Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 292-298

VIII. | Inhalt | X.

IX

<292> Dem großen demokratischen Emigrationsdrama von 1849/52 war schon vor achtzehn Jahren ein Vorspiel vorausgegangen: die demagogische Emigration von 1830/31. Hatte auch die Länge der Zeit hingereicht, diese erste Emigration größtenteils vom Schauplatz zu verdrängen, so blieben doch immer einige würdige Überreste, die mit stoischer Unbekümmertheit um den Weltlauf wie um den Erfolg ihr agitatorisches Handwerk fortsetzten, weltumfassende Pläne entwarfen, provisorische Regierungen bildeten und rechts und links Proklamationen in die Welt schleuderten. Es ist klar, daß diese alterfahrnen Schwindler an Geschäftskenntnis dem jüngeren Nachwuchs unendlich überlegen sein mußten. Eben diese Geschäftskenntnis, erworben durch achtzehnjährige Praxis im Konspirieren, Kombinieren, Intrigieren, Proklamieren, Düpieren und Produzieren und Sichvordrängen, verlieh Herrn Mazzini die Dreistigkeit und Sicherheit, mit der er, drei in dergleichen Dingen weniger bewanderte Strohmänner hinter sich, als Zentralkomitee der Europäischen Demokratie sich installieren konnte.

Niemand wurde durch die Verhältnisse in eine günstigere Lage gestellt, um sich zum Typus des Emigrationsagitators zu entwickeln, als unser Freund Harro Harring. Und in der Tat ist er das Urbild geworden, dem alle unsre großen Männer des Exils, alle die Arnolde, die Gustave, die Gottfriede, mit mehr oder weniger Bewußtsein und mit größerem oder geringerem Glück nacheifern und das sie, wenn keine ungünstigen Umstände dazwischenkommen, vielleicht erreichen, schwerlich aber übertreffen werden.

Harro, der wie Cäsar seine Großtaten selbst beschrieben hat (London 1852), ist "auf der cimbrischen Halbinsel <alte Bezeichnung für Jütland> geboren und gehört jener hellsehenden nordfriesischen Rasse an, die schon durch den Dr. Clement hat beweisen lassen, daß alle großen Nationen der Welt von ihr abstammen.

<293> "Schon in früher Jugend" suchte er seine "Begeisterung für die Sache der Völker durch die Tat zu bewähren", indem er 1821 nach Griechenland ging. Man sieht, wie Freund Harro bereits früh den Beruf in sich ahnte, überall dabei zu sein, wo es irgendeine Konfusion gab. Später war er

"durch ein seltsames Verhängnis an die Quelle des Absolutismus, in die Nähe des Zaren, geführt worden und hatte die konstitutionelle Monarchie in ihrem Jesuitismus durchschaut, in Polen".

Also auch in Polen kämpfte Harro für die Freiheit. Aber "die Krisis in der Geschichte Europas nach Warschaus Fall führte ihn zum tiefen Nachdenken", und dies Nachdenken führte ihn auf die Idee "der Demokratie der Nationalität", die er sofort "in der Schrift dokumentierte: 'Die Völker', Straßburg im März 1832". Von dieser Schrift ist zu erwähnen, daß sie auf dem Hambacher Fest beinahe zitiert worden wäre. Zu gleicher Zeit gab er seine "republikanischen Gedichte: 'Blutstropfen'; 'Die Geschichte vom König Saul oder die Monarchie'; 'Männerstimme zu Deutschlands Einheit"', heraus und redigierte die Zeitschrift "Deutschland" in Straßburg. Diese sämtlichen und sogar seine zukünftigen Schriften hatten am 4. Novbr. 1831 das unverhoffte Glück, vom Bundestag verboten zu werden. Das allein hatte dem braven Streiter noch gefehlt, jetzt erst erhielt er die verdiente Bedeutung und zugleich die Märtyrerweihe. So konnte er ausrufen:

"Meine Schriften fanden starke Verbreitung und lauten Anklang im Herzen des Volks. Sie wurden meistens gratis ausgeteilt. Von einigen habe ich die Druckkosten nie ersetzt bekommen."

