Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 208-218

Friedrich Engels

England

Die Artikel über England schrieb Engels für die von Weydemeyer 1852 in New York herausgegebene Wochenschrift "Die Revolution". Von vier Artikeln erhielt Weydemeyer nur zwei, die beiden anderen gingen verloren. Da die Zeitschrift bereits nach zwei Nummern einging, wurden jedoch auch die zwei als Manuskript erhalten gebliebenen Artikel nicht veröffentlicht. Nach dem Manuskript.


I

<208> Die englischen Whigs haben entschieden Unglück. Kaum ist Palmerston abgesetzt, weil er "England ohne einen Bundesgenossen, ja ohne einen Freund auf dem Kontinent von Europa gelassen hatte", kaum ist der erste Skandal über diese Absetzung vorüber, so ertönt die ganze Presse von Kriegsgeschrei und bringt bei dieser Gelegenheit einen Wust von schlechter Verwaltung im Kriegs- und Marinedepartement ans Tageslicht, hinreichend, um mehr als einem Ministerium den Hals zu brechen.

Schon seit 1846 war von verschiedenen Militärs die Aufmerksamkeit des Landes auf die Möglichkeit einer Invasion Englands bei einem Kriege mit Frankreich geleitet worden. Die Gefahr eines solchen Kriegs lag indes damals zu fern, und die donquichottische Manier, in der diese ersten Alarmisten auftraten, erregte nur Gelächter. Namentlich war es der General Head, der sich seit jener Periode durch seine fortwährenden Aufrufe an die Nation zur Vermehrung der nationalen Verteidigungsmittel eine nicht eben beneidenswerte Zelebrität erwarb. Es ist dabei freilich auch nicht zu vergessen, daß der alte Wellington ebenfalls die bestehenden Küstenbefestigungen für höchst ungenügend erklärte.

Der Staatsstreich Louis-Napoleons gab indessen dieser Debatte plötzlich eine ganz neue Bedeutung. Daß die französische Militärdiktatur, die Parodie des Konsulats, aller Wahrscheinlichkeit nach Frankreich in Krieg verwickeln müsse, und daß eine Revanche für Waterloo unter diesen Umständen sehr leicht versucht werden könne, begriff John Bull sofort. Die letzten Heldentaten der englischen Kriegsmacht waren eben nicht sehr glänzend; am Kap siegten die Kaffern fortwährend, und selbst an der Sklavenküste war ein englischer Landungsversuch, trotz europäischer Taktik und Kanonen, von nackten Negern sehr empfindlich zurückgeschlagen worden. Was sollte erst aus den englischen Truppen werden, wenn sie mit den weit gefährlicheren "Afrikanern" aus der algierischen Schule in Konflikt kämen? <209> Und wer konnte dafür einstehn, daß ein so unskrupulöser Abenteurer wie Louis Bonaparte nicht eines Morgens ohne die langweilige Förmlichkeit einer Kriegserklärung mit zehn bis zwölf Steamers, schon mit Truppen bepackt, und einem Dutzend Linienschilfe in zweiter Linie, an der englischen Küste erscheinen und einen Marsch auf London versuchen werde?

Die Sache war allerdings ernsthaft; die Regierung gab sofort Befehle zur Errichtung neuer Batterien an den Einfahrten zu den großen Häfen der Süd- und Südostküste. Aber auch das Publikum nahm die Sache ernsthaft, und zwar in einer Weise, die der Regierung sehr unangenehm zu werden droht. Man erkundigte sich vor allen Dingen nach dem Stand der disponiblen Kräfte, und man fand, daß in diesem Augenblick, selbst mit möglichster Entblößung Irlands, zur Verteidigung von Großbritannien nicht mehr als 25.000 Mann und 36 bespannte Kanonen disponibel zu machen seien und daß, was die Flotte angeht, gegenwärtig nicht ein Schiff von Bedeutung in den Häfen segelfertig ist, um eine Landung zu verhindern. Man fand, was schon der Kaffernkrieg bewiesen hatte, daß die Equipierung der britischen Soldaten ihre Beweglichkeit lähmt und durchaus unpraktisch ist; man fand, daß ihre Waffen keineswegs denen der übrigen europäischen Armeen gleichkommen, daß kein Soldat in England ein Gewehr besitzt, das der preußischen Zündnadelmuskete oder der Büchse der französischen Schützen und Jäger nur im entferntesten gewachsen ist. Man entdeckte im Verproviantierungs-Departement der Flotte die kolossalsten Skandale und Vernachlässigungen, und alles das wurde von Alarmisten und Stellenjägern noch ins Tollste übertrieben.

