Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 268-281

IV. | Inhalt | VI.

V

<268> Der erste Versuch einer solchen "Organisation" wurde gemacht bereits im Frühling 1850: Es wurde damals in London ein schwulstiger "Entwurf eines Rundschreibens an deutsche Demokraten, als Manuskript gedruckt" kolportiert, nebst einem "Begleitschreiben an die Führer". Man fordert in diesem Rund- und Begleitschreiben zur Schöpfung einer demokratischen Gesamtkirche auf. Nächster Zweck war Bildung eines Zentralbüros für die Angelegenheiten der deutschen Emigration, für gemeinsame Verwaltung der Flüchtlingsangelegenheiten, Errichtung einer Druckerei in London, Vereinigung aller Patrioten gegen den gemeinschaftlichen Feind pp. Die Emigration sollte dann wieder das Zentrum der inländischen Bewegung werden, die Organisation der Emigration den Anfang einer umfassenden Organisation der Demokratie bilden, die Mittellosen unter den hervorragenden Persönlichkeiten sollten als Mitglieder des Zentralbüros durch Steuerbarmachung des deutschen Volks besoldet werden. Diese Steuerbarmachung erschien um so angemessener, als "die deutsche Emigration nicht nur ohne einen erklecklichen Helden, sondern, was schlimmer war, auch ohne einen gemeinschaftlichen Vermögensstock im Auslande anlangte". Es wird nicht verhehlt, daß die bereits bestehenden ungarischen, polnischen und französischen Komitees das Vorbild zu dieser "Organisation" abgeben, und ein gewisser Neid gegen die bevorzugte Stellung dieser hervorragenden Bundesgenossen blickt aus dem ganzen Aktenstück.

Das Rundschreiben war das gemeinsame Produkt der Herren Rudolph Schramm und Gustav Struve, hinter denen sich als korrespondierendes Mitglied die damals in Ostende lebende heitre Figur des Herrn Arnold Ruge verbarg.

Herr Rudolph Schramm - ein krakehliges, schwatzhaftes, äußerst kon- <269> fuses mannequin <Männeken>, das sich als Lebensmotto die Stelle aus "Rameaus Neffen" gewählt hat:

"Lieber will ich ein impertinenter Schwätzer sein, als gar nicht sein." <Diderot, "Rameaus Neffe">

Herr Camphausen, in der Blüte seiner Macht, hätte dem jungen vorlauten Krefelder gern einen bedeutenden Posten gegeben, war es nur mit dem Anstand vereinbar, einen bloßen Referendarius also zu erhöhn. Dank der bürokratischen Etikette blieb Herrn Schramm nur noch die demokratische Karriere offen. In dieser brachte er es wirklich einmal zum Präsidenten des demokratischen Klubs in Berlin und wurde später auf Verwendung einiger Abgeordneten der Linken Deputierter für Striegau zur Berliner Nationalversammlung. Hier zeichnete sich der sonst so redselige Schramm durch ein hartnäckiges, aber von unausgesetztem Knurren begleitetes Stillschweigen aus. Nach Sprengung der Konstituante schrieb der demokratische Volksmann eine konstitutionell-monarchische Broschüre, ohne jedoch wieder gewählt zu werden. Später, während der Zeit der Brentanoschen Regierung, erschien er einen Moment in Baden und machte dort im "Klub des entschiedenen Fortschritts" die Bekanntschaft Struves. In London angekommen, erklärte er, sich von aller politischen Tätigkeit zurückziehn zu wollen, weshalb er dann auch sogleich obiges Rundschreiben erließ. Im Grunde verfehlter Bürokrat, bildete sich Herr Schramm im Hinblick auf Familienbeziehungen ein, das Element der radikalen Bourgeoisie in der Emigration zu vertreten, wie er denn den radikalen Bourgeois nicht ohne einiges Glück karikiert.

Gustav Struve gehört zu den bedeutenderen Figuren der Emigration. Seine saffianlederne Erscheinung, sein dumm-pfiffiges Glotzauge, seine sanftleuchtende Glatze, seine slawisch-kalmückischen Züge verraten auf den ersten Blick den ungewöhnlichen Mann, und der Eindruck wird noch gesteigert durch die gedämpfte Kehlkopfstimme, durch die gefühlvolle Salbung des Vortrags und die feierliche Wichtigkeit der Manieren. Um übrigens der Wahrheit die Ehre zu geben, suchte unser Gustav, bei der heutzutage für jeden so sehr gesteigerten Schwierigkeit sich auszuzeichnen, sich wenigstens dadurch von seinen Mitbürgern zu unterscheiden, daß er, halb Prophet, halb Industrieritter, halb Hühneraugenoperateur, allerhand absonderliche Nebendinge zu seinem Hauptgeschäft erhob und für die verschiedensten Allotria Propaganda machte. So fiel es ihm plötzlich ein, als geborener Russe sich für die deutsche Freiheit zu begeistern, nachdem er bei der russischen Gesandtschaft am Bundestage irgendwelche Supernumerarius- <270> Dienste getan und eine kleine Broschüre im Interesse des Bundestags geschrieben hatte. Da er seinen eignen Schädel für den menschlichen Normalschädel ansah, warf er sich auf Kranioskopie, und von nun an traute er niemandem, dessen Schädel er nicht vorher befühlt und erprobt hatte. Auch hörte er auf, Fleisch zu essen und predigte das Evangelium von der ausschließlichen Pflanzenkost, ferner war er Wetterprophet, eiferte gegen das Tabakrauchen und agitierte bedeutend im Interesse der Moral des Deutschkatholizismus und der Wasserkur. Bei seinem gründlichen Haß gegen alles positive Wissen schwärmte er natürlich für freie Universitäten, auf denen an der Stelle der vier Fakultäten die Kranioskopie, Physiognomik, Chiromantie und Nekromantik betrieben werden sollten. Auch war es ganz in seiner Rolle, daß er mit der äußersten Beharrlichkeit darauf bestand, ein großer Schriftsteller zu werden, eben weil seine Schreibmanier das gerade Gegenteil von allem ist, was für Stil gelten kann.

