Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 219-220

Karl Marx/Friedrich Engels

[Brief an den Redakteur der " Times"]

Nach dem Manuskript.
Aus dem Englischen.


An den Redakteur der "Times"

<219> Sir,

die Vernichtung der letzten Überreste einer unabhängigen Presse auf dem Festlande hat es der englischen Presse zur Ehrenpflicht gemacht, jeden Akt der Ungesetzlichkeit und Unterdrückung in jedem Teil Europas zu registrieren. Gestatten Sie mir daher, durch Ihr Blatt der Öffentlichkeit eine Tatsache zu unterbreiten, die beweist daß die Richter in Preußen sich in nichts unterscheiden von den politischen Handlangern des Louis-Napoleon.

Sie wissen, welch wertvolles moyen de gouvernement <Regierungsmittel> eine gut aufgezogene Verschwörung sein kann, wenn sie im rechten Augenblick aufgetischt wird. Die preußische Regierung brauchte eine solche Verschwörung Anfang des verflossenen Jahres, um sich ihr Parlament gefügig zu machen. Dementsprechend wurde eine ziemliche Anzahl Personen verhaftet und in ganz Deutschland die Polizei in Bewegung gesetzt. Aber nichts wurde gefunden, und schließlich wurden nur einige wenige Personen in Köln unter dem Vorwand in Haft gehalten, daß sie die Häupter einer weitverzweigten revolutionären Organisation seien. Es sind dies hauptsächlich. Dr. Becker und Dr. Bürgers, zwei Herren von der Presse; Dr. Daniels, Dr. Jacobi und Dr. Klein, praktizierende Ärzte, von denen zwei die schweren Pflichten von Armenärzten in Ehren erfüllten, und Herr Otto, der Leiter eines großen chemischen Unternehmens, der in seinem Heimatlande wegen seiner Leistungen auf dem Gebiete der Chemie wohlbekannt ist. Da jedoch kein Beweismaterial gegen sie vorlag, wurde ihre Freilassung jeden Tag erwartet. Während sie aber im Gefängnis saßen, erfolgte die Verkündung des "Disziplinargesetzes", das der Regierung die Möglichkeit gibt, durch ein sehr kurzes und einfaches Verfahren sich jedes lästigen Justizbeamten zu entledigen. Die Wirkung dieses Gesetzes auf den bis dahin langsamen und schleppenden Verfahrensweg gegen die obengenannten Herren war eine fast unmittelbare. <220> Nicht nur wurden sie au secret <in Einzelhaft> gesteckt, wurde ihnen jeder, selbst der briefliche Verkehr untereinander oder mit ihren Angehörigen untersagt und ihnen Bücher und Schreibmaterial (die in Preußen vor der Verurteilung dem gemeinsten Filou gewährt werden) vorenthalten, sondern das ganze Gerichtsverfahren nahm einen völlig anderen Charakter an. Die chambre du conseil <Ratskammer> (Sie wissen, daß wir in Köln nach dem Code Napoléon abgeurteilt werden) fand sich sofort bereit, Anklage gegen sie zu erheben, und die Sache kam vor den Anklagesenat, ein Richterkollegium, das die Funktionen einer englischen Grand Jury versieht. Auf das beispiellose Erkennen dieses Kollegiums bitte ich, Ihre besondere Aufmerksamkeit lenken zu dürfen. In diesem Urteilsspruch findet sich, wörtlich übersetzt, die folgende außergewöhnliche Stelle:

"In der Erwägung, daß kein verläßliches Beweismaterial beigebracht wurde, daß daher, weil kein Rechtsbruch bewiesen wurde, kein Grund für die Aufrechterhaltung der Anklage vorliegt sind" (so werden Sie als notwendigen Schluß annehmen: die Verhafteten in Freiheit zu setzen? Keine Spur!) "sämtliche Protokolle und Urkunden an den juge d'instruction <Untersuchungsrichter> zur nochmaligen Untersuchung zurückzugeben."

Das heißt also, daß nach zehnmonatiger Haft, während welcher weder der Eifer der Polizei noch der Scharfsinn des Staatsanwalts auch nur den Schatten eines Rechtsbruchs zu beweisen vermochten, das ganze Verfahren noch einmal völlig von vorn beginnen soll, um vielleicht nach einem weiteren Jahr der Untersuchung, ein drittes Mal an den juge d'instruction zurückverwiesen zu werden.

Daß man so offen das Gesetz mit Füßen tritt, erklärt sich so: Die Regierung ist gerade jetzt dabei, die Bildung eines aus den gefügigsten Elementen zusammengesetzten höheren Gerichtshofes vorzubereiten. Da ihre Niederlage vor einem Geschworenengericht sicher sein würde, muß die Regierung die endgültige Verhandlung dieser Affäre hinausziehen, bis sie vor diesen neuen Gerichtshof gehen kann, der natürlich der Krone jede Garantie und den Angeklagten gar keine geben wird.

Wäre es nicht sehr viel ehrenvoller für die preußische Regierung, durch königliches Dekret sofort einen Spruch über die Verhafteten zu fällen, wie dies Herr Louis Bonaparte getan hat?

London, 29. Jan. 1852
Ich bin, Sir, Ihr sehr ergebener
Diener.
Ein Preuße*

<* Die Unterschrift "Ein Preuße" ist von Marx, der Brief selbst von Engels geschrieben>