Die Sache scheint zunächst nur die englischen Aristokraten, Rentiers und Bourgeois anzugehn, die zuerst von einer französischen Invasion und etwaigen Eroberung zu leiden hätten. Aber es ist nicht zu vergessen, daß die unabhängige Entwicklung Englands, die langsame, aber gründliche Auskämpfung des hier in vollster Ausbildung bestehenden Gegensatzes zwischen Bourgeoisie und Proletariat, für die Gesamtentwicklung Europas von der höchsten Wichtigkeit ist. Mag diese eigentümlich methodische Entwicklung Englands auch momentan, wie 1848 und früher von 1793 an, den momentan siegreichen Revolutionären des Kontinents manchmal im Wege sein, so hat sie doch im Grunde weit mehr revolutionären Inhalt als alle diese kontinentalen, vorübergehenden Kämpfe zusammengenommen. Während die große französische Revolution an der Eroberung Europas scheiterte, revolutionierte England mit der Dampfmaschine die Gesellschaft, eroberte den Weltmarkt, verdrängte mehr und mehr alle historisch überkommenen Klassen von der Herrschaft und bereitete das Terrain vor für den großen Entscheidungskampf zwischen dem industriellen Kapitalisten und dem industriellen Arbeiter. <210> Es war für die ganze europäische Entwicklung von der höchsten Bedeutung, daß Napoleon nie dazu gelangte, von Boulogne nach Folkestone 150.000 Mann zu werfen und mit den Veteranen der republikanischen Armeen England zu erobern. Während der Restaurationszeit, wo der Kontinent den von Béranger so treffend geschilderten Myrmidonen der Legitimität auf Gnade und Ungnade überantwortet war, kam in England die altreaktionäre, die Torypartei durch das schon sehr bürgerliche Ministerium Canning zu ihrer ersten großen Disruption und wurde von Canning und später Peel jene stufenweise Unterminierung der englischen Verfassung begonnen, die seitdem so ununterbrochen fortgeführt worden ist und die in sehr kurzer Zeit zu dem Punkt gelangen muß, wo das ganze morsche Gebäude mit lautem Krachen zusammenstürzt. Diese Unterminierung der alten englischen Institutionen und die ihr zum Grunde liegende fortwährende Revolutionierung der englischen Gesellschaft vermittelst der großen Industrie geht ihren Gang ruhig weiter, unbekümmert darum, ob auf dem Kontinent momentan die Revolution siegt oder die Kontrerevolution; und wenn sie langsam geht, so geht sie dafür auch sicher und tut nie einen Schritt zurück. Die Niederlage der Chartisten am 10. April 1848 war ausschließlich eine Niederlage und entschiedne Zurückweisung des auswärtigen politischen Einflusses; nicht kontinentale politische Erschütterungen, sondern universelle Handelskrisen, direkte materielle Schläge, die die Existenz jedes einzelnen in Frage stellen, sind die großen Hebel der englischen Entwicklung. Und jetzt, wo die definitive Entfernung aller traditionellen Klassen von der politischen Herrschaft durch die industrielle Bourgeoisie und damit der Anbruch des entscheidenden Schlachttages zwischen ihr und dem industriellen Proletariat sich durch die unzweifelhaftesten Symptome als nahe bevorstehend ankündigt, jetzt wäre eine Störung dieser Entwicklung, eine auch nur momentane Unterjochung Englands durch die beutegierigen Prätorianer des 2. Dezember von den schlimmsten Folgen für die ganze europäische Bewegung. In England allein hat die Industrie solche Dimensionen gewonnen, daß in ihr sich das ganze nationale Interesse, alle Lebensbedingungen aller Klassen konzentrieren. Die Industrie, das ist aber einerseits die industrielle Bourgeoisie, andrerseits das industrielle Proletariat, und um diese entgegengesetzten Klassen gruppieren sich mehr und mehr alle andern Bestandteile der Nation. Hier also, wo es sich nur noch darum handelt, wer herrschen soll, die industriellen Kapitalisten oder die industriellen Arbeiter, hier ist, wenn irgendwo, das Terrain, wo der Klassenkampf in seiner modernen Form entschieden werden kann und wo das industrielle Proletariat einerseits die Kraft zur Eroberung der politischen Herrschaft besitzt und andrerseits die materiellen Mittel, <211> die Produktivkräfte vorfindet, die ihm eine totale gesellschaftliche Revolution und schließliche Beseitigung des Klassengegensatzes möglich machen. Und daß diese Richtung der englischen Entwicklung auf die höchste Steigerung des Gegensatzes der beiden industriellen Klassen und auf die schließliche Besiegung der herrschenden durch die unterdrückte Klasse nicht durch eine fremde Unterjochung abgelenkt, in ihrer Energie geschwächt und der Entscheidungskampf auf unbestimmte Zeit vertagt werde, daran hat die ganze proletarische Partei Europas allerdings das höchste Interesse.