Gustav hatte bereits in den ersten vierziger Jahren den "Deutschen Zuschauer" erfunden, ein Blättchen, das er in Mannheim herausgab, das er patentierte und das ihn als fixe Idee überall verfolgte. Auch entdeckte er schon damals, daß die beiden Bücher, die sein altes und neues Testament sind, Rottecks "Weltgeschichte" und das Rotteck-Welckersche "Staats-Lexikon", nicht mehr zeitgemäß seien und einer neuen demokratischen Ausgabe bedürften. Diese Bearbeitung, die Gustav sofort unternahm und wovon er schon im voraus einen Auszug als "Grundzüge der Staatswissenschaft" drucken ließ - diese Bearbeitung wurde aber "ein unabweisbares Bedürfnis seit 1848, da der selige Rotteck die Erfahrungen der letzten Jahre nicht mitgemacht hatte".

Mittlerweile brachen nacheinander jene drei badischen "Volks-Erhebungen" aus, die uns Gustav selbst als das Zentrum der ganzen modernen Weltbewegung historisch geschildert hat. Gleich durch den ersten Heckerschen Aufstand ins Exil verschlagen und eben damit beschäftigt, seinen "Deutschen Zuschauer" in Basel wieder herauszugeben, traf ihn der harte Schlag, daß der Mannheimer Verleger den dortigen "Deutschen Zuschauer" unter andrer Redaktion fortsetzen ließ. Der Kampf zwischen dem wahren und dem falschen "Deutschen Zuschauer" war so acharniert <erbittert>, daß keiner von beiden ihn überlebte. Dafür aber faßte Gustav eine Verfassung für die deutsche föderative Republik ab, wonach Deutschland in vierundzwanzig Republiken geteilt wurde, jede mit einem Präsidenten und zwei Kammern; eine saubre Landkarte war beigeheftet, auf der die ganze Einteilung genau <271> zu sehen war. Im September 1848 begann die zweite Insurrektion, deren Cäsar und Sokrates unser Gustav in einer Person war. Er benutzte die Zeit, wahrend der es ihm vergönnt war, den deutschen Boden wieder zu betreten, um den Schwarzwälder Bauern eindringliche Vorstellungen über die Nachteile des Tabakrauchens zu machen. In Lörrach gab er seinen Moniteur heraus unter dem Titel: "Regierungsblatt - Deutscher Freistaat - Freiheit, Wohlstand, Bildung". Dieses Organ brachte u.a. folgendes Dekret:

"Art. 1. Der durch p.p. eingeführte Zuschlagszoll von 10 Prozent auf die von der Schweiz eingehenden Waren ist aufgehoben; Art. 2. Der Verwalter des Zolles, Christian Müller, ist mit der Ausführung dieses Beschlusses beauftragt."

