Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 235-253

Inhalt | II.

I

"Singe, unsterbliche Seele,
der sündigen Menschen Erlösung" -
<Klopstock "Der Messias">
durch Gottfried Kinkel

<235> Gottfried Kinkel wurde vor ungefähr 40 Jahren geboren. Sein Leben liegt uns in einer Selbstbiographie vor: "Gottfried Kinkel. Wahrheit ohne Dichtung. Biographisches Skizzenbuch." Herausgegeben von Adolph Strodtmann. (Hamburg, Hoffmann & Campe, 1850. In Oktav.)

Gottfried ist der Held der demokratischen Siegwart-Periode, die in Deutschland so endlose patriotische Wehmut und tränenreichen Jammer hervorgebracht hat. Sein Debüt geschah als ordinärer lyrischer Siegwart.

Die tagebuchmäßige Abgerissenheit, in der sein Erdenwallen dem Leser vorgeführt wird, kömmt ebenso wie die zudringliche Indiskretion dieser Enthüllungen auf Rechnung des Apostels Strodtmann, dessen "kompilatorischer Darstellung" wir folgen.

"Bonn. Febr.-Sept. 1834"

"Der junge Gottfried studierte wie sein Freund Paul Zeller evangelische Theologie und hatte sich durch Fleiß und Frömmigkeit die Achtung seiner berühmten Lehrer" (Sack, Nitzsch und Bleek) "erworben" (pag. 5).

Er erscheint gleich anfangs "offenbar in ernstere Betrachtungen vertieft" (pag. 4), "verstimmt und düster" (pag. 5), ganz wie es einem grand homme en herbe <werdenden großen Mann> ziemt. "Gottfrieds braunes, düsterflammendes Auge" "schweifte" einigen Burschen "in braunem Frack und lichtblauen Überröcken nach"; Gottfried fühlt sofort heraus, daß diese Burschen "durch äußeren Glanz die innere Leere ersetzen wollten" (pag. 6). Seine moralische Entrüstung wird <236> dadurch erläutert, daß Gottfried "Hegel und Marheineke verteidigt hatte", als diese Burschen Marheineke einen "Flachkopf" nannten; später, als der Kandidat studierenshalber nach Berlin kömmt und selbst bei Marheineke etwas lernen soll, schreibt er über denselben das belletristische Sprüchlein in sein Tagebuch (pag. 61):

"Ein Kerl, der spekuliert,
ist wie ein Tier auf öder Heide
von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt,
und ringsumher ist schöne grüne Weide."
<Goethe, "Faust", Erster Teil, "Studierzimmer>

Gottfried vergißt hier den anderen Spruch, mit dem sich Mephistopheles über den wißbegierigen Schüler lustig macht:

"Verachte nur Verstand und Wissenschaft!"

Die ganze moralisierende Studentenszene dient indes nur als Introduktion, um dem künftigen Weltbefreier Gelegenheit zu folgender Offenbarung zu geben (pag. 6).

Gottfried spricht:

"Dies Geschlecht vergeht doch nicht, es müßte denn ein Krieg kommen ... Nur kräftige Mittel können unserem verschlammten Zeitalter wieder aufhelfen!"

"Eine neue Sündflut, und du als Noah in zweiter verbesserter Auflage!" entgegnete sein Freund.

Die lichtbraunen Überröcke haben Gottfried soweit zu der Entwicklung verholfen, sich als "Noah in einer neuen Sündflut" anzukündigen. Sein Freund macht dazu folgende Bemerkung, welche der Biographie selbst als Motto hätte vorgesetzt werden können:

"Oft haben mein Vater und ich über deine Begeisterung für unklare Begriffe im stillen gelächelt!"

In diesen ganzen Bekenntnissen einer schönen Seele wiederholt sich nur der eine "klare Begriff", daß Kinkel vom Embryo an ein großer Mann war. Die trivialsten Dinge, wie sie allen trivialen Leuten vorkommen, werden zu vielbedeutenden Ereignissen; die kleinen Leiden und Freuden, welche jeder Kandidat der Theologie in einer interessanteren Form durchlebt, die Konflikte mit den bürgerlichen Verhältnissen, welche man in Deutschland zu Dutzenden in jedem Konvikt und in jedem Konsistorium findet, werden hier zu verhängnisvollen Weltbegebenheiten, mit denen Gottfried in weltschmerzlichen Gefühlen fortwährend Komödie spielt. {Wir finden daher in diesen Selbstbekenntnissen durchgehend einen doppelten Charakter - die Komödie, die belustigende Weise, mit welcher sich Gottfried der geringsten <237> Lappalien bemächtigt, um sein Vorgefühl als künftige Größe zu proklamieren und sich antizipierend in Relief zu setzen, und die Renommisterei, die erlogene Art, mit der er nachträglich seine ganze vanité <Selbstgefälligkeit> in jede kleinliche Begebenheit seiner lyrisch-theologischen Vergangenheit einlegt. Nach diesen beiden Grundzügen werden wir nunmehr der weiteren Geschichte Gottfrieds folgen.} <Texte in geschweiften Klammern im Manuskript gestrichen.>

Die Familie {des "Freundes Paul" verläßt Bonn und} kehrt nach Württemberg zurück. Gottfried setzt dies Ereignis auf folgende Art in Szene.

Gottfried liebt die Schwester Pauls und erklärt bei dieser Gelegenheit, daß er "schon zweimal geliebt"! Aber die jetzige Liebe ist keine ordinäre Liebe, sondern "inbrünstige und wahre Gottesverehrung" (pag. 13). Gottfried steigt mit dem Freund Paul auf den Drachenfels und bricht in dieser romantischen Staffelei in folgenden Dithyrambus aus:

"Scheide die Freundschaft! - Ich finde einen Bruder in dem Heilande; - scheide die Liebe - der Glaube sei meine Braut; - Scheide die Schwestertreue - ich bin kommen zu der Gemeine von viel tausend Gerechten! Hinaus denn, mein junges Herz; und lerne allein sein mit deinem Gotte, und ringe mit ihm, bis daß du ihn bezwingest und er dir einen neuen Namen gebe, den heiligen Israel, den niemand weiß, denn der ihn empfänget! - Sei mir gegrüßt, du herrliche Morgensonne, Bild meiner erwachenden Seele!" (pag. 17.)

Der Abschied des Freundes wird somit für Gottfried zur Veranlassung, einen verzückten Hymnus auf seine eigne Seele anzustimmen. Nicht genug damit, muß jedoch auch noch der Freund einen Hymnus anstimmen. Während Gottfried sich in jener Verzückung ergießt, spricht er nämlich "mit erhobener Stimme und glühendem Antlitz", "vergißt die Gegenwart seines Freundes", "sein Auge ist verklärt", "sein Ausrufen begeistert" etc. (pag. 17), - kurz, die ganze testamentarische Erscheinung des Propheten Elias.