Wie stehen also die Chancen?

Vor allen Dingen ist ein Land wie Großbritannien, das ohne Irland 22 Millionen und mit Irland 29 Millionen Einwohner zählt, nicht durch einen Handstreich zu nehmen. Die Alarmisten führen das Beispiel Karthagos an, das, seine Flotten und Armeen in den entferntesten Besitzungen zerstreuend, einem Handstreich der Römer zweimal erlag. Aber abgesehen von den ganz veränderten Bedingungen der Kriegführung, war die afrikanische Landung der Römer im zweiten Punischen Kriege erst möglich, nachdem die Blüte der karthagischen Armeen in Spanien und Italien vernichtet und die punischen Flotten vom Mittelmeer verjagt waren; der Handstreich war kein Handstreich, sondern eine sehr solide militärische Operation, die ganz natürliche Krönung eines langen und schließlich für Rom dauernd günstigen Krieges. Und der dritte Punische Krieg war kaum ein Krieg, er war eine pure Unterdrückung des Schwächeren durch den zehnmal Stärkeren; er war ungefähr wie Napoleons Konfiskation der Republik Venedig. Vorderhand steht indes weder Frankreich da, wo es 1797 stand, noch sieht England dem untergehenden Venedig ähnlich.

Napoleon hielt wenigstens 150.000 Mann für nötig, um England zu erobern. Damals hatte England zwar viel mehr disponible Soldaten, aber auch viel weniger Bevölkerung und industrielle Ressourcen. Und heutzutage, mag die momentan disponible Macht der Engländer noch so unbedeutend sein, gehören noch wenigstens ebensoviel dazu, um England zu erobern. Ein Blick auf die Karte zeigt, daß jede in England gelandete Invasionsarmee wenigstens bis an die Tees, die Tyne oder gar den Tweed voranmarschieren muß; hält sie an einem früheren Punkt, so bleiben die gesamten Ressourcen der Industriebezirke in den Händen der Verteidiger, und sie hat, gegen die stets wachsenden Kräfte dieser letzteren, Linien zu besetzen, die an militärischen markierten Zügen unendlich arm und für ihre Mittel viel zu ausgedehnt sind. Das Gebiet südlich von den oben genannten Flüssen, d.h. das eigentliche England, zählt aber 16 Mill. Einwohner und verlangt für die Sicherung der Verbindungen, für die Belagerung resp. Besatzung der Küsten- <212> festungen und für die Niederhaltung der unvermeidlichen nationalen Insurrektion solche Detachierungen, daß zu aktiven Operationen an der schottischen Grenze nur sehr wenig disponibel bleiben würde. Und daß weniger als 150.000 Mann bei der besten Direktion England erobern und [sich] gegen Aufstand im Innern und regelmäßigen Krieg von Schottland und Irland her behaupten können, ist nicht anzunehmen.