Seine treue Amalie teilte alle seine Beschwerden und schilderte sie nachher romantisch. Auch war sie bei der Vereidigung der gefangenen Gendarmen tätig, indem sie jedem, der dem deutschen Freistaat geschworen, ein rotes Band um den Arm knüpfte und ihn sodann embrassierte. Leider wurden Gustav und Amalie gefangen und schmachteten im Kerker, wo der unverdrossene Gustav sofort seine republikanische Übersetzung von Rottecks "Weltgeschichte" wieder aufnahm, bis endlich die dritte Insurrektion ihn befreite. Jetzt war Gustav Mitglied einer wirklichen provisorischen Regierung, und von nun an gesellt sich zu seinen sonstigen fixen Ideen noch die der provisorischen Regierungsmanie. Als Präsident des Kriegssenats beeilte er sich, in die Angelegenheiten seines Departements möglichst Verwirrung zu tragen und den "Verräter" Mayerhofer zum Kriegsminister zu empfehlen (Goegg, "Rückblick pp.", Paris 1850). Später aspirierte er vergeblich, zum auswärtigen Minister ernannt zu werden und 60.000 Fl[orin] zu seiner Verfügung zu erhalten. Herr Brentano erlöste unsern Gustav bald wieder von der Regierungslast, und Gustav stellte sich nun im "Klub des entschiedenen Fortschritts" an die Spitze der Opposition. Mit Vorliebe richtete er diese Opposition gegen solche Maßregeln Brentanos, denen er selbst seine Zustimmung gegeben hatte. Wenn auch dieser Klub gesprengt wurde und Gustav als Flüchtling nach der Pfalz wandern mußte, so hatte dieses Unheil doch die gute Seite, daß nunmehr zu Neustadt an der Haardt der unvermeidliche "Deutsche Zuschauer" abermals in einer vereinzelten Nummer seine Erscheinung machen konnte - was Gustav für viel unverdientes Leiden entschädigte. Eine weitere Genugtuung war, daß er bei einer Nachwahl in irgendeinem abgelegenen Winkel des Oberlandes zum Mitglied der badenschen Konstituante ernannt wurde und nun in offizieller Kapazität zurückkehren konnte. In dieser Versammlung zeichnete sich Gustav nur durch folgende drei in Freiburg gestellten Anträge aus: 1. am 28. Juni: jeden, <272> der mit dem Feinde unterhandeln wolle, für einen Verräter zu erklären; 2. am 30. Juni: eine neue provisorische Regierung zu ernennen, worin Struve Sitz und Stimme habe; 3. nach Verwerfung des letztern Antrags, an demselben Tage: daß, nachdem das verlorene Treffen bei Rastatt jeden Widerstand erfolglos gemacht habe, man dem Oberlande die Schrecken des Kriegs ersparen müsse und daß zu diesem Behuf man jedem Beamten und Soldaten zehntägigen Sold, den Mitgliedern der Konstituante zehntägige Diäten nebst Reisegeld auszahlen und sodann mit Trommelschall und Trompetenklang nach der Schweiz hinüberziehen solle. Nach Verwerfung auch dieses Antrags ging Gustav sofort auf eigne Faust in die Schweiz und von da, durch den Stock James Fazys verjagt, nach London, wo er mit einer neuen Entdeckung auftrat, nämlich mit den sechs Geißeln der Menschheit. Diese sechs Geißeln waren: die Fürsten, der Adel, die Pfaffen, die Bürokratie, das stehende Heer, der Geldsack und die Wanzen. In welchem Geist Gustav den seligen Rotteck verarbeitete, kann man aus seiner ferneren Entdeckung absehn, daß der Geldsack eine Erfindung Louis-Philippes sei. Diese sechs Geißeln predigt Gustav in der "Deutschen Londoner Zeitung" des Exherzogs von Braunschweig, wofür er ziemlich honoriert wurde und dann auch die Zensur des Herrn Herzogs mit Dank hinnahm. Soviel zur Aufklärung über das Verhältnis Gustavs zur ersten Geißel, den Fürsten. Was sein Verhältnis zur zweiten, zum Adel angeht, so ließ unser sittlich religiöser Republikaner sich Visitenkarten stechen, worauf er als "Baron von Struve" figurierte. Wenn er mit den übrigen Geißeln nicht in ebenso freundschaftliche Beziehungen trat, so kann das seine Schuld nicht sein. Dann benutzte Gustav seine Muße in London zur Anfertigung eines republikanischen Kalenders, worin statt der Heiligen lauter Namen von Gesinnungsmännern und besonders häufig "Gustav" und "Amalie" prangen, die Monate erhielten deutsche, dem französisch-republikanischen Kalender nachgemachte Benennungen und was dergleichen gemeinnützige und gemeinplätzliche Sächelchen mehr sind. Im übrigen tauchten auch in London die beliebten fixen Ideen wieder auf: den "Deutschen Zuschauer" zu erneuern und den Klub des entschiedenen Fortschritts zu erneuern und eine provisorische Regierung zu bilden. In allen diesen Punkten fand er sich mit Schramm zusammen und so entstand das Rundschreiben.

Der Dritte im Bunde, der große Arnold Ruge leuchtet der ganzen Emigration voraus durch seine noch immer auf Zivilversorgung wartende Wachtmeistergestalt. Man kann nicht sagen, daß dieser Edle sich durch besonders angenehmes Äußere empfiehlt; Pariser Bekannte pflegten seine pommersch-slawischen Züge als Mardergesicht (figure de fouine) zu bezeichnen. <273> Arnold Ruge, rügischer Bauern Kind, und wegen demagogischer Umtriebe siebenjähriger Dulder in preußischen Kerkern, warf sich mit Ungestüm der Hegelschen Philosophie in die Arme, sobald er entdeckte, daß man nur die Hegelsche Enzyklopädie durchzublättern brauche, um des Studiums aller übrigen Wissenschaften enthoben zu sein. Er hatte daneben das Prinzip (das er auch in einer Novelle aufstellte und bei seinen Freunden zur Geltung zu bringen suchte -der unglückliche Herwegh weiß davon zu erzählen -), das Prinzip, sich auch in der Ehe zu verwerten und heiratete daher frühzeitig einen "substantiellen Boden" an.