Aber neue Ehren standen ihm bevor. Schon im November 1831 hatte Herr Welcker vergebens versucht, ihn durch einen langen Brief "zum senkrechten Horizont des Konstitutionalismus zu bekehren". Jetzt kam Herr Malten, bekannter preußischer Agent im Auslande, im Januar 1832 zu ihm und trug ihm an, in preußische Dienste zu treten. Welche doppelte Anerkennung selbst von seiten des Gegners! Genug, durch Maltens Antrag erwachte in ihm

"unwillkürlich der Gedanke, gegenüber dieser dynastischen Verräterei die Idee der skandinavischen Nationalität ins Leben zu rufen", und "von jener Zeit trat wenigstens das Wort Skandinavia wieder ins Leben, das seit Jahrhunderten verschollen schien".

Auf diese Weise kam denn unser Nordfriese aus Söderjylland <Südjütland>, der selbst nicht wußte, ob er ein Deutscher oder ein Däne war, wenigstens zu einer <294> phantastischen Nationalität, deren erstes Resultat war, daß die Hambacher nichts mit ihm zu tun haben wollten.

Nach diesen Ereignissen war Harro ein gemachter Mann. Veteran der Freiheit von Griechenland und Polen her, Erfinder der "Demokratie der Nationalität", Wiederentdecker "des Wortes Skandinavia", durch Bundestagsverbot anerkannter Dichter, Denker und Journalist, Märtyrer und selbst vom Feinde geschätzter großer Mann, um dessen Besitz sich Konstitutionelle, Absolutisten und Republikaner rissen, dazu hohlköpfig und konfus genug, um an seine eigne Größe zu glauben - was fehlte noch zu seinem Glück? Aber mit seinem Ruhm stiegen auch die Forderungen, die Harro als strenger Mann an sich selbst stellte. Es fehlte an einem großen Werk, welches in unterhaltender und populärer Form die großen Lehren der Freiheit, die Idee der Demokratie, der Nationalität, die ganzen erhabenen Freiheitsbestrebungen des vor ihm aufdämmernden jungen Europas künstlerisch zusammenfaßte. Nur ein Dichter und Denker ersten Ranges konnte ein solches Werk liefern, und nur Harro konnte dieser Mann sein. So entstanden die ersten drei Stücke des "dramatischen Zyklus: 'Das Volk', in allem zwölf Stücke, wovon eins in dänischer Sprache", eine Arbeit, der der Verfasser zehn Jahre seines Lebens widmete. Leider sind von diesen zwölf Stücken elf "bis jetzt Manuskript".

Doch nicht lange dauerte der süße Verkehr mit den Musen.

"Im Winter 1832-1833 wurde eine Bewegung in Deutschland vorbereitet - die am tragischen Frankfurter Krawall abblitzte. Es war mir übertragen, in der Nacht vom 6. zum 7. April die Festung (?) Kehl zu nehmen. Männer und Waffen waren bereit."

Leider wurde aus der Geschichte nichts, und Harro mußte ins Innere von Frankreich, wo er seine "Worte eines Menschen" schrieb. Von dort riefen ihn die sich zum Savoyerzuge rüstenden Polen nach der Schweiz, wo er "Verbündeter ihres Etat-Majors" wurde, abermals zwei Stücke des dramatischen Zyklus "Das Volk" schrieb, Mazzini in Genf kennenlernte. Die ganze Schwefelbande von polnischen, französischen, deutschen, italienischen und schweizerischen Abenteurern unter dem Kommando des edlen Ramorino machte dann den bekannten Einfall nach Savoyen. In diesem Feldzuge fühlte unser Harro "den Wert seines Lebens und seiner Tatkraft". Da aber die übrigen Freiheitskämpfer "den Wert ihres Lebens" ebensogut fühlten wie Harro und sich über ihre "Tatkraft" auch wohl sehr wenig Illusionen machten, nahm die Sache ein schlimmes Ende, und man kam zerschlagen, zerrissen und zersprengt nach der Schweiz zurück.