Nun sind mit Hülfe frischer Aushebungen und geschickter Konzentrierung 150.000 Mann schon an irgendeinem Punkt der französischen Nordküste zu konzentrieren, allein ein bis zwei Monate vergehen doch wenigstens darüber. Und in dieser Zeit kann England teils durch Herbeiziehung der Tajoflotte und der Dampfschiffe andrer naher Stationen, teils durch Mobilmachung der in den Häfen abgetakelt liegenden Schiffe eine ganz respektable Seemacht im Kanal konzentrieren, während innerhalb eines Monats später sämtliche Dampfschiffe und ein Teil der Segelschiffe von den atlantischen Stationen und von Malta und Gibraltar an Ort und Stelle sein können. Die Landungsarmee müßte also, wenn nicht auf einmal, doch in wenigen großen Detachements hinüberbefördert werden, da früher oder später eine Unterbrechung der Kommunikation mit Frankreich jedenfalls eintritt. Wenigstens 50.000 Mann müßten auf einmal, also die ganze Armee in drei Überfahrten gelandet werden können. Und zwar können dabei die Kriegsschiffe gar nicht oder nur in beschränkterem Grade zum Truppentransport verwandt werden, da sie die englische Flotte abzuwehren haben. Und die Transportmittel für 50.000 Mann nebst der nötigen Artillerie und Munition bringt Frankreich in seinen Kanalhäfen, selbst wenn es Embargo auf die neutralen Schiffe legt, in sechs Wochen nicht zusammen. Jeder Tag aber, um den die Expedition verschoben wird, ist ein neuer Vorteil für England, das nur Zeit gebraucht, um seine Flotten zu konzentrieren und seine Rekruten einzuüben.

Wenn aber die Rücksicht auf die englische Flotte verbietet, die Landungsarmee von 150.000 Mann in mehr als drei Detachements herüberzubefördern, so muß die Rücksicht auf die englische Landmacht jedem soliden Militär verbieten, sich mit nicht mehr als 50.000 Mann auf einmal nach England zu wagen. Wir haben gesehen, daß im für die Invasion günstigsten Fall den Engländern ein bis zwei Monate Zeit zur Vorbereitung bleiben; man müßte sie schlecht kennen, wenn man ihnen nicht zutraute, in dieser Zeit eine Landarmee zu organisieren, die eine Avantgarde von 50.000 Mann ohne Schwierigkeiten in die See werfen müßte, ehe Sukkurs ankömmt. Man bedenke, daß die Einschiffung nur zwischen Cherbourg und Boulogne und die Landung nur zwischen der Insel Wight und Dover, d.h. innerhalb eines Küstenstrichs stattfinden kann, der nirgends über vier gute Tagemärsche von London <213> liegt. Man bedenke, daß Einschiffung und Landung von Wind und Flut abhängt, daß die englische Flotte im Kanal Widerstand leistet und daß deshalb zwischen der ersten und zweiten Landung vielleicht acht bis zehn Tage, jedenfalls vier verfließen, denn die Masse der Truppen muß auf Segelschiffen transportiert und an der ganzen Küste von Cherbourg bis Boulogne zusammengelesen werden; ein "Lager von Boulogne" läßt sich aus dem Stegreif nicht herstellen. Unter diesen Umständen wird schwerlich etwas gewagt werden, bis wenigstens 70.000-80.000 Mann auf einmal hinübergeworfen werden können, und dazu sind die Transportmittel erst zu schaffen, was wieder Zeit erfordert. Da aber die Verteidigungsmittel Englands in jeder Woche, um die die Expedition verschoben wird, rascher wachsen als die Transport- und Seekriegsmittel des Feindes, so wird die Stellung der Angreifer immer ungünstiger; sie werden bald dahin kommen, daß sie nichts riskieren können, solange sie nicht 150.000 Mann auf einmal hinüberbringen können, und selbst diese werden dann solchen Widerstand finden, daß sie ohne Nachschickung einer Reserve von gegen 100.000 Mann sicher auf schließliche Vernichtung rechnen können.