Mit Hülfe seiner Hegelschen Phrasen und seines substantiellen Bodens brachte er es nur zum Portier der deutschen Philosophie, eine Eigenschaft, worin er bei den "Hallischen" und "Deutschen Jahrbüchern" die aufkommenden Größen anzumelden und auszuposaunen hatte und sie bei dieser Gelegenheit mit einem gewissen Geschick literarisch exploitierte. Leider brach sehr bald die Periode der philosophischen Anarchie herein, die Periode, wo die Wissenschaft keinen anerkannten König mehr hatte, wo Strauß, B. Bauer, Feuerbach gegeneinander zu Felde zogen, und wo die verschiedensten fremdartigen Elemente die Einfachheit der klassischen Doktrin zu trüben begannen. Jetzt wurde unser Ruge ratlos, er sah seinen Weg nicht mehr vor sich, seine ohnehin zusammenhangslosen Hegelschen Kategorien liefen bunt durcheinander, und er fühlte plötzlich gar große Sehnsucht nach ein er gewaltigen Bewegung, in der man es nicht mehr so genau mit dem Denken und Schreiben nähme.

In den "Hallischen Jahrbüchern" spielte Ruge dieselbe Rolle wie in der alten "Berliner Monatsschrift" der selige Buchhändler Nicolai. Wie dieser suchte er sein Hauptverdienst darin, die Arbeiten andrer zu drucken und sich daraus materiellen Vorteil und literarischen Stoff zu eignen Geistesergüssen zu holen. Nur, daß unser Ruge dies Umschreiben der Artikel seiner Mitarbeiter, diesen literarischen Verdauungsprozeß bis zu seinem unvermeidlichen Endresultat, viel höher zu potenzieren wußte als sein Urbild. Dazu war Ruge nicht der Portier der deutschen Aufklärung, er war der Nicolai der modernen deutschen Philosophie und konnte die naturwüchsige Plattheit seines Genies hinter dem dichten Dornenwald spekulativer Redewendungen verbergen. Wie Nicolai kämpfte er tapfer gegen die Romantik, eben weil Hegel sie in seiner "Ästhetik" kritisch und Heine in der "Romantischen Schule" literarisch längst beseitigt hatte. Im Unterschiede aber von Hegel traf er mit Nicolai darin zusammen, daß er als Antiromantiker das Recht zu haben glaubte, die ordinäre Philisterhaftigkeit, und vor allem seine eigne Philisterfigur, als vollendetes Ideal hinzustellen. Zu diesem Zweck, <274> und um den Feind auf seinem eigensten Terrain zu bekämpfen, machte Ruge auch Verse, deren von keinem Holländer erreichte sobre <nüchterne> Abgestandenheit den Romantikern trotzig als Fehdehandschuh ins Gesicht geschleudert wurde.

Im übrigen fühlte sich unser pommerscher Denker nicht recht behaglich in der Hegelschen Philosophie. War er auch stark im Wahrnehmen von Widersprüchen, so besaß er dafür ein um so größeres Unvermögen, sie aufzulösen, und empfand einen sehr erklärlichen Abscheu vor der Dialektik. So kam es, daß in seinem dogmatischen Gehirn die gröbsten Widersprüche friedlich unter einem Dach zusammen logierten und daß sein ohnehin äußerst schwerfälliges Begriffsvermögen sich nirgends behaglicher befand als in solch gemischter Gesellschaft. Es passierte ihm zuweilen, daß er gleichzeitig zwei Artikel verschiedener Schriftsteller in seiner Weise verdaute und zu einem neuen Produkt zusammenschmolz, ohne zu merken, daß beide von ganz entgegengesetzten Standpunkten aus geschrieben waren. Stets zwischen seinen Widersprüchen sich festreitend, half er sich damit, daß er den Theoretikern gegenüber sein mangelhaftes Denken als praktisch, den Praktikern dagegen seine praktische Unbeholfenheit und Inkonsequenz als höchste theoretische Errungenschaft behauptete und schließlich erklärte, gerade dies Verrennen in unerschütterlichen Widersprüchen, dieser unkritische chaotische Glaube an die Inbegriffe aller populären Tagesphrasen sei die "Gesinnung".

Ehe wir unsern Moritz von Sachsen, wie er sich in vertrauten Kreisen zu nennen pflegte, in seinen weiteren Schicksalen verfolgen, weisen wir noch auf zwei Eigenschaften hin, die schon bei den Jahrbüchern hervortraten. Die erste ist die Manifestwut. Sobald irgend jemand einen beliebigen neuen Standpunkt ausgeheckt hatte, dem Ruge eine gewisse Zukunft ansah, erließ er ein Manifest. Da ihm niemand vorwirft, daß er sich je eines Originalgedankens schuldig gemacht, war ein solches Manifest immer eine passende Gelegenheit, das ihm Neue in mehr oder minder deklamatorischer Weise als sein Eigentum zu vindizieren und daraufhin zugleich die Bildung einer Partei, einer Fraktion, einer "Masse" zu versuchen, die hinter ihm stehe und bei der er Wachtmeisterdienste tun könne. Wir werden später sehen, zu welcher unglaublichen Vollkommenheit Ruge diese Fabrikation von Manifesten, Proklamationen und Pronunziamientos gebracht hat. - Die zweite Eigenschaft ist die besondre Art des Fleißes, worin Arnold exzelliert. Da er es nicht liebt, viel zu studieren oder, wie er sagt, "aus einer Bibliothek in <275> die andre zu schreiben", zieht er vor, "aus dem frischen Loben zu schöpfen", d.h., sich mit strenger Gewissenhaftigkeit alle Einfälle, "Schnurren", neue Ideen und sonstige Mitteilungen jeden Abend zu notieren, die er im Laufe des Tags gehört, gelesen und aufgeschnappt hat. Diese Materialien werden dann je nach Gelegenheit wieder verwandt zu dem Pensum, das Ruge täglich mit derselben Gewissenhaftigkeit abmacht wie seine andern Leibesbedürfnisse. Seine Bewunderer pflegen daher von ihm zu sagen, er könne die Dinte nicht halten. Über welchen Gegenstand das tägliche schriftstellerische Erzeugnis handelt, ist total gleichgültig; die Hauptsache ist die, daß Ruge über das beliebige Thema jene wunderbare Stilsauce ausgießt, die für alles paßt, gerade wie die Engländer ihren Soyer's relish oder ihre Warwickshire sauce zu Fisch, Geflügel, Koteletts oder irgend etwas andrem mit gleichem Vergnügen genießen. Diesen täglichen stilistischen Durchfall nennt Ruge mit Vorliebe "die durchschlagend schöne Form" und sah darin hinreichenden Grund, sich für einen "Artisten " <"Künstler"> auszugeben.