"Wehmütig lächelnd sah ihn Paul mit dem treuherzigen Auge an und sprach: 'Du hast doch ein stärkeres Herz in der Brust als ich und wirst mich wohl überflügeln, - aber laß mich dein Freund sein - auch in der Ferne.' Fröhlich schlug Gottfried in die dargebotene Hand ein und erneuerte den alten Bund" (pag. 18).

Gottfried hat in dieser Bergverklärungsszene erreicht, was er will. Freund Paul, der eben noch über die "Begeisterung Gottfrieds für unklare Begriffe" gelacht hat, demütigt sich vor dem Namen des "heiligen Israel" und erkennt Gottfrieds Überlegenheit und künftige Größe an. Gottfried wird kreuzfidel und erneuert mit freundlicher Herablassung den alten Bund.

*

<238> Szenenwechsel. Geburtstag der Mutter Kinkels, der Frau des Pfarrers Kinkel von Oberkassel. Dies Familienfest wird benutzt, um anzukündigen, daß "die Matrone gleich der Mutter des Heilands Maria hieß" (pag. 20), - sichere Andeutung, daß auch Gottfried zum Heiland und Welterlöser berufen war. Der Studiosus der Theologie ist uns somit auf den ersten 20 Seiten durch die geringfügigsten Ereignisse als Noah, als heiliger Israel, als Elias und schließlich als Christus vorgeführt.

*

Gottfried, der im ganzen gar nichts erlebt, kömmt in seinen Erlebnissen natürlich stets wieder auf seine inneren Gefühle zurück. Der Pietismus, der ihm als Predigersohn und angehender Gottesgelahrter anklebt, entspricht seiner angeborenen Gemütsschwäche sowie der koketten Selbstbeschäftigung mit seiner Person. Wir erfahren, daß Mutter und Schwester streng pietistisch waren und daß Gottfried ein starkes Sündenbewußtsein besaß; der Konflikt dieser frommen Sündenanschauung mit dem "heiter-geselligen Lebensgenuß" der gewöhnlichen Studenten erscheint bei Gottfried, seinem welthistorischen Beruf gemäß, als ein Kampf der Religion mit der Poesie, - der Schoppen Bier, welchen der Sohn des Pfarrers von Oberkassel mit andern Studenten trinkt, wird zu dem verhängnisvollen Kelch, in welchem die beiden Geister Fausts ringen. In der Schilderung seines pietistischen Familienlebens sehen wir die "Mutter Maria" den "Hang Gottfrieds für das Theater" als sündhaft bekämpfen (pag. 28), bedeutungsvoller Zwiespalt, der wieder den künftigen Poeten andeuten soll, in der Tat aber nur Gottfrieds Vorliebe für das Komödiantentum zur Schau bringt. Seiner Schwester Johanna wird als pietistisches Megärentum nacherzählt, daß sie ein fünfjähriges Mädchen wegen Unachtsamkeit in der Kirche gemaulschellt habe - schmutziger Familienklatsch, dessen Enthüllungen man nicht begreifen würde, wenn nicht am Schluß des Buches diese Schwester Johanna am eifrigsten gegen die Ehe Gottfrieds mit Madame Mockel eingenommen erschiene.

Als Ereignis wird erwähnt, daß Gottfried in Seelscheid "eine herrliche Predigt über das ersterbende Weizenkorn" gehalten.

*

Die Familie Zeller und die "geliebte Elise" reisen endlich ab. Wir erfahren, daß Gottfried "heiß die Hand des Mädchens gedrückt" und den Gruß flüsterte: "Elise, leben Sie wohl! Ich darf nicht mehr sagen." Dieser interessanten Geschichte folgt der erste Siegwartjammer.

<239> "Vernichtet!" "Lautlos." "Trostloseste Zerrissenheit! "Brennende Stirn." "Tiefste Seufzer." "Der wildeste Schmerz durchzuckte sein Hirn" etc. (pag. 37).

Die ganze Eliasszene wird dadurch zur reinen Komödie, die er dem "Freund Paul" und sich selbst vorgespielt hat. Paul tritt auch wieder auf, um Siegwart, der einsam jammernd daselbst sitzt, ins Ohr zu flüstern: "Diesen Kuß für meinen Gottfried" (pag. 38).

Gottfried wird wieder fidel.

"Fester als je steht mein Plan, würdig und nicht ohne Namen mein süßes Lieb wiederzuschauen" (pag. 38).

Die Reflexion auf den zu erwartenden Namen, das Prunken mit den Vorschußlorbeerkronen, fehlt auch in dem Liebesschmerz nicht. Gottfried benutzt das Intermezzo, um seine Liebe in überschwenglicher Renommisterei zu Papier zu bringen, damit der Welt auch seine Tagebuchgefühle nicht verlorengehen. Die Szene hat jedoch ihre Pointe noch nicht erreicht. Der getreue Paul muß den weltstürmenden Meister darauf aufmerksam machen, daß Elise vielleicht später, wenn sie stehen bliebe, während er sich fortentwickele, ihm nicht mehr genügen werde.

"O nein!" sprach Gottfried. "Diese Himmelsblüte, die ja kaum ihre ersten Blätter noch aufgetan, duftet schon so süß. Wie wenn ... der glühende Sommerstrahl männlicher Kraft ihre inneren Kelchblätter entfaltet!" (pag.40.)

Paul sieht sich genötigt, auf das unsaubere Bild zu antworten, daß gegen einen Dichter Vernunftgründe nichts nutzen.

"Und all eure Weisheit schützt euch doch ebensowenig gegen die Launen des Lebens als unsere liebenswürdige Torheit", entgegnete Gottfried lächelnd" (pag. 40).

Rührendes Bild, Narzissus sich selbst zulächelnd! Der unbeholfene Kandidat tritt plötzlich als liebenswürdiger Tor auf, Paul wird zum Wagner, der den großen Mann bewundert, und der große Mann "lächelt", "ja, er lächelt sanft und freundlich". Die Pointe ist gerettet.

*

Gottfried gelangt endlich dazu, Bonn zu verlassen. Die dort errungene Höhe seiner wissenschaftlichen Bildung resümiert er selbst wie folgt:

"Von dem Hegeltum komme ich leider mehr und mehr ab; Rationalist zu sein, ist mein höchster Wunsch, dabei bin ich jedoch zugleich Supranaturalist und Mystiker, nötgenfalls sogar Pietist" (pag. 45).

Dieser Selbstschilderung ist nichts hinzuzufügen.