Dieser Feldzug allein hatte noch gefehlt, um der emigrierten Ritterschar das volle Bewußtsein ihrer Fürchterlichkeit gegenüber den Tyrannen zu <295> geben. Solange die Nachwirkungen der Julirevolution noch in einzelnen Insurrektionen in Frankreich, Deutschland oder Italien ausbrachen, solange noch irgend jemand hinter ihnen stand, fühlten sich unsre emigrierten Helden nur als Atome in der bewegten Masse - zwar mehr oder weniger bevorzugte, leitende Atome, aber am Ende doch nur Atome. In dem Maße aber, als diese Insurrektionen an Kraft abnahmen, als die große Masse der "Memmen", der "Lauen", der "Kleingläubigen" sich von der Putschschwindelei zurückzog, als unsre Ritter sich einsam fühlten, in dem Maße stieg auch ihr Selbstgefühl. Wenn ganz Europa feig, dumm und selbstsüchtig wurde, wie mußten da jene Treuen in ihrer eignen Achtung steigen, die das heilige Feuer des Tyrannenhasses priesterlich in ihrer Brust nährten und die Traditionen einer großen Zeit der Tugend und Freiheitsliebe für ein kräftigeres Geschlecht aufbewahrten! Wurden auch sie untreu, so waren ja die Tyrannen auf ewig geborgen. So schöpften sie, ganz wie die Demokraten von 1848, aus jeder Niederlage neue Siegesgewißheit und verwandelten sich dabei mehr und mehr in fahrende Don Quijote mit zweideutigen Erwerbsquellen. Auf diesem Standpunkt angekommen, konnten sie ihre größte Großtat unternehmen, nämlich die Stiftung des "Jungen Europa", dessen Verbrüderungsakte, von Mazzini redigiert, am 15 April 1834 zu Bern unterzeichnet wurde. Harro trat ein als

"Initiator des Zentralkomitees, Adoptivmitglied des Jungen Deutschlands und des Jungen Italiens und zugleich als Vertreter der skandinavischen Branche", die er "noch heute vertritt".

Dieses Datum der Verbrüderungsakte bildet für unsern Harro die große Ära, von welcher rückwärts und vorwärts gerechnet wird wie bisher von Christi Geburt. Es bezeichnet den Kulminationspunkt seines Lebens. Er war Kodiktator von Europa in partibus, und obwohl der Welt unbekannt, doch einer der gefährlichsten Männer der Welt. Niemand stand hinter ihm als seine zahlreichen ungedruckten Werke, einige deutsche Handwerker in der Schweiz und ein Dutzend verbummelter politischer Industrieritter - aber gerade deswegen konnte er ja sagen, daß alle Völker mit ihm seien. Das ist gerade das Wesen aller großen Männer, daß die Gegenwart sie verkennt und daß die Zukunft ihnen eben deswegen gehört. Und diese Zukunft - unser Harro trug sie in der Verbrüderungsakte schwarz auf weiß in seinem Ranzen nach.

Jetzt aber begann Harros Verfall. Sein erster Kummer war, daß "das Junge Deutschland sich vom Jungen Europa 1836 trennte". Aber Deutschland ist dafür gezüchtigt worden. Infolge dieser Trennung nämlich "war im Frühjahr 1848 in Deutschland in bezug auf eine Nationalbewegung nichts vorbereitet", und daher nahm alles ein so klägliches Ende.

<296> Ein viel schwererer Schmerz aber erwuchs unserm Harro aus dem jetzt erstehenden Kommunismus. Hier erfahren wir, daß der Erfinder des Kommunismus niemand anders war, als

"der Zyniker Johannes Müller aus Berlin, Verfasser einer sehr interessanten Broschüre über Preußens Politik, Altenburg 1831", der nach England ging, wo ihm "nichts andres übrigblieb, als auf Smithfield Market in aller Früh des Morgens die Schweine zu hüten".

Der Kommunismus fing bald an, unter den deutschen Handwerkern in Frankreich und der Schweiz zu grassieren, und wurde für unsern Harro ein sehr gefährlicher Feind, da hiermit die einzige Absatzquelle für seine Schriften verstopft wurde. Dies ist "die indirekte Zensur der Kommunisten", unter der der arme Harro noch heute und jetzt gerade mehr als je zu leiden hat, wie er wehmütig eingesteht und "wie das Schicksal seines Dramas: 'Die Dynastie' beweisen möge".

Es gelang dieser indirekten Zensur der Kommunisten sogar, unsern Harro aus Europa zu vertreiben, und so ging er nach Rio de Janeiro (1840), wo er als Maler eine Zeitlang lebte. "Gewissenhaft überall seine Zeit verfolgend" ließ er hier ein Werk drucken:

"'Poesie eines Scandinaven' (2.000 Exempl.), die seitdem durch Verbreitung unter Seefahrern gleichsam die Lektüre des Ozeans geworden."

Aber "aus skrupulösem Pflichtgefühl gegen das Junge Europa" kehrt er leider bald nach Europa zurück,

"eilte zu Mazzini nach London und durchschaute gar bald die Gefahr, die die Völkersache Europas im Kommunismus bedrohe".