So zufrieden Ruge auch mit seinem Posten als Schweizer der deutschen Philosophie war, nagte doch im stillen ein Wurm an seinem innersten Loben. Er hatte noch kein einziges dickes Buch geschrieben und beneidete täglich den glücklichen Bruno Bauer, der schon in seiner Jugend achtzehn schwere Bände veröffentlicht hatte. Um diesem Mißverhältnis abzuhelfen, ließ Ruge einen und denselben Aufsatz unter verschiedenen Titeln dreimal in einem und demselben Band abdrucken und gab dann diesen Band wiederum in verschiedensten Formaten heraus. Auf diese Weise entstanden die "Gesammelten Werke" Arnold Ruges, die der Verfasser, sauber gebunden, noch jetzt jeden Morgen in seiner Bibliothek Band für Band nachzählt und dann vergnügt ausruft: "Bruno Bauer hat doch keine Gesinnung!"

Wenn es Arnold nicht gelang, die Hegelsche Philosophie zu begreifen, so verwirklichte er dagegen an seinem eignen Leibe eine Hegelsche Kategorie. Er stellte "das ehrliche Bewußtsein" mit erstaunlicher Treue dar und wurde hierin mehr bestärkt, als er in der "Phänomenologie" - die ihm sonst ein Buch mit sieben Siegeln blieb - die angenehme Entdeckung machte, daß das ehrliche Bewußtsein "immer Freude an sich erlebt". Das ehrliche Bewußtsein verbirgt unter einer zudringlichen Biederkeit alle die kleinen falschen Nücken und Tücken des Philisters; es hat das Recht, sich jede Gemeinheit zu erlauben, weil es weiß, daß es aus Ehrlichkeit gemein ist; die Dummheit selbst wird ein Vorzug, weil sie ein schlagender Beweis der Gesinnungstüchtigkeit ist. Hinter jedem Hintergedanken trägt es die Über- <276> zeugung seiner inneren Redlichkeit, und je mehr es irgendeine Falschheit, eine mesquine <kleinliche> Schmutzerei vorhat, desto offenherziger und zutraulicher kann es auftreten. Alle die kleinen Schäbigkeiten des Bürgers verwandeln sich unter der Aureole der ehrlichen Absicht in ebenso viele Tugenden; der schmierige Eigennutz erscheint rein gewaschen in der Gestalt eines angeblich gebrachten Opfers; die Feigheit tritt auf als Mut im höheren Sinne, die Schuftigkeit wird Edelmut, und die groben, zudringlichen Bauernmanieren veredeln, verklären sich zu Symptomen von Bravheit und gutem Humor. Gosse, in der alle Widersprüche der Philosophie, der Demokratie und der Phrasenwirtschaft überhaupt wunderlich zusammenlaufen; übrigens ein Kerl, reichlich ausgestattet mit allen Lastern, Gemeinheiten und Kleinlichkeiten, mit der Hinterlist und der Dummheit, mit dem Geiz und der Unbeholfenheit, mit der Servilität und der Arroganz, mit der Falschheit und der Bonhommie des emanzipierten Leibeignen, des Bauern; Philister und Ideolog, Atheist und Phrasengläubiger, absoluter Ignorant und absoluter Philosoph in einer Person - das ist unser Arnold Ruge, wie Hegel ihn Anno 1806 vorher geweissagt hat.