Mit einem Wort, die Eroberung Englands läßt sich durch keinen Handstreich bewerkstelligen. Wenn sich der ganze Kontinent dazu vereinigte, er brauchte schon zur Herstellung und Herbeischaffung der Transportmittel allein ein Jahr - mehr als England nötig hat, um seine Küsten in Verteidigungszustand zu setzen, eine Marine zu konzentrieren, die allen vereinigten Kontinentalflotten gewachsen wäre und ihre Vereinigung unmöglich machen könnte, und eine Armee zu versammeln, die jedem Feind den Aufenthalt auf englischem Boden unmöglich machen würde.

Das Nationalgefühl der Engländer ist grade in diesem Moment höher gesteigert als je seit 1815, und die ernstliche Gefahr einer Invasion würde ihm noch einen ganz andern Aufschwung geben. Dazu ist die großbritannische Bevölkerung keineswegs so unmilitärisch, wie man sie darstellt; die Bourgeoisie, die Kleinbürgerschaft und das Proletariat der großen Städte sind allerdings weit weniger mit der Feuerwaffe vertraut und daher zum Bürgerkrieg weniger geeignet als die entsprechenden Klassen auf dem Kontinent. Aber die Bevölkerung im ganzen hat viel kriegerischen Geist und enthält sehr brauchbare militärische Elemente. Nirgends gibt es mehr Jäger und Wilddiebe, d.h. halbfertige leichte Infanterie und Scharfschützen; und die 40.000-50.000 Mechaniker und Maschinenarbeiter sind für die Waffenwerkstätten, für die Artillerie und den Geniedienst besser vorbereitet als irgendeine gleiche Zahl ausgesuchter Leute in einem beliebigen Kontinentalstaat. Das Terrain selbst, bis nahe an die schottische Grenze von großen militäri- <214> schen Charakterzügen fast ganz entblößt, ist bis ins kleinste kupiert und für den kleinen Krieg wie gemacht. Und wenn bisher der Guerillakrieg nur in verhältnismäßig dünnbevölkerten Ländern von Erfolg begleitet war, so könnte grade England im Fall eines ernstlichen Angriffs den Beweis liefern, daß er in sehr dicht bevölkerten Ländern, z.B. in dem fast ununterbrochenen Häuserlabyrinth von Lancashire und West-Yorkshire auch bedeutendere Resultate haben kann.

Was einen Handstreich zur Plünderung von reichen Häfenstädten, zur Zerstörung von Magazinen pp. angeht, so ist im gegenwärtigen Augenblick England dem allerdings ausgesetzt. Die Befestigungen sind kaum der Rede wert. Man kann, solange keine Schiffe in Spithead liegen, ganz ruhig bis an den Eingang von Southampton Water fahren und eine hinreichende Truppenzahl landen, um in Southampton eine beliebige Kontribution einzutreiben. Woolwich kann vielleicht momentan besetzt und zerstört werden, obwohl dazu schon mehr gehört. Liverpool ist nur gedeckt durch eine erbärmliche Batterie von 18 eisernen Schiffskanonen, an denen weder Visier noch Korn ist und die von acht oder zehn Artilleristen und einer halben Kompanie Infanterie bedient werden. Aber mit Ausnahme von Brighton liegen alle bedeutenden englischen Seestädte in tiefen Meerbusen oder hoch hinauf an Flüssen und haben natürliche Verschanzungen an Sandbänken und Felsen, mit denen nur die einheimischen Piloten vertraut sind. Wer hier ohne Lotsen in diesen engen, für große Schiffe meist nur während der Flut fahrbaren Kanälen seinen Weg sucht, der riskiert mehr dort zurückzulassen, als er Aussicht hat fortzuschleppen, und dergleichen Expeditionen würden bei einigem Widerstand und bei dem geringsten unvorhergesehenen Hindernis ein ebenso schlechtes Ende nehmen wie die dänische Expedition gegen Eckernförde 1848. Dagegen ist eine momentane Landung von 10.000-20.000 Mann auf Dampfschiffen in irgendeinem ländlichen Bezirk und eine kurze, aber notwendig von wenig positiven Resultaten begleitete Plünderungsexpedition gegen kleine Landstädte allerdings sehr leicht ausführbar und jetzt durchaus nicht zu verhindern.

