehmen. Der Aufstand ist eine Rechnung mit höchst unbestimmten Größen, deren Werte sich jeden Tag ändern können; die Kräfte des Gegners haben alle Vorteile der Organisation, der Disziplin und der hergebrachten Autorität auf ihrer Seite; kann man ihnen nicht mit starker Überlegenheit entgegentreten, so ist man geschlagen und vernichtet. Zweitens, hat man einmal den Weg des Aufstands beschritten, so handele man mit der größten Entschlossenheit und ergreife die Offensive. Die Defensive ist der Tod jedes bewaffneten Aufstands; er ist verloren, noch bevor er sich mit dem Feinde gemessen hat. Überrasche deinen Gegner, solange seine Kräfte zerstreut sind, sorge täglich für neue, wenn auch noch so kleine Erfolge; erhalte dir das moralische Übergewicht, das der Anfangserfolg der Erhebung dir verschafft hat; ziehe so die schwankenden Elemente auf deine Seite, die immer dem stärksten Antrieb folgen und sich immer auf die sichere Seite schlagen; zwinge deine Feinde zum Rückzug, noch ehe sie ihre Kräfte gegen dich sammeln können; um mit den Worten Dantons, des größten bisher bekannten Meisters revolutionärer Taktik zu sprechen: de l'audace, de l'audace, encore de l'audace! <Kühnheit, Kühnheit, und abermals Kühnheit!>

Was hatte also die Frankfurter Nationalversammlung zu tun, um dem <96> sichern Verderben zu entgehen, das ihr drohte? Vor allem mußte sie die Situation klar erfassen und sich überzeugen, daß sie keine andere Wahl mehr hatte, als sich entweder bedingungslos den Regierungen zu unterwerfen oder sich rückhaltlos und ohne zu Zaudern auf die Seite des bewaffneten Aufstandes zu stellen. Zweitens mußte sie sich öffentlich zu all den Erhebungen bekennen, die bereits ausgebrochen, überall das Volk aufrufen, die Waffen zur Verteidigung der Vertreter der Nation aufzunehmen und alle Fürsten, Minister und alle anderen für vogelfrei erklären, die es wagen sollten, sich dem souveränen, von seinen Beauftragten vertretenen Volk zu widersetzen. Drittens mußte sie sofort den deutschen Reichsverweser absetzen, eine starke, aktive, rücksichtslose Exekutivgewalt schaffen, aufständische Truppen zu ihrem unmittelbaren Schutz nach Frankfurt rufen und damit zugleich einen gesetzlichen Vorwand für das Umsichgreifen des Aufstands liefern, alle zu ihrer Verfügung stehenden Kräfte zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfassen, kurz, rasch und ohne zu Zögern jedes zu Gebote stehende Mittel benützen, um die eigene Stellung zu stärken und die des Gegners zu schwächen.

Von alledem taten die tugendhaften Demokraten in der Frankfurter Versammlung das gerade Gegenteil. Nicht damit zufrieden, den Dingen ihren Lauf zu lassen, gingen diese Biederen so weit, durch ihren Widerstand alle sich vorbereitenden Aufstandsbewegungen zu unterdrücken. Das tat z.B. Herr Karl Vogt in Nürnberg. Sie sahen zu, wie die Aufstände in Sachsen, in Rheinpreußen und in Westfalen niedergeschlagen wurden, ohne ihnen anders beizustehen als durch einen Nachruf, einen sentimentalen Protest gegen die gefühllose Brutalität der preußischen Regierung. Sie unterhielten einen geheimen diplomatischen Verkehr mit den Aufständischen in Süddeutschland, hüteten sich aber, sie durch offene Anerkennung zu unterstützen. Sie wußten, daß der Reichsverweser mit den Regierungen unter einer Decke steckte, und dennoch wandten sie sich an ihn, der sich die ganze Zeit nicht rührte, mit dem Verlangen, den Intrigen dieser Regierungen entgegenzutreten. Die Reichsminister, alte Konservative, machten sich in jeder Sitzung über diese impotente Versammlung lustig, und sie ließ es sich gefallen. Und als Wilhelm Wolff, ein Abgeordneter aus Schlesien und einer der Redakteure der "Neuen Rheinischen Zeitung", sie aufforderte, den Reichsverweser für vogelfrei zu erklären, den er mit Recht als den ersten und größten Reichsverräter bezeichnete, da wurde er von der einmütigen, tugendhaften Entrüstung dieser demokratischen Revolutionäre niedergebrüllt! Kurz, sie fuhren fort zu parlieren, zu protestieren, zu proklamieren, zu deklarieren, hatten aber nie den Mut oder den Verstand zu handeln. Mittlerweile rückten <97> ihre Feinde, die Truppen der Regierungen, näher und näher, während ihre eigene Exekutivgewalt, der Reichsverweser, eifrig über ihre rasche Beseitigung mit den deutschen Fürsten konspirierte. So verlor diese verächtliche Versammlung selbst die letzte Spur von Ansehen; den Aufständischen, die sich zu ihrem Schutz erhoben hatten, wurde sie völlig gleichgültig, und als sie schließlich, wie wir noch sehen werden, ein schmähliches Ende nahm, verschied sie, ohne das ihr ehrloser Abgang auch nur die mindeste Beachtung gefunden hätte.

London, August 1852