Nach Unterdrückung der "Deutschen Jahrbücher" transportierte Ruge seine Familie auf einem eigens dazu erbauten Landwagen nach Paris. Sein böser Stern brachte ihn hier mit Heine in Berührung, der in ihm den Mann verehrte, welcher "den Hegel ins Pommersche übersetzt hat". Heine frug ihn, ob Prutz nicht ein Pseudonym von ihm sei, wogegen Ruge gewissenhaft protestierte, doch war Heine nicht von der Meinung abzubringen, daß unser Arnold der Verfasser der Prutzschen Gedichte sei. Übrigens entdeckte Heine sehr bald, daß, wenn Ruge auch kein Talent besitze, er doch die Charaktermaske mit Erfolg trage, und so kam es, daß Freund Arnold dem Dichter die Idee zu seinem "Atta Troll" eingab. Wenn Ruge seinen Aufenthalt in Paris durch kein großes Werk verewigte, gebührt ihm doch das Verdienst, daß Heine dies für ihn tat. Aus Dankbarkeit setzte ihm der Dichter die bekannte Grabschrift:

Atta Troll, Tendenzbär; sittlich
Religiös; als Gatte brünstig;
Durch Verführtsein von dem Zeitgeist
Waldursprünglich Sansculotte;

Sehr schlecht tanzend, doch Gesinnung
Tragend in der zott'gen Hochbrust;
Manchmal auch gestunken habend;
Kein Talent, doch ein Charakter!

<277> In Paris passierte es unserm Arnold, daß er sich mit den Kommunisten einließ, in den "Deutsch-Französischen Jahrbüchern" Artikel von Marx und Engels drucken ließ, die das grade Gegenteil von dem enthielten, was er selbst in der Vorrede ankündigte, ein Unfall, worauf ihn die Augsburger "Allg[emeine] Z[ei]t[un]g" aufmerksam machte, den er aber mit philosophischer Resignation ertrug.

Um einer angebornen gesellschaftlichen Unbehülflichkeit zu steuern, hat unser Ruge sich eine kleine Zahl wunderlicher Anekdoten zu beliebigem Wiedererzählen angelernt, die er Schnurren nennt. Langjährige Beschäftigung mit diesen Schnurren führte es mit sich, daß allmählich alle Begebenheiten, Zustände, Verhältnisse für ihn in lauter angenehme oder unangenehme, gute oder schlechte, wichtige oder unwichtige, interessante oder langweilige Schnurren sich verwandelten. Das Pariser Gewühl, die vielen neuen Eindrücke, der Sozialismus, die Politik, das Palais-Royal, die wohlfeilen Austern, alles das überwältigte den Unglücklichen nun so sehr, daß sein Kopf in ein permanentes unheilbares Schnurren geriet und Paris sich für ihn in ein unbegrenztes Schnurrenmagazin verwandelte. Er selbst kam dabei u.a. auf die Schnurre, aus Sägespänen Röcke für das Proletariat anfertigen zu wollen, wie er überhaupt ein Faible für industrielle Schnurren hat, zu denen er immer vergeblich die Aktionäre sucht.

Als die politisch bekannteren Deutschen aus Frankreich ausgewiesen wurden, rettete sich Ruge vor dem Verhängnis, indem er sich bei dem Minister Duchâtel als savant sérieux <ernsthafter Gelehrter> introduzieren ließ. Er dachte sicher dabei an den "Gelehrten" in Paul de Kocks "Amant de la lune", der sich durch eine originelle Manier, Pfropfen in die Luft zu schnellen, als savant konstatierte. Kurz darauf ging Arnold nach der Schweiz, wo er mit dem ehemaligen holländischen Unteroffizier, kölnischen Lokalschriftsteller und preußischen Untersteuereinnehmer Heinzen zusammentraf. Beide umschlang bald ein Band der innigsten Freundschaft. Heinzen lernte von Ruge Philosophie, Ruge von Heinzen Politik. Von dieser Zeit an entwickelt sich bei Ruge die Notwendigkeit, nur noch bei den roheren Elementen der deutschen Bewegung als Philosoph par excellence <reinsten Wassers> aufzutreten, ein Schicksal, das ihn immer tiefer führte, bis er schließlich nur noch bei lichtfreundlichen Pfarrern (Dulon), bei deutschkatholischen Pastoren (Ronge) und bei Fanny Lewald als Philosoph galt. Zu gleicher Zeit nahm aber die Anarchie in der deutschen Philosophie täglich zu. Stirners "Einziger", "Socialismus, Communismus" usw., lauter neue Eindringlinge, steigerten das Schnurren in Ruges Kopf <278> bis zur Unerträglichkeit; ein großer Sprung mußte gewagt werden. Da rettete sich Ruge hinter den Humanismus, jene Phrase, womit alle Konfusionaner in Deutschland von Reuchlin bis Herder ihre Verlegenheit bemäntelt haben. Diese Phrase schien um so zeitgemäßer, als eben erst Feuerbach "den Menschen neuentdeckt hatte", und Arnold klammerte sich mit solcher Verzweiflung an sie an, daß er sie bis auf die heutige Stunde nicht fahren läßt. Aber eine noch ungleich wichtigere Entdeckung macht Arnold in der Schweiz, nämlich die, daß "das Ich durch seine wiederholte Erscheinung vor dem Publikum sich als Charakter bewährt". Von jetzt an begann eine neue Wirksamkeit für Arnold. Die unverschämteste Auf- und Zudringlichkeit erhob er zum Prinzip. Bei allem mußte Ruge sich beteiligen, in alles seine Nase stecken. Kein Huhn durfte ein Ei legen, ohne daß Ruge "die Vernunft" dieses "Ereignisses redigierte". Unter allen Umständen mußte die Verbindung mit irgendeinem Winkelblättchen aufrechterhalten werden, wo die wiederholte Erscheinung vorsichgehn konnte. Keinen Zeitungsartikel schrieb er mehr, ohne seinen Namen zu unterzeichnen und womöglich von sich selbst darin zu sprechen. Das Prinzip der wiederholten Erscheinung mußte auf jeden Artikel ausgedehnt werden; er mußte zuerst in Briefform in europäische und (seit Heinzens Auswanderung nach New York) in amerikanische Blätter gebracht, sodann als Broschüre gedruckt, endlich in den gesammelten Werken abermals wiederholt werden.