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"Berlin. Okt. 1834-Aug. 1835"

<240> Aus der kleinen Familien- und Studentenmisere kömmt Gottfried nach Berlin. Von einem Einfluß der wenigstens in Vergleich zu Bonn großstädtischen Verhältnisse, von einer Beteiligung an der damaligen wissenschaftlichen Bewegung finden wir keine Spur; Gottfrieds Tagebuch beschränkt sich auf Gemütsbewegungen, die er mit einem neuen compagnon d'aventure <Gefährten seiner Abenteuer>, Hugo Dünweg aus Barmen, erlebt, und auf die kleinen Leiden des armen Theologen, Geldverlegenheiten, schäbige Fräcke, Anstellung als Rezensent usw. Sein Leben steht in keiner Beziehung zu dem öffentlichen Leben der Stadt, sondern bezieht sich lediglich auf die Familie Schlössing, in welcher Dünweg als Meister Wolfram <Wolfram von Eschenbach> und Gottfried als Meister Gottfried von Straßburg im stillen passieren (pag. 67). Elise schwindet mehr und mehr aus seinem Herzen, er empfindet ein neues Jucken für Fräulein Maria Schlössing, erfährt zum Unglück noch die Verlobung Elisens mit einem andern und resümiert zuletzt seine Berliner Gefühle und Strebungen in der "dunkeln Sehnsucht nach einem weiblichen Wesen, das er ganz sein [nennen] dürfe".

Berlin darf indes nicht verlassen werden ohne die unvermeidliche Pointe:

"Bevor er Berlin verließ, führte ihn der alte" (Regisseur) "Weiß noch einmal in das Innere des Schauspielhauses. Ein seltsames Gefühl durchströmte den Jüngling, als der freundliche Greis in dem großen Saale, wo die Büsten deutscher Dramatiker aufgestellt sind, auf einige leere Nischen hindeutend, mit beziehungsvollem Tone sprach:

'Es sind noch Plätze frei'"

Der Platz für den Plateniden Gottfried, der sich den Hochgenuß "künftiger Unsterblichkeit" so ernsthaft von einem alten Farceur <Possenreißer> kredenzen läßt, dieser Platz ist in der Tat noch frei.

*

"Bonn. Herbst 1835-Herbst 1837"

"In stetem Schwanken zwischen Kunst, Leben und Wissenschaft unentschieden begriffen, in allen dreien ohne feste Bestimmung tätig, gedachte er aus allen soviel zu lernen, zu gewinnen, selbst zu schaffen, als es seine Unentschiedenheit zuließe" (pag. 89).

Mit dieser Erkenntnis des unentschiedenen Dilettanten kehrt Gottfried nach Bonn zurück. Das Gefühl des Dilettantismus verhindert ihn natürlich nicht, sein Lizentiatenexamen zu machen und Privatdozent an der Universität Bonn zu werden.

<241> "Weder Chamisso noch Knapp hatten die ihnen zugesandten Gedichte in ihren Taschenbüchern aufgenommen, und das kränkte ihn sehr" (pag. 99).

Das ist das Debüt des großen Mannes, der in Privatkreisen immer auf geistigen Pump von seiner künftigen Bedeutung lebt, in seinen ersten öffentlichen Versuchen. Von diesem Augenblick wird er definitiv zur zweifelhaften Lokalgröße für belletristische Studentenzirkel, bis ihn ein Streifschuß in Baden plötzlich zum Helden des deutschen Philistertums macht.

"Mehr und mehr erwachte dagegen in Kinkels Brust die Sehnsucht nach einer festen und treuen Liebe, die sich durch keine Arbeiten wollte verdrängen lassen" (pag. 103).

Das erste Opfer dieser Sehnsucht ist eine gewisse Minna. Gottfried tändelt mit Minna und tritt zur Abwechslung als mitleidiger Mahadö <Shiva> auf, der sich von der Jungfrau anbeten läßt und dabei Reflexionen über ihren Gesundheitszustand macht.

"Kinkel hätte sie lieben können, wenn es ihm möglich gewesen wäre, sich über ihren Zustand zu täuschen; doch seine Liebe hätte ja die welkende Rose noch rascher getötet. Minna war das erste Mädchen, das ihn verstehen konnte; aber sie hätte ihm, eine zweite Hekuba, nicht Kinder sondern Fackeln geboren, und der Eltern Glut hätte durch sie, wie Priamus' Troja, das eigne Haus verbrannt. Dennoch konnte er nicht von ihr lassen, um sie blutete sein Herz, er war elend nicht aus Liebe, sondern aus Mitleid".

Der göttliche Held, dessen Liebe wie der Anblick Jupiters töten soll, ist nichts als der ordinäre, stets über sich selbst reflektierende Geck, der sich bei seinen Heiratsstudien zum erstenmal in der Rolle des Herzbrechers versucht. Die widerliche Betrachtung über den Krankheitszustand und dessen Folgen bei möglicherweise zu erzielenden Kindern wird überdies durch den Umstand zur gemeinen Spekulation, daß er das Verhältnis zu seiner inneren Selbstbefriedigung fortsetzt und nicht eher abbricht, als bis es ihm Gelegenheit zu einer neuen melodramatischen Szene verschafft.

Gottfried reist zu einem Onkel, dessen Sohn eben gestorben ist; bei der ausgestellten Leiche, in schauerlicher Mitternachtsstunde, bereitet er eine Bellinische Opernszene mit seiner Kusine, Mademoiselle Elise II, verlobt sich mit derselben "angesichts des Toten" und wird auch am folgenden Morgen von dem Onkel glücklich als künftiger Eidam akzeptiert.

"Oft auch dachte er an Minna und den Augenblick, wo er sie wiedersehen mußte, da er nun doch ewig für sie verloren war; allein er fürchtete sich nicht vor diesem Moment, weil sie ja keine Ansprüche auf ein Herz erheben konnte, das bereits gebunden war" (pag. 117).

<242> Die neue Verlobung hat keine andere Bedeutung, als das Verhältnis mit Minna zu einer dramatischen Kollision zu bringen, in welcher sich "Pflicht und Leidenschaft" gegenüberstehen. Diese Kollision selbst wird in der philisterhaftesten Schuftigkeit herbeigeführt, indem der Biedermann bei sich selbst die Rechtsansprüche Minnas auf sein Herz leugnet, welches bereits gebunden sei; dem tugendhaften Mann verschlägt es natürlich nichts, daß er sogar diese feige Selbstlüge noch durch nachträgliche Umkehrung der Zeitfolge in dem "gebundenen Herzen" rettet.

