Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 336-341

Karl Marx

Die Wahlen in England -
Tories und Whigs

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3540 vom 21. August 1852]

<336> London, Freitag, 6. August 1852

Das Resultat der allgemeinen Wahlen für das britische Parlament ist jetzt bekannt. Dieses Resultat werde ich in meinem nächsten Briefe ausführlicher analysieren.

Welches waren nun die Parteien, die sich während der Wahlkampagne bekämpften oder unterstützten?

Tories, Whigs, Liberal-Konservative (Peeliten), Freihändler par excellence <reinsten Wassers> (die Leute der Manchesterschule, die Parlaments- und Finanzreformer) und schließlich die Chartisten.

Whigs, Freihändler und Peeliten bildeten eine Koalition, um die Tories zu bekämpfen. Zwischen dieser Koalition einerseits und den Tories andrerseits spielte sich der eigentliche Wahlkampf ab. Und in der Opposition gegen Whigs, Peeliten, Freihändler und Tories, also im Kampfe mit dem ganzen offiziellen England, standen die Chartisten.

Die politischen Parteien Englands sind in den Vereinigten Staaten zur Genüge bekannt. Ich kann mich daher auf ein paar Federstriche beschränken, um ihre charakteristischen Merkmale ins Gedächtnis des Lesers zurückzurufen.

Die Tories galten bis 1846 als die Hüter der Traditionen Old Englands. Man hatte sie im Verdacht, in der englischen Verfassung das achte Weltwunder zu sehen, laudatores temporis acti <Lobredner vergangner Zeiten> und begeisterte Anhänger des Throns, der Hochkirche, der Privilegien und Rechte des britischen Untertans zu sein. Das verhängnisvolle Jahr 1846, das die Abschaffung der Kornzölle brachte, bewies, daß die Begeisterung der Tories, denen diese <337> Abschaffung ein wahres Jammergeheul abpreßte, eben nur der Grundrente galt; und gleichzeitig enthüllte sich das Geheimnis ihrer ganzen Liebe für die politischen und religiösen Einrichtungen Old Englands. Sind doch diese Einrichtungen die allergeeignetsten, mit deren Hilfe der Großgrundbesitz bis jetzt England beherrscht hat und selbst heute noch seine Herrschaft zu behaupten sucht. Das Jahr 1846 enthüllte in ihrer ganzen Nacktheit die materiellen Klasseninteressen, die die reale Basis der Torypartei bilden. Das Jahr 1846 riß das Löwenfell herunter, das nur die Tradition zu einem ehrwürdigen gemacht hatte und hinter dem sich die Klasseninteressen der Tories so lange verborgen gehalten. Das Jahr 1846 verwandelte die Tories in Protektionisten. Tory, das war ihr geweihter Name, Protektionist ihr profaner; Tory, das war ihr politischer Kampfruf, Protektionist, ihr ökonomischer Notschrei; hinter dem Tory schien eine Idee, ein Prinzip zu stehen, hinter dem Protektionisten aber steht ein Interesse. Und was protegieren diese Protektionisten? Ihre eigenen Revenuen, die Rente aus ihrem eigenen Grundbesitz. So sind denn die Tories im Grunde Bourgeois genau wie alle übrigen; denn wo wäre der Bourgeois, der nicht die Protektion seines eigenen Geldbeutels zum Prinzip erhebt? Sie unterscheiden sich von den andern Bourgeois so wie sich die Grundrente vom kommerziellen oder industriellen Profit unterscheidet. Die Grundrente ist ihrem Wesen nach konservativ, der Profit Ausdruck des Fortschritts; die Grundrente ist dem Wesen nach national, der Profit kosmopolitisch; die Grundrente glaubt an die Staatskirche, der Profit ist Dissenter von Geburt. Durch die Abschaffung der Korngesetze im Jahre 1846 wurde lediglich eine längst vollzogene Tatsache, eine in den Elementen der englischen Gesellschaft längst bewirkte Veränderung anerkannt - nämlich die Unterordnung der Interessen des Grundeigentums unter die Interessen des Geldes, des Grundeigentums unter den Handel, der Landwirtschaft unter die Industrie, des platten Landes unter die Stadt. Kann man an dieser Tatsache noch zweifeln, wo doch in England die Landbevölkerung zur Stadtbevölkerung im Verhältnis von eins zu drei steht? Die materielle Grundlage der Macht der Tories war die Grundrente. Die Grundrente wird reguliert durch die Preise für Nahrungsmittel. Die Preise für Nahrungsmittel aber wurden durch die Kornzölle künstlich in der Höhe gehalten. Durch die Abschaffung der Kornzölle wurden die Preise für Nahrungsmittel zum Sinken gebracht, dadurch wiederum die Grundrente herabgedrückt, und mit der fallenden Grundrente brach die reale Grundlage zusammen, auf der die politische Macht der Tories beruhte.