So ausgerüstet, konnte unser Ruge nach Leipzig zurückkehren, um sich als Charakter definitiv anerkennen zu lassen. Aber hier war auch nicht alles Rose. Sein alter Freund, der Buchhändler Wigand, hatte ihn in der Rolle des Nicolai mit vielem Glück ersetzt, und da kein Posten vakant war, versank Ruge in ein trübes Nachdenken über die Vergänglichkeit aller Schnurren, als die deutsche Revolution ausbrach.

Hiermit war auch unserm Arnold plötzlich geholfen. Die gewaltige Bewegung, in der auch der Unbeholfenste leicht mit dem Strom fortschwimmt, war endlich eingetreten, und Ruge begab sich sofort nach Berlin, wo er im trüben zu fischen gedachte. Da soeben eine Revolution ausgebrochen war, hielt er es für das Zeitgemäßeste, mit einer Reform aufzutreten. Er gründete das Blättchen dieses Namens. Die Pariser vorrevolutionäre "Réforme" war das talentloseste, ungebildetste und langweiligste Blatt Frankreichs. Die Berliner "Reform" lieferte den Beweis, daß man ihr Pariser Vorbild noch übertreffen und ein so unglaubliches Journal dem deutschen Publikum, selbst in der "Metropole der Intelligenz", ungeniert bieten kann. Auf die Versicherung hin, daß gerade die rhetorische Unbeholfenheit Ruges beste Garantie für den tiefen Inhalt biete, der dahinter stecke, wurde Arnold für <279> Breslau in das Frankfurter Parlament gewählt. Hier fand er gleich Gelegenheit, als Redakteur der demokratischen Linken mit einem absurden Manifest aufzutreten. Im übrigen zeichnete er sich nur durch seine Schwärmerei für europäische Völkerkongreßmanifeste aus und schloß sich mit Eifer dem allgemeinen Wunsch an, daß Preußen in Deutschland aufgehe. Später, nach Berlin zurückgekehrt, verlangte er, Deutschland solle in Preußen und Frankfurt in Berlin aufgehen, und als ihm zuletzt einfiel, sächsischer Pair zu werden, mutete er Deutschland und Preußen zu, in Dresden aufzugehn.

Seine parlamentarische Tätigkeit trug ihm keine andern Lorbeeren ein, als daß seine eigne Partei an seiner täppischen Unfähigkeit verzweifelte. Zu gleicher Zeit aber ging seine "Reform" immer schlechter, ein Übelstand, dem er nur durch persönliche Anwesenheit in Berlin abhelfen zu können glaubte. Als "ehrliches Bewußtsein" fand er, versteht sich, auch einen hochpolitischen Vorwand zu diesem Austritt und mutete der ganzen Linken zu, mit ihm auszutreten. Dies geschah natürlich nicht, und Ruge ging allein nach Berlin. In Berlin entdeckte er, daß die modernen Kollisionen sich am besten lösen in der "Form Dessau", wie er den kleinen demokratisch-konstitutionellen Musterstaat taufte. Dann, während der Belagerung, entwarf er abermals ein Manifest, worin General Wrangel aufgefordert wird, zu Wiens Befreiung gegen Windischgrätz zu ziehn. Sanktion des demokratischen Kongresses für dies sonderliche Aktenstück erwarb er sich durch den Vorwand, es sei samt der Unterschrift schon gesetzt und gedruckt. Endlich, als Berlin selbst in Belagerungszustand geriet, ging Herr Ruge zu Manteuffel und machte ihm Anträge wegen der "Reform", die jedoch abgewiesen wurden. Manteuffel eröffnete ihm, er wünsche sich lauter solche Oppositionsblätter wie die "Reform", die "Neue Preußische Zeitung" sei viel gefährlicher - Äußerung, die der naive Ruge sich beeilte, mit siegreichem Stolz in ganz Deutschland zu kolportieren. Arnold begeisterte sich zugleich für den passiven Widerstand, den er selbst betätigte, indem er Blatt, Redakteure und alles im Stich ließ und eilig davonlief. Die aktive Flucht ist offenbar die entschiedenste Form des passiven Widerstandes. Die Kontrerevolution war eingetreten, und vor ihr lief Ruge ohne Unterbrechung von Berlin bis London.

Während des Dresdner Maiaufstandes stellte sich Arnold nebst seinem Freunde Otto Wigand und dem Stadtrat an die Spitze der Bewegung in Leipzig. Er erließ mit diesen Genossen ein kräftiges Manifest an die Dresdner, sie möchten sich nur tapfer schlagen, in Leipzig säßen Ruge, Wigand und die Väter der Stadt und wachten, und wer sich selbst nicht verlasse, <280> den verlasse auch der Himmel nicht. Kaum aber war dies Manifest veröffentlicht, als unser tapfrer Arnold sich schleunigst auf die Beine nach Karlsruhe machte.