Gottfried hat sich in die interessante Notwendigkeit gestürzt, ein "armes großes Herz" brechen zu müssen:

"Nach einer Pause fuhr Gottfried fort: 'Zugleich glaube ich, Ihnen, liebe Minna, ein Vergehen abbitten zu müssen - ich habe vielleicht an Ihnen gesündigt - Minna, diese Hand, die ich Ihnen gestern so freundlich ließ, diese Hand ist nicht mehr frei - ich bin Verlobter!'" (pag. 123.)

Der melodramatische Kandidat hütet sich wohl, ihr zu sagen, daß diese Verlobung ein paar Stunden später stattgefunden hatte, nachdem er ihr "so freundlich" seine Hand gelassen.

"O Gott! - Minna - können Sie mir vergehen?" (loc. cit.)

"Ich bin Mann und muß meiner Pflicht getreu sein - ich darf Sie nicht lieben! Aber getäuscht habe ich Sie nicht" (pag. 124).

Nach dieser nachträglich arrangierten Tugendpflicht fehlt nur noch eine Herbeiführung des Unglaublichen, eine effektvolle Umkehrung des ganzen Verhältnisses, in welcher nicht Minna ihm, sondern der moralische Pfaffe der Betrogenen verzeiht. Zu diesem Zweck wird die Möglichkeit erdacht, daß Minna ihn "in der Ferne hassen könne", und an diese Supposition knüpft sich die folgende Schlußmoral:

"'Das vergebe ich Ihnen gern, und Sie können, wenn dieser Fall eintritt, im voraus meiner Verzeihung gewiß sein. Und nun leben Sie wohl, meine Pflicht ruft mich, ich muß Sie verlassen!' - Dann ging er mit langsamen Schritten aus der Laube ... Gottfried fühlte sich von jener Stunde an unglücklich" (pag. 124).

Der Schauspieler und eingebildete Liebhaber verwandelt sich in den heuchlerischen Pfaffen, der sich mit einem salbungsvollen Segen aus der Affäre zieht; Siegwart ist durch die erlogenen Liebeskonflikte zu dem glücklichen Resultat gekommen, sich in der Einbildung für unglücklich halten zu können.

Zuletzt kömmt an den Tag, daß alle diese arrangierten Liebesgeschichten nichts als eine kokette Liebelei Gottfrieds mit sich selbst waren. Die ganze <243> Historie läuft darauf hinaus, daß der von seiner künftigen Unsterblichkeit träumende Pfaffe alttestamentarische Geschichten und moderne Leihbibliothekphantasien à la Spieß, Clauren und Cramer aufführt und sich so in der Einbildung als romantischen Helden genießt.

"Als er unter seinen Büchern umherkramte, fiel ihm der 'Ofterdingen' von Novalis in die Hand, der ihn noch vor einem Jahre so oft zur Poesie entflammt hatte. Schon als er das Gymnasium besuchte und mit einigen Freunden unter dem Namen 'Teutonia' eine Gesellschaft gestiftet, welche sich zum Zweck setzte, sich gegenseitig das Verständnis deutscher Geschichte und Literatur zu erschließen, hatte er sich den Namen Heinrich von Ofterdingen beigelegt ... Jetzt ward ihm die Bedeutung dieses Namens klar. Er dünkte sich selbst jener Heinrich in dem lieblichen Städtchen am Fuße der Wartburg, und die Sehnsucht nach der 'blauen Blume' ergriff ihn mit unbezwinglicher Gewalt. Nicht Minna konnte die leuchtende Märchenblüte sein, auch seine Braut nicht, so sehr er sein Herz befragte. Träumend las er weiter und weiter, die tolle Zauberwelt umfing ihn, und endlich warf er sich weinend auf einen Sessel, der 'blauen Blume' gedenkend."

Gottfried enthüllt hier die ganze romantische Lüge, in die er sich eingekleidet hat; der Karnevalberuf, sich in fremde Personen zu verkleiden, ist sein wahres "inneres Wesen". Wie er sich früher Gottfried von Straßburg nannte, tritt er jetzt als Heinrich von Ofterdingen auf, und was er sucht, ist nicht die "blaue Blume", sondern ein Frauenzimmer, welches ihn als Heinrich von Ofterdingen anerkennt. Diese "blaue Blume", er fand sie auch schließlich in etwas vergilbter Form in einem Frauenzimmer, welches in seinem und ihrem Interesse die ersehnte Komödie mit ihm spielte.

Die erlogene Romantik, die Travestie und Karikierung alter Historien und Abenteuer, welche Gottfried aus Mangel an eigenem Fonds anderen nacherlebt, dieser ganze Gefühlsschwindel inhaltsloser Kollisionen mit Marien, Minnan, Elisen I und II haben ihn so weit gebracht, daß er sich auf der Höhe Goethescher Erlebnisse angekommen glaubt. Wie Goethe nach seinen Liebesstürmen plötzlich nach Italien aufbricht und hier seine "Elegien" schreibt, glaubt Gottfried nach seinen eingebildeten Liebesduseleien nunmehr auch das Recht zu einem Römerzug zu haben. Goethe hat Gottfried geahnt:

Hat doch der Walfisch seine Laus,
Kann ich auch meine haben.
<Goethe, "Zahme Xenien">

*

"Italien. Okt. 1837-März 1838"

Der Römerzug wird in Gottfrieds Tagebüchern mit einer bogenlangen Beschreibung der Reise von Bonn nach Koblenz eröffnet. Diese neue Epoche beginnt wiederum, wie die vorige geschlossen hat, mit der beziehungsreichen <244> Anwendung fremder Erlebnisse. Gottfried erinnert sich auf dem Dampfschiff an den "vortrefflichen Zug Hoffmanns", welcher den "Meister Johannes Wacht grade nach dem gewaltigsten Schmerz ein sehr künstlerisches Werk schaffen läßt"; zur Bewahrheitung dieses "vortrefflichen Zuges" gerät Gottfried nach dem "gewaltigen Schmerz" über Minna in "Nachdenken" "über die längst beabsichtigte Ausführung eines Trauerspiels" (pag. 140).

Auf Kinkels Reise von Koblenz nach Rom ereignet sich folgendes.

"Die freundlichen Briefe seiner Braut, welche er häufig empfing und meist auf die Stelle beantwortete, verdrängten die düstern Gedanken" (pag. 144).

"Seine Liebe zu der schönen Elise II schlug tiefe Wurzeln in der sehnenden Jünglingsbrust" (pag. 146).

In Rom ereignet sich folgendes:

"Bei seiner Ankunft in Rom hatte Kinkel einen Brief von seiner Braut vorgefunden, der seine Liebe zu ihr noch steigerte und Minnas Bild mehr und mehr zurücktreten ließ. Sein Herz sagte ihm, daß Elise ihn glücklich machen könne, und er gab sich mit der reinsten Glut diesem Gefühle hin ... Er hatte jetzt erst lieben gelernt" (pag. 151).