Alle diese Befürchtungen hören indes von selbst auf, sobald die Tajoflotte, die nordamerikanische Eskadre und ein Teil der zwischen Brasilien und Afrika den Sklavenschiffen nachjagenden Dampfer nach England zurückberufen und zu gleicher Zeit die in den Kriegshäfen abgetakelt liegenden Schiffe mobil gemacht werden. Das würde hinreichen, um Handstreiche unmöglich zu machen und jeden ernstlicheren Invasionsversuch auf solange hinauszuschieben, daß England Zeit für die nötigen weiteren Maßregeln behält.

<215> Inzwischen hat der Alarm die gute Folge, daß die lächerliche Politik aufhören wird, die im Mittelmeer 800, im Atlantischen Ozean 1.000, im Stillen und im Indischen Meer je 300 schwimmende Kanonen unterhält, wahrend zu Hause kein Schiff die Küsten schützt; und die mit Negern und Kaffern endlose und ruhmlose Kriege anfängt, wahrend die Truppen in der Heimat am nötigsten sind. Die unbeholfene, schwere und in jeder Beziehung veraltete Equipierung und Bewaffnung der Armee, die grenzenlose Sorglosigkeit und Nonchalance in der Kriegs- und Marineverwaltung, der kolossale Nepotismus, die Bestechung und die Unterschleife in diesen Departements werden mehr oder weniger beseitigt werden. Die industrielle Bourgeoisie wird endlich den Friedenskongreß- und Friedensgesellschaftsschwindel loswerden, der sie so vielem verdienten Spott aussetzte und der ihrem politischen Vorankommen und damit der ganzen englischen Entwicklung soviel geschadet hat. Und sollte es zum Kriege kommen, so kann es bei der bekannten, jetzt mehr als je im Flor stehenden Ironie der Weltgeschichte sich sehr leicht ereignen, daß die Herren Cobden und Bright in ihrer doppelten Eigenschaft als Mitglieder der Friedensgesellschaft und als Minister der nächsten Zukunft einen hartnäckigen Krieg, vielleicht mit dem ganzen Kontinent zu führen hätten.

Manchester, 23. Januar 1852

II

Am nächsten Dienstag, 3. Februar, tritt das Parlament zusammen. Von den drei Hauptfragen, die seine ersten Debatten ausfüllen werden, haben wir bereits zwei kurz besprochen: die Entlassung Palmerstons und die Verteidigungsmittel im Fall eines Kriegs mit Frankreich. Es bleibt die dritte, für die englische Entwicklung bei weitem wichtigste: die Wahlreform.

Die von Russell gleich anfangs vorzulegende neue Reformbill wird Gelegenheit genug bieten, auf die allgemeine Bedeutung der Wahlreform in England näher einzugehn. Für heute, wo es nur auf die Mitteilung und Erläuterung einiger Gerüchte über diese Bill ankommt, wird die Bemerkung genügen, daß es sich bei der ganzen Frage zunächst einzig darum handelt, wieviel die reaktionären oder stabilen Klassen, d.h. also die Grundaristokratie, die Rentiers, die Börsenspekulanten, die Grundbesitzer in den Kolonien, die Schiffsreeder und ein Teil der Kaufleute und Bankiers, von ihrer politischen Macht behalten und wieviel sie an die industrielle Bourgeoisie, <216> die an der Spitze aller progressiven und revolutionären Klassen steht, abgeben sollen. Vom Proletariat ist hier einstweilen keine Rede.

Die "Daily News", das Londoner Organ der industriellen Bourgeoisie und in dergleichen Sachen eine gute Quelle, teilt einige Nachrichten mit über die neue Reformbill des Whigministeriums. Nach dieser Mitteilung würden die beabsichtigten Reformen drei Seiten des bisherigen englischen Wahlsystems berühren.