Neue Taten harrten seiner. Die Bandieras bereiteten ihre Expedition nach Italien vor. Um diese zu unterstützen und den Despotismus in eine Diversion zu verwickeln, ging Harro

"nach Südamerika zurück, mit Garibaldi in Verbindung die Idee der Zukunft der Völker zur Begründung der Vereinigten Staaten Südamerikas nach Kräften zu fördern".

Aber die Despoten hatten seine Sendung im voraus geahnt, und Harro machte sich aus dem Staube. Er segelte nach New York.

"Auf dem Ozean war ich geistig sehr tätig und schrieb unter anderem das Drama: 'Die Macht der Idee', zum Dramenzyklus: 'Das Volk' gehörend - ebenfalls bis jetzt Manuskript!"

Nach New York brachte er aus Südamerika ein Mandat einer dortigen angeblichen Verbindung der "Humanidad" <"Menschheit"> mit.

<297> Die Nachricht von der Februarrevolution begeisterte ihn zu einer französischen Schrift: "La France réveillée" <"Das erwachte Frankreich">, und während der Einschiffung nach Europa

"dokumentierte ich meine Vaterlandsliebe abermals in einigen Gedichten 'Skandinavia'".

Er kam nach Schleswig-Holstein. Hier fand er

"nach 27jähriger Abwesenheit eine beispiellose Verwirrung der Begriffe über Völkerrechte, Demokratie, Republik, Sozialismus und Kommunismus, die wie faules Heu und Stroh im Augiasstalle der Parteiwut und des Nationalhasses dalagen".

Kein Wunder, denn seine

"politischen Schriften wie sein ganzes Streben und Wirken seit 1831 waren in jenen Grenzprovinzen meiner Heimat fremd und unbekannt geblieben".

Die Augustenburger Partei hatte ihn seit achtzehn Jahren unter einer conspiration du silence <Verschwörung des Schweigens> erdrückt. Um diesem Übelstande abzuhelfen, hing er sich einen Säbel, eine Büchse, vier Pistolen und sechs Dolche um, forderte so zur Bildung eines Freikorps auf, aber vergeblich. Nach verschiedenen Abenteuern schlug er endlich in Hull ans Land. Hier beeilte er sich, zwei Sendschreiben an die Schleswig-Holsteiner und an die Skandinaven und die Deutschen zu erlassen und schickte, wie es heißt, an zwei Kommunisten in London eine Botschaft des Inhalts:

"Fünfzehntausend Arbeiter in Norwegen reichen euch durch mich die Bruderhand."

Trotz dieses sonderbaren Appells wurde er bald wieder, kraft der Verbrüderungsakte, stiller Associé des Europäischen Zentralkomitees und

"Nachtwächter und Lohnbedienter zu Gravesend an der Themse, wo ich für eine junge Maklerfirma in neun verschiedenen Sprachen Schiffskapitäne fangen sollte, bis man mir Betrug zumutete, was dem Philosophen Johannes Müller als Schweinehirt wenigstens nicht passierte".

Sein tatenreiches Leben faßt Harro in folgendem Resümee zusammen:

"Es ließe sich leicht berechnen, daß ich außer meinen Gedichten über 18.000 Exemplare meiner Schriften in deutscher Sprache (von 10 Sch[illing] bis 3 Mark H[am]b[urge]r Kur[ant] Verkaufspreis, mithin circa 25.000 Mark Bücherwert) der demokratischen Bewegung hingegeben, deren Druckkosten ich niemals ersetzt bekommen, geschweige einen Ertrag zu meiner Existenz davon bezogen habe."

<298> Hiermit beschließen wir die Abenteuer unsres demagogischen Hidalgo aus der söderjylländischen Mancha. In Griechenland wie in Brasilien, an der Weichsel wie am La Plata, in Schleswig-Holstein wie in New York, in London wie in der Schweiz: Vertreter bald des Jungen Europa, bald der südamerikanischen "Humanidad", bald Maler, bald Nachtwächter und Lohnbedienter, bald Hausierer mit eignen Schriften; heute unter Wasserpolacken, morgen unter Gauchos, übermorgen unter Schiffskapitänen; verkannt, verlassen, ignoriert, überall aber irrender Ritter der Freiheit, der eine gründliche Verachtung gegen den gemeinen bürgerlichen Erwerb hat - bleibt sich unser Held zu allen Zeiten, in allen Ländern und unter allen Umständen gleich an Konfusion, an zu prätentiöser Zudringlichkeit, an Glauben an sich selbst und wird aller Welt zum Trotz von sich sagen, schreiben und drucken, daß er seit 1831 das Haupttriebrad der Weltgeschichte war.