Minna, welche er früher bloß aus Mitleid geliebt, ist also in der Gefühlsszenerie wieder hervorgetreten. In dem Verhältnis mit Elisen träumt er, daß Elise ihn, nicht daß er sie glücklich machen könne. Und doch hat er in der Phantasie von der "blauen Blume" schon vorher ausgesprochen, daß die Märchenblüte, nach welcher er so poetisches Jucken fühlt, weder Elise noch Minna sein können. Die neu erwachten Gefühle für diese beiden Mädchen dienen indes zur Gruppierung, um einen abermaligen Konflikt zu arrangieren.

"Kinkels Poesie schlummerte scheinbar in Italien" (pag. 151).

Warum?

"Weil ihm noch die Form mangelte" (pag. 152).

Später erfahren wir, daß er als Resultat eines sechsmonatlichen Aufenthalts in Italien, die "Form" wohlverpackt nach Deutschland mitbrachte. Da Goethe in Rom seine "Elegien" gedichtet hat, so ersinnt Gottfried ebenfalls eine Elegie "Romas Erwachen" (pag. 153).

Die Magd Kinkels reicht ihm in seiner Wohnung einen Brief von seiner Braut. Freudig erbricht er ihn -

"und sank mit einem Schrei auf sein Lager. Elise meldete ihm, ein wohlhabender Mann, ein Dr. D., der eine ausgebreitete Praxis und sogar ein Reitpferd besäße, habe sich um sie beworben; da es nun noch lange Zeit währen möchte, bevor er, Kinkel, der arme Theolog, sich eine feste Stellung geschaffen, bäte sie ihn, das Band, welches sie an ihn fessele, zu lösen."

<245> Vollständige Reminiszenz aus "Menschenhaß und Reue".

Gottfried "vernichtet", "gräßliche Versteinerung", "trocknes Auge", "Gefühl der Rache", "Dolch", "Brust des Nebenbuhlers", "Herzblut des Gegners", "Eiseskälte", "wahnsinniger Schmerz" usw. (pag. 156 und 157).

Was in diesen "Leiden und Freuden des armen Theologen" den unglücklichen Kandidaten hauptsächlich kränkt, ist der Gedanke, daß sie ihn um den "ungewissen Besitz irdischer Güter verschmäht" (pag. 157). Nach den bühnenmäßig vorgeschriebenen Gefühlen, die ihn ergreifen, erhebt er sich endlich zu folgender Tröstung:

"Sie war deiner nicht wert - und dir bleibt ja die Schwinge des Genius, die dich hoch emportragen wird über dies dunkle Weh! Und wenn dereinst dein Ruhm über den Erdball fliegt, dann mag die Falsche in der eignen Brust das Strafgericht erkennen! - Wer weiß auch, ob nicht ihre Kinder nach Jahren mich aufsuchen, um meine Hülfe zu erflehen, und dem möchte ich nicht vorschnell ausweichen" (pag. 157).

Nach dem unvermeidlichen, antizipierten Hochgenuß des "künftigen Ruhms, der über den Erdball fliegt", kömmt hier der gemeine pfäffische Philister zum Vorschein. Er spekuliert darauf, daß Elisens Kinder vielleicht später im Elend des großen Poeten Almosen anflehen könnten - "dem möchte er nicht vorschnell ausweichen". Und warum? Weil Elise dem "künftigen Ruhm", von dem Gottfried fortwährend träumt, ein "Reitpferd vorzieht", weil sie der Affenkomödie, welche er mit dem Namen Heinrichs von Ofterdingen aufzuführen gedenkt, "irdische Güter" vorzieht. Schon der alte Hegel hat mit Recht bemerkt, daß das edelmütige Bewußtsein immer in das niederträchtige umschlägt.

*

"Bonn. Sommer 1838-Sommer 1843"

(Kabale und Liebe)

Nachdem Gottfried in Italien Goethe karikiert hat, nimmt er sich bei seiner Rückkehr vor, Schillers "Kabale und Liebe" aufzuführen.

Trotz der weltschmerzlichen zerrissenen Brust befindet sich Gottfried leiblich "wohler als je" (pag. 167). Er beabsichtigt, sich "einen literarischen Ruf durch Arbeiten zu begründen" (pag. 169), was ihn indes später nicht verhindert, als die "Arbeiten" den literarischen Ruf nicht zu begründen vermögen, sich einen wohlfeileren Ruf ohne Arbeiten zu verschaffen.

Die "dunkle Sehnsucht", mit welcher Gottfried immer einem "weiblichen Wesen" nachjagt, äußert sich in einer merkwürdig schnellen Folge von Heiratsversprechnissen und Verlobungen. Das Eheversprechen ist die klas- <246> sische Form, mit welcher der starke Mann und überlegene "künftige" Geist in der Wirklichkeit seine Geliebten zu erobern und an sich zu fesseln sucht. Sobald er ein blaues Blümchen zu sehen glaubt, welches ihm zu der Rolle Heinrichs von Ofterdingen verhelfen könnte, verdichtet sich die weiche nebelhafte Gefühlsduselei des Poeten zu dem sehr deutlichen Traumbild des Kandidaten, die ideelle Wahlverwandtschaft durch ein Band der "Pflicht" zu ergänzen. Diese bürgerliche Jagd, in welcher die Verlobungen à tort et à travers <wild durcheinander> nach den ersten Begrüßungen an alle Gänse- und Wasserblümchen fliegen, läßt die lämmerschwänzelnde schlappe Koketterie nur um so widerlicher erscheinen, mit der Gottfried fortwährend seine Brust zur Konstatierung seines "großen Dichterschmerzes" öffnet.

Gottfried muß sich daher nach seiner Rückkehr aus Italien auch natürlich wieder "versprechen"; das Objekt seiner Sehnsucht wird ihm diesmal direkt von seiner Schwester angewiesen, jener Dame Johanna, deren pietistischer Fanatismus schon früher von Gottfrieds Tagebuchexklamationen verewigt wurde.