In Karlsruhe fühlte er sich unsicher, obgleich die Badenser am Neckar standen und die Feindseligkeiten noch lange nicht begonnen hatten. Er forderte Brentano auf, ihn als Gesandten nach Paris zu schicken. Brentano machte sich den Witz, ihm diesen Posten auf 12 Stunden zu geben und lehnte am andern Morgen die Bestallung wieder ab, als Ruge eben abreisen wollte. Ruge zog nichtsdestoweniger mit den wirklich ernannten Repräsentanten der Brentanoschen Regierung, Schütz und Blind, nach Paris und gerierte sich so wunderlich, daß sein eigner ehemaliger Redakteur Oppenheim in der amtlichen "Karlsruher Zeitung" erklärte, Herr Ruge sei keineswegs in irgendeiner offiziellen Kapazität nach Paris gewandert, sondern ganz "auf eigne Faust". Von Schütz und Blind einmal zu Ledru-Rollin mitgenommen, unterbrach Ruge die diplomatischen Verhandlungen plötzlich, indem er vor dem Franzosen erschrecklich auf die Deutschen zu schimpfen begann, so daß seinen Gefährten nichts übrigblieb, als sich bestürzt und kompromittiert zurückzuziehn. Der 13. Juni kam und schlug unserm Arnold so gewaltig in die Beine, daß er sie ohne allen Grund unter die Arme nahm und erst in London, auf freiem britischen Boden, wieder Atem schöpfte. Im Hinblick auf diese Flucht verglich er sich später mit Demosthenes.

In London machte Ruge zunächst den Versuch, sich als badischen provisorischen Gesandten ankündigen zu lassen. Dann versuchte er, sich bei der englischen Presse als großen deutschen Denker und Schriftsteller vorzuführen, wurde aber überall mit der Äußerung abgewiesen, die Engländer seien zu materiell, um die deutsche Philosophie zu begreifen. Auch frug man ihn nach seinen Werken, worauf Ruge nur mit einem Seufzer antworten konnte, während ihm zugleich Bruno Bauer wieder lebhaft vor die Seele trat. Denn selbst seine "gesammelten Werke", was waren sie andres als vielfach abgedruckte Broschüren? und nicht einmal Broschüren, sondern broschierte Journalartikel, und im Grunde auch nicht einmal Journalartikel, sondern verwickelte Lesefrüchte? Hier mußte wieder etwas geschehen, und Ruge schrieb zwei Artikel in den "Leader" worin er unter dem Vorwande einer Schilderung der deutschen Demokratie erklärte, in Deutschland sei jetzt der "Humanismus" an der Tagesordnung, vertreten durch Ludwig Feuerbach und Arnold Ruge, den Verfasser folgender Werke: 1. "Die Religion unsrer Zeit", 2. "Die Demokratie und der Sozialismus", 3. "Die Philosophie und die Re- <281> volution". Diese drei epochemachenden Werke, die bis jetzt in keiner Buchhandlung zu haben sind, sind, wie sich versteht, weiter nichts als noch ungedruckte neue Titel zu beliebigen alten Aufsätzen Ruges. Gleichzeitig begann Arnold seine täglichen Pensa wieder, indem er zu seiner eignen Belehrung, zum Nutzen des deutschen Publikums und zum großen Entsetzen des Herrn Brüggemann Artikel ins Deutsche zurückübersetzte, die aus der "Kölnischen Zeitung" in den "Morning Advertiser" geraten waren. Nicht grade mit Lorbeer bedeckt zog er sich nach Ostende zurück, wo er die gehörige Muße fand, sich zu der Rolle des weltweisen Konfusius <Wortspiel mit Konfuzius> der deutschen Emigration vorzubereiten.

Wie Gustav das Gemüse, wie Gottfried das Gemüt, so vertritt Arnold den Verstand oder vielmehr Unverstand des deutschen kleinbürgerlichen Philisteriums. Er eröffnet nicht, wie Arnold Winkelried, der Freiheit eine Gasse, er ist in eigner Person "der Freiheit eine Gosse"; Ruge steht da in der deutschen Revolution wie das Plakat an den Ecken gewisser Straßen: Hier ist es erlaubt, sein Wasser abzuschlagen.

Wir kommen endlich wieder zu unserm Rund- und Begleitschreiben zurück. Es fiel platt auf den Boden, und aus dem ersten Versuch zur demokratischen Gesamtkirche wurde nichts. Schramm und Gustav erklärten später, daran sei bloß der Umstand schuld, daß Ruge weder französisch sprechen, noch deutsch schreiben könne. Dann aber setzten sich die großen Männer aufs neue in Tätigkeit,

Chè ciascun oltra moda era possente,
Come udirete nel canto seguente.
<Denn mächtig ohne Maßen war ein jeder,
wie ihr im folgenden Gesang sollt hören.
Bojardo, "L'Orlando innamorato", canto 17>