Bisher mußte jedes Parlamentsmitglied, ehe es zugelassen wurde, einen Grundbesitz von wenigstens 300 Pfd. Sterling nachweisen. Diese Bedingung, in vielen Fällen genannt, wurde indes fast immer durch Scheinkäufe und Scheinkontrakte umgangen. Sie war, was die industrielle Bourgeoisie betrifft, längst unwirksam geworden; sie soll jetzt ganz fallen. Ihre Abschaffung ist einer der "sechs Punkte" der proletarischen Volks-Charte, und es ist interessant zu sehn, wie bereits einer dieser sechs Punkte (sie sind alle sechs sehr bürgerlich und sind in den Vereinigten Staaten schon durchgeführt) offiziell anerkannt wird.

Bisher war das Wahlrecht in folgender Weise organisiert: Nach alter englischer Sitte schickten die counties <Grafschaften> den einen, die Städte den andern Teil der Abgeordneten. Wer in einer county stimmen wollte, mußte entweder volles, unabhängiges Grundeigentum (freehold property) vom jährlichen Wert von 2 Pfd. Sterling besitzen oder Grundeigentum vom jährlichen Wert von 50 Pfd.St. gepachtet haben. In den Städten dagegen war jeder Wähler, der ein Haus bewohnte, das 10 Pfd.St. Miete trug und nach Verhältnis dieses Betrags die Armensteuer zahlte. Während hierdurch in denjenigen Städten, die Abgeordnete schickten, die Masse der Kleinhändler und Handwerksmeister, d.h. die ganze Kleinbürgerschaft zum Wahlrecht zugelassen war, hatten in den County-Wahlen die tenants at will der Aristokratie, d.h. die Pächter, denen von Jahr zu Jahr gekündigt werden konnte und die daher ganz von ihren Grundherren abhängig waren, die ungeheure Majorität. Im vorigen Jahr schlug Herr Locke King vor, den Satz von 10 Pfd.St. für Mieten, der in den Städten galt, auch auf die counties auszudehnen und erhielt für diesen Vorschlag in einem dünnen Hause eine starke Majorität gegen die Minister. Wie es heißt, soll jetzt Russell vorhaben, den Satz für die Grafschaften auf 10 Pfd. und für die Städte auf 5 Pfd. herabzusetzen. Die Wirkung einer solchen Maßregel würde sehr bedeutend sein. In den Städten würde damit der besser bezahlte Teil des Proletariats sofort das Stimmrecht erlangen, und damit wäre in einigen großen Städten die Wahl chartistischer Repräsentanten <217> sehr wahrscheinlich gemacht, während in den mittleren und kleineren Städten die industrielle Bourgeoisie enormen Zuwachs an Stimmen und an Sitzen im Parlament erhalten würde. Und in den counties würden auf einmal die sämtlichen Kleinbürger und Mittelbürger der nicht besonders repräsentierten Landstädtchen zum Wahlrecht zugezogen; sie würden die überwiegende Majorität in den meisten Fällen ausmachen und durch ihre Masse und verhältnismäßige Unabhängigkeit gegenüber den jetzt die counties beherrschenden paar großen Adelsfamilien dem bisherigen Wahlterrorismus dieser Magnaten ein Ende machen. Diese ländlichen Kleinbürger verfallen dazu schon jetzt mehr und mehr dem Einfluß der industriellen Bourgeoisie und würden ihr so einen bedeutenden Teil der counties eröffnen.