"Bögehold hatte in diesen Tagen seine Verlobung mit Fräulein Kinkel erklärt, und Johanna, die sich jetzt noch zudringlicher als je in die Herzensangelegenheiten ihres Bruders einmischte, wünschte aus mancherlei Gründen und Familienrücksichten, die der Welt lieber verschwiegen bleiben, daß Gottfried nun wechselweis wieder die Schwester ihres Bräutigams, Fräulein Sophie Bögehold, heimfuhren möge" (pag. 172). "Kinkel" - es versteht sich dies von selbst - "mußte sich notwendig zu einem sanften Mädchen hingezogen fühlen ... Letztere war ein liebes, schuldloses Mädchen" (pag. 173). "Auf die zarteste Weise" - es versteht sich dies von selbst - "warb Kinkel um ihre Hand, die ihm freudig von den beglückten Eltern zugesagt war, sobald" - es versteht sich dies von selbst - "er sich erst eine sichere Stellung erworben hätte und seine Braut" - es versteht sich dies von selbst - "als Professor oder Besitzer einer stillen Pfarrerwohnung heimführen könnte."

Die Heiratstendenz, welche in allen Abenteuern des brünstigen Kandidaten durchgeht, nahm er bei dieser Gelegenheit in folgenden zierlichen Verslein zu Papier:

Nach anders nichts trag' ich Verlangen
Als nur nach einer weißen Hand!

Alles andere, Augen, Lippen, Locken, erklärt er für "Tand".

Das alles reizt nicht sein Verlangen,
Allein die kleine weiße Hand! (pag. 174.)

<247> Die Liebelei, welche er auf Ordre der "mehr als je zudringlichen Schwester Johanna" und aus fort und fort prickelndem Verlangen nach einer "Hand" mit Fräulein Sophie Bögehold anzettelt, nennt er zugleich "tief, fest und still" (pag. 175), und namentlich "spielte das religiöse Element eine große Rolle in dieser neuen Liebe" (pag. 176).

Das religiöse Element ersetzt nämlich bei Gottfrieds Liebesgeschichten abwechselnd das Roman- und Schauspielelement. Wo er sich nicht durch Komödieneffekte in neue Siegwartsituationen lügen kann, werden religiöse Gefühle angewandt, um diesen ordinären Geschichten zu einer höheren Bedeutung zu verhelfen. Siegwart wird zum frommen Jung-Stilling, der gleichfalls von Gott so wunderbar gestärkt war, daß er drei Weiber unter seiner männlichen Brust erliegen sah und doch immer wieder eine neue Liebe "heimführen" konnte.

*

Wir kommen endlich zu der verhängnisvollen Katastrophe in dieser tatenreichen Lebensgeschichte, zu der Bekanntschaft Stillings mit Johanna Mockel, geschiedene Mathieux. Hier fand Gottfried einen weiblichen Kinkel, sein romantisches alter ego <anderes Ich>, nur härter, klüger, weniger verschwommen und durch gereiftes Alter über die ersten Illusionen hinaus.

Mockel hatte mit Kinkel das Verkanntsein von der Welt gemein. Sie war abstoßend, eine vulgäre Erscheinung; in ihrer ersten Ehe war sie unglücklich gewesen. Sie besaß musikalische Talente, jedoch nicht hinlänglich, um durch ihre Kompositionen oder technische Fertigkeit Epoche zu machen; in Berlin hatte sie in dem Versuch, die veralteten Kindereien Bettinens <Bettina von Arnim> zu kopieren, Fiasko gemacht. Ihr Charakter war durch die Erfahrungen verbittert. Wenn sie auch mit Kinkel die Zierbengelei gemein hatte, den gewöhnlichen Ereignissen ihres Lebens durch überschwengliche Zutat eine "höhere Weihe" zu geben, so war bei ihr infolge des vorgeschrittenen Alters das Bedürfnis (nach Strodtmann) der Liebe doch dringender als die poetischen Faseleien derselben. Was bei Kinkel in dieser Beziehung weibisch war, wurde bei Mockel männisch. Nichts natürlicher daher, als daß eine solche Erscheinung mit Freuden darauf einging, mit Kinkel die Komödie der verkannten schönen Seelen zu einer wechselseitig befriedigenden Lösung zu spielen, Siegwart in seiner Rolle als Heinrich von Ofterdingen anzuerkennen und sich von ihm als "blaue Blume" finden zu lassen.

Nachdem Kinkel eben durch Hülfe seiner Schwester zu einer dritten oder <248> vierten Verlobten gekommen ist, wird er jetzt durch Mockel in ein neues Liebeslabyrinth geführt.

Gottfried befindet sich in der "Woge der Gesellschaft" (pag. 190), einer jener kleinen Professoren- oder "Honoratiorenzirkel" deutscher Universitätsstädtchen, welche nur in dem Leben christlich-germanischer Kandidaten Epoche machen können. Mockel singt und wird applaudiert. Bei Tisch ist es arrangiert, daß Gottfried neben sie zu sitzen kömmt, und hier entwickelt sich folgende Szene:

"'Es müsse sich ein herrliches Gefühl sein', meinte Gottfried, 'so von allen bewundert auf der Schwinge des Genius durch die fröhliche Welt zu schweben.' - 'Das glauben Sie', versetzte Mockel bewegt. 'Ich höre, Sie haben ein schönes Talent zur Poesie. Vielleicht wird man Ihnen dann auch Weihrauch streuen ... und dann will ich Sie fragen, ob Sie glücklich sind, wenn Sie nicht...' - 'Wenn ich nicht?' fragte Gottfried die Stockende" (pag. 188).

Der Köder war für den unbeholfenen lyrischen Kandidaten geworfen.

Mockel teilt ihm darauf mit, daß sie ihn kürzlich

"über das Heimweh der Christen predigen gehört und gedacht, wie sehr der schöne Jüngling der Welt müsse entsagt haben, der auch in ihr eine leise Sehnsucht nach dem harmlosen Kindesschlummer erregt hatte, mit dem sie einst der verlorene Klang des Glaubens umfing" (pag. 189).

Gottfried war "bezaubert" (p. 189) von dieser Höflichkeit. Es war ihm ungeheuer angenehm zu finden, "daß Mockel nicht glücklich sei" (loc. cit.) Er beschließt sogleich, "mit seiner warmen Begeisterung für den Glauben der Erlösung durch Jesum Christum" "auch diese trauernde Menschenseele ... wiederzugewinnen" (loc. cit.). Da Mockel katholisch ist, so wird das Verhältnis un[ter] dem eingebildeten Motiv angeknüpft, im "Dienst des Allmächtigen" eine Seele zu gewinnen, eine Komödie, auf w[elche] Mockel auch eingeht.

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"Im Laufe des Jahres 1840 erhielt Kinkel ebenfalls die Anstellung als Hülfskandidat der evangelischen Gemeinde zu Köln, wohin er jeden Sonntagmorgen hinüberfuhr, um zu predigen" (pag. 193).

Die Bemerkung des Biographen veranlaßt uns, auf Kinkels Stellung als Theologe mit einigen Worten einzugehen. "Im Laufe des Jahres 1840" hatte die Kritik bereits in der schonungslosesten Form den Inhalt des Christentums zersetzt, die wissenschaftliche [...] <Das fehlende Wort ist durch Streichung unlesbar> war mit Bruno Bauer in offenen <249> Konflikt mit dem Staat gekommen. Kinkel tritt in dieser Epoche als Prediger auf, aber einerseits ohne die Energie der Orthodoxie und anderseits ohne den Verstand, die Theologie objektiv zu erfassen, findet er sich in sentimentaler lyrisch-deklamatorischer Weise à la Krummacher mit dem Christentum ab, indem er Christus als "Freund und Führer" einführt, das "Unschöne" in der Form des Christentums abzustreifen sucht und den Inhalt durch eine hohle Phraseologie ersetzt. Diese Manier, welche den Inhalt durch die Form, den Gedanken durch die Phrase ersetzen will, hat in Deutschland eine Reihe von deklamatorischen Pfaffen zutage gefördert, deren letzte Ausläufe naturgemäß in die Demokratie führen mußten. Wenn in der Theologie doch hier und da noch wenigstens ein oberflächliches Wissen nötig, so fand die leere Phraseologie dagegen ihre volle Anwendung in der Demokratie, wo die hohle, vollklingende Deklamation, die nullité sonore <tönende Nichtigkeit>, vollständig den Geist und die Einsicht der Verhältnisse überflüssig macht. Kinkel, dessen theologische Studien zu nichts als zu sentimentalen Extrakten des Christentums in Claurenscher Darstellung führen, war in Reden und Schriften der Ausdruck dieser kanzelberedsamen Schwindelei, welche man sonst auch als die "poetische Prosa" bezeichnete und die er jetzt komischerweise zum Vorwand seines "Dichterberufs" machte. Seine Dichterschaft beruht auch [nicht] in Anlegung wirklicher Lorbeeren, sondern in der Pflanzung von roten Judenkirschen, mit denen er die triviale Landstraße verschönert. Dieselbe Gemütsschwäche, die Kollisionen nicht dem Inhalt nach, sondern durch eine bequeme Form zu überwinden, zeigt sich denn auch in der Dozentenstellung an der Universität. Dem Kampf gegen den alten Fachpedantismus wird ausgewichen durch "burschikoses" Verhältnis, welches den Dozenten zum Studenten macht und den Studenten zum Privatdozenten erhebt. Aus dieser Schule ist denn auch eine ganze Generation von Strodtmanns, Schurzen und ähnlichen Subjekten hervorgegangen, die schließlich ihre Phraseologie, ihre Kenntnisse und ihren leichten "hohen Beruf" nur in der Demokratie anwenden konnten.

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Das neue Liebesverhältnis entwickelt sich jetzt zur Historie von "Gockel, Hinkel und Gackeleia".

Das Jahr 1840 bildete einen Wendepunkt in der deutschen Geschichte. Auf der einen Seite hatte die kritische Anwendung der Hegelschen Philosophie auf die Theologie und Politik die Wissenschaft revolutioniert, auf der <250> anderen Seite begann seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. die Bewegung des Bürgertums, deren konstitutionalistische Bestrebungen noch einen vollständig radikalen Schein hatten: von der im Vagen schwimmenden "politischen Poesie" der damaligen Zeit bis zu der neuen Erscheinung einer revolutionären Macht der Tagespresse.

Was tat Gottfried zu jener Zeit? Mockel stiftete mit ihm den "Maikäfer, eine Zeitschrift für Nicht-Philister" (pag. 209) und den Maikäferverein. Dies Blatt hatte nämlich bloß

"den Zweck, einem engeren Freundeskreise wöchentlich einen heitern und genußreichen Abend zu verschaffen und den Teilnehmern Gelegenheit zu gehen, ihre Produktionen der Kritik eines wohlwollenden kunstsinnigen Zirkels zu unterwerfen" (pag. 209-210).

Die eigentliche Tendenz des Maikäfervereins war die Auflösung des blauen Blumenrätsels. Die Sitzungen fanden in Mockels Hause statt und hatten den Zweck, in einem Kreise unbedeutender belletristischer Studenten Mockel als "Königin" (pag. 210) und Kinkel als "Minister" (pag. 255) zu verherrlichen. Die beiden verkannten schönen Seelen fanden Gelegenheit, sich für das "Unrecht, das ihnen die arge Welt zufügte" (pag. 296) im Maikäferverein gütlich zu tun; sie konnten sich gegenseitig in ihren Rollen als Heinrich von Ofterdingen und blaue Blume anerkennen; Gottfried, dem das Nachschauspielern fremder Rollen zur andern Natur geworden war, mußte sich glücklich fühlen, endlich es zu einem wirklichen "Liebhabertheater" (pag. 254) gebracht zu haben. Die Affenkomödie selbst diente zugleich als Vorspiel der praktischen Entwicklung:

"Diese Abende gaben ihm Veranlassung, Mockel auch außerdem im Hause ihrer Eltern zu besuchen" (pag. 212).

Es kam hinzu, daß der Maikäferverein den Göttinger Hainbund nachäffte, nur mit dem Unterschied, daß dieser eine Entwicklungsepoche in der deutschen Literatur bezeichnet, während der Maikäferverein eine bedeutungslose Lokalkarikatur blieb. Die "fidelen Maikäfer" (pag. 254), wie Sebastian Longard, Leo Hasse, C. A. Schlönbach etc., waren nach dem Bekenntnis des apologetischen Biographen selbst fahle, fade, faule, unbedeutende Burschen (pag. 211 u. 298).

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Gottfried stellte natürlich bald "vergleichende Betrachtungen" (pag. 221) zwischen Mockel und seiner Braut an, hatte aber "bisher noch keine Zeit zu" - der ihm sonst sehr geläufigen - "alltäglichen Betrachtung von Hoch- <251> zeit und Ehestand" (pag. 219). Er stand, mit einem Wort, wie Buridans Esel unentschieden zwischen den beiden Heubündeln. Mockel jedoch mit gereifter Erfahrung und sehr praktischer Tendenz "durchschaute klar das unsichtbare Band" (pag. 225); sie beschloß, dem "Zufall oder einer göttlichen Fügung" (pag. 229) unter die Arme zu greifen.

"Zu einer Tageszeit, die Gottfried sonst gewöhnlich mit wissenschaftlichen Lehrarbeiten von Mockel fernhielt, begab er sich einst zu ihr und hörte, als er sich leise ihrem Zimmer näherte, einen klagenden Gesang an sein Ohr schallen. Lauschend vernahm er das Lied:

Du nahst! Und wie Morgenröte
Bebt's über die Wangen mein usw. usw.
Viel namenlose Schmerzen:
Wehe Du fühlst es nicht!