Die Wahlbezirke waren bisher im höchsten Grade ungleich an Größe und an Bedeutung; die Zahl der Repräsentanten stand zur Zahl der Bevölkerung und der Wähler in gar keinem Verhältnis. Hundert oder zweihundert Wähler schickten hier ebensoviel Repräsentanten wie sechs- bis elftausend Wähler dort. Namentlich war diese Ungleichheit groß in den Städten; und gerade die kleinen Städte mit wenig Wählern waren der Sitz der skandalösesten Bestechung (z.B. St. Albans) oder der absoluten Wahldiktatur dieses oder jenes großen Grundbesitzers. Nach dem Bericht der "Daily News" sollen nun acht der kleinsten Wahlstädte ihrer Repräsentanten beraubt und die übrigen kleinen Städte, die Parlamentsmitglieder wählen, mit andern benachbarten, bisher nur in den counties repräsentierten Landstädtchen so zusammengeworfen werden, daß die Wählerzahl bedeutend ansehnlicher wird. Es ist dies eine Nachahmung des in Schottland schon seit der Union mit England (1707) bestehenden Systems der Städtegruppen. Daß von einer solchen Maßregel, so schüchtern sie ist, die industrielle Bourgeoisie ebenfalls eine Vermehrung ihrer politischen Macht erwarten darf, beweist schon die hervorragende Wichtigkeit, die sie seit langer Zeit der Ausgleichung der Wahldistrikte vor allen andern Fragen der parlamentarischen Reform beilegt. Außerdem sollen, heißt es, London und Lancashire, also zwei der Hauptsitze der industriellen Bourgeoisie, verstärkte Vertretung im Parlament erhalten.

Wenn Russell wirklich vorhat, diese Bill vorzuschlagen, so ist das in der Tat und nach den bisherigen Erfahrungen viel für den kleinen Mann. Es scheint, daß die Lorbeeren Peels ihn nicht schlafen lassen und daß er sich vorgenommen hat, auch einmal "kühn" zu sein. Diese Kühnheit ist freilich von der ganzen Zaghaftigkeit und rücksichtsvollen Bedenklichkeit des englischen Whigs begleitet und wird, bei dem jetzigen Stande der öffentlichen Meinung in England, niemanden kühn vorkommen als ihm selbst und seinen Whigkollegen. Aber nach dem Zaudern, Schwanken, Besinnen, nach dem <218> wiederholten und immer erfolglosen Fühlhörner-Ausstrecken, womit der kleine Lord die Zeit seit dem Schluß der letzten Session ausgefüllt hat, konnte man immerhin weniger erwarten als die obigen Vorschläge - vorausgesetzt nämlich, daß er sich bis Dienstag nicht noch eines andern besinnt.

Die industrielle Bourgeoisie, das bedarf keiner ausdrücklichen Erwähnung, verlangt weit mehr als das. Sie verlangt household-suffrage, d.h. das Wahlrecht für jeden, der ein Haus oder den Teil eines Hauses bewohnt, wofür er zu den Kommunalsteuern herangezogen wird, geheime Abstimmung und eine totale Revision der Wahlbezirksverteilung, die für gleiche Wählerzahl und gleichen Reichtum gleiche Vertretung sichert. Sie wird hart und lange mit dem Ministerium dingen und ihm jede mögliche Konzession abhandeln, ehe sie ihm ihre Unterstützung verkauft. Unsre englischen Industriellen sind gute Kaufleute und werden ihre Stimmen gewiß zum höchsten erreichbaren Preise an den Mann bringen.

Es zeigt sich übrigens schon jetzt, wie selbst das obige ministerielle Minimum von Wahlreform kein andres Resultat haben kann, als die Macht derjenigen Klasse zu verstärken, die jetzt schon der Sache nach England beherrscht und mit gewaltigen Schritten auf die politische Anerkennung ihrer Oberherrschaft hinarbeitet: die industrielle Bourgeoisie. Das Proletariat, dessen selbständiger Kampf für seine eignen Interessen gegen die industrielle Bourgeoisie erst mit dem Tage beginnt, wo die politische Suprematie dieser Klasse feststeht, das Proletariat wird unter allen Umständen auch einigen Vorteil von dieser Wahlreform ziehen. Wie groß aber dieser Vorteil sein wird, das hängt bloß davon ab, ob die Debatte und schließliche Feststellung der Wahlreform vor dem Hereinbrechen der Handelskrise erfolgt oder noch in sie hineinfällt; denn das Proletariat tritt einstweilen nur in den großen, entscheidenden Momenten handelnd in den Vordergrund, wie das Schicksal in der antiken Tragödie.

Manchester, 30. Januar 1852

F. Engels