Ein langgetragener wehmütiger Akkord beschloß ihren Gesang und verhallte mählich in den Lüften" (pag. 230 u. 231).

Gottfried glaubt unbemerkt zurückzuschleichen, findet zu Hause die Situation sehr interessant und schreibt verzweifelte Sonette, in denen er Mockel mit Lorelei vergleicht (pag. 233). Um der Lorelei zu entlaufen und Fräulein Sophie Bögehold treu zu bleiben, sucht er eine Lehrerstelle in Wiesbaden zu erhalten, wird jedoch abgewiesen. Zu dem oben erwähnten Zufall kam noch eine andere Fügung, welche entscheidend war. Nicht nur "strebte die Sonne aus dem Zeichen der Jungfrau" (pag. 236), sondern Gottfried und Mockel machen auch eine Lustfahrt in einem Nachen auf dem Rhein; der Nachen wird von einem nahenden Dampfschiff umgeworfen und Gottfried trägt Mockel schwimmend ans Land.

"Als er die Gerettete darauf Herz an Herzen schwimmend ans Land ruderte, durchstürmte ihn zum erstenmal das Gefühl, daß nur dies Weib ihn zu beseligen vermöchte" (pag. 238).

Gottfried hat diesmal endlich nicht eine eingebildete, sondern eine wirkliche Romanszene, aus den "Wahlverwandtschaften", erlebt. Damit ist die Sache entschieden; er trennt sich von Sophien Bögehold.

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Nach der Liebe jetzt die Kabale. Pastor Engels stellt Gottfried namens des Presbyteriums vor, daß die Verbindung mit einer geschiedenen und katholischen Frau bei einem protestantischen Prediger wie Gottfried anstößig sei. Gottfried macht die ewigen Menschenrechte geltend, indem er folgende Punkte mit vieler Salbung nachweist:

<252> 1. "Sei es kein Verbrechen, daß er im Hirzekümpchen mit jener Dame Kaffee getrunken" (pag. 249).

2. "Sei die Sache in ambiguo <ungewiß>, da er bis jetzt öffentlich weder erklärt habe, die genannte Dame ehelichen zu wollen, noch das Gegenteil" (pag. 251).

3. "Was den Glauben angehe, könne man nicht wissen, was die Zukunft bringen werde" (pag. 250).

"Und nun bitte ich Sie, treten Sie bei mir ein, und nehmen Sie eine Tasse Kaffee" (pag. 251).

Mit diesem Schlagwort treten Gottfried und Pastor Engels, der der Einladung nicht widerstehen kann, von der Szene ab. So gewaltig und so mild wußte Gottfried die Kollision mit den bestehenden Verhältnissen aufzuheben.

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Zur Charakteristik, wie der Maikäferverein auf Gottfried einwirken mußte, dient folgendes:

"Es war der 29. Juni 1841. An diesem Tage sollte das erste große Stiftungsfest des Maikäfervereins gefeiert werden" (pag. 253). "Nur eine Stimme wurde laut, als über den Preis entschieden werden sollte. Bescheiden beugte Gottfried seine Knie vor der Königin, die ihm den unvermeidlichen Lorbeerkranz um die brennende Stirn legte, während das Abendrot seine glühendsten Strahlen über das verklärte Antlitz des Dichters warf." (pag. 285.)

An diese feierliche Weihe des eingebildeten Dichterruhmes von Heinrich von Ofterdingen reiht nun auch die blaue Blume ihre Gefühle und Wünsche. Mockel trug an diesem Abend ein von ihr komponiertes Maikäfer-Nationallied vor, das mit folgender die ganze Tendenz resümierenden Strophe endet:

Und was man lernt aus der Geschicht'?
Maikäfer, flieg!
Wer alt ist, kriegt kein Weiblein mehr,
Drum hör', bedenk' dich nicht zu sehr!
Maikäfer, flieg!

Der harmlose Biograph bemerkt, "die darin enthaltene Aufforderung zur Ehe war vollkommen tendenzlos" (pag. 255). Gottfried verstand die Tendenz, "mochte dem aber nicht vorschnell ausweichen", sich noch zwei Jahre lang vor dem Maikäferverein bekränzen und als Gegenstand der Sehnsucht anliebeln zu lassen, und heiratete Mockel am 22. Mai 1843, nachdem sie trotz ihres Unglaubens zur protestantischen Kirche übergetreten war, <253> unter dem abgeschmackten Vorwande, "daß es in der protestantischen Kirche nicht so sehr auf bestimmte Glaubensformeln als auf den ethischen Begriff ankomme" (pag. 315).

Und das lernt man aus der Geschicht',
Traut keiner blauen Blume nicht!

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Gottfried hat das Verhältnis mit Mockel angeknüpft unter dem Vorwand, sie aus ihrem Unglauben zur protestantischen Kirche zu führen. Mockel verlangt jetzt das "Leben Jesu" von Strauß, fällt in ihren Unglauben zurück,

"und mit beklommenem Herzen folgte er ihr auf den Bahnen des Zweifels in die Abgründe der Negation. Er arbeitete sich mit ihr durch das verschlungene Labyrinth der neueren Philosophie" (pag. 308).

Nicht die Entwicklung der Philosophie, die damals schon auf die Masse wirkte, sondern das Dazwischenkommen eines zufälligen Gemütsverhältnisses treibt ihn in die Negation.

Was er aus diesem Labyrinth der Philosophie herausgefunden, zeigen seine Tagebücher selbst:

"Ich will doch sehen, ob die gewaltige Strömung von Kant bis Feuerbach mich hinaustreibt in den - Pantheismus!! (pag. 308.)

Als ob diese Strömung nicht grade über den Pantheismus hinaustreibe, und als ob Feuerbach das letzte Wort der deutschen Philosophie sei!

"Der Schlußstein meines Lebens", fährt das Tagebuch fort, "ist nicht historische Erkenntnis, sondern ein festes System, und der Kern der Theologie nicht Kirchengeschichte, sondern Dogmatik" (ebenda).

Als ob die deutsche Philosophie nicht gerade die festen Systeme in historische Erkenntnisse und die dogmatischen Kerne in Kirchengeschichte verflüssigte! - In diesen Bekenntnissen zeichnet sich der ganze kontrerevolutionäre Demokrat, für den die Bewegung selbst wieder nur ein Mittel ist, um bei einigen unumstößlichen ewigen Wahrheiten als faulen Ruhepunkten anzukommen.

Der Leser aber mag aus dieser apologetischen Buchführung Gottfrieds über seine ganze Entwicklung nun selbst urteilen, welch revolutionäres Element in diesem schauspielernden, melodramatischen Theologen verbergen lag.