Was also führen die Tories jetzt im Schilde? Sie wollen eine politische Macht aufrechterhalten, deren gesellschaftliche Grundlage zu existieren auf- <338> gehört hat. Und wie können sie das erreichen? Durch nichts Geringeres als eine Konterrevolution, d.h. durch eine Reaktion seitens des Staates gegen die Gesellschaft. Mit Gewalt wollen sie jene Einrichtungen und jene politische Macht erhalten, die dem Untergang geweiht waren von dem Augenblick an, als die städtische Bevölkerung die ländliche um das Dreifache überragte. Ein solches Unterfangen aber muß notwendig mit ihrem eignen Untergang enden; es muß die soziale Entwicklung Englands beschleunigen und sie zuspitzen, es muß eine Krise herbeiführen.

Die Tories rekrutieren ihre Gefolgschaft aus den Reihen der Pächter - sei es, weil diese noch nicht die Gewohnheit abgelegt haben, in ihren Grundherrn ihre natürlichen Oberherren zu sehen, oder von ihnen ökonomisch abhängig sind, oder noch nicht einsehen gelernt haben, daß die Interessen des Pächters und des Grundbesitzers nicht mehr gemein haben als die Interessen des Schuldners und des Wucherers. Anhänger und Stützen der Tories sind ferner die Gruppen, deren Interessen sich konzentrieren in den Kolonien, in der Schiffahrt, in der Staatskirche, kurz, alle jene Elemente, die es für notwendig halten, ihre Interessen zu schützen gegen die unvermeidlichen Resultate der modernen industriellen Warenproduktion und gegen die soziale Revolution, die sie vorbereitet.

Als alte Erbfeinde stehen den Tories die Whigs gegenüber, eine Partei, die mit den amerikanischen Whigs nichts gemein hat als den Namen.

Die britischen Whigs bilden in der Naturgeschichte der Politik eine besondere Art, die gleich allen Amphibien leicht entstehen und leben, aber schwer zu beschreiben sind. Sollen wir sie Tories außer Amt nennen, wie es ihre Gegner machen? oder sollen wir, wie es bestimmte Schriftsteller auf dem Kontinent so gerne tun, in ihnen die Repräsentanten gewisser populärer Prinzipien sehen? Wir kämen im letzteren Falle in Verlegenheit wie der Historiker der Whigs, Mr. Cooke, der in seiner "History of Parties" mit großer Naivität gesteht, daß die Partei der Whigs sich wohl auf eine Anzahl "liberaler, moralischer und aufgeklärter Grundsätze" gründet, daß es ihr aber seit den mehr als 150 Jahren ihres Bestehens, immer wenn sie an der Macht war, bedauerlicherweise unmöglich gemacht wurde, ihre Prinzipien durchzusetzen. Also vertreten die Whigs, wie es ihr eigener Geschichtsschreiber gesteht, in Wirklichkeit etwas ganz anderes als ihre angeblichen "liberalen und aufgeklärten Grundsätze". Sie sind also in derselben Lage wie jener Trunkenbold, der dem Lord-Mayor <Oberbürgermeister> vorgeführt wurde und dabei angab, daß er zwar die Prinzipien der Temperenz vertrete, sich aber sonntags, infolge irgendeines Zufalls, stets betrinke.

<339> Aber lassen wir jetzt ihre Grundsätze! Die Tatsachen der Geschichte, das, was sie wirklich tun, lassen uns eher dahinterkommen, wer die Whigs sind, wie das, wofür sie sich einst hielten und was sie heute noch der Welt über ihr Wesen weismachen wollen.

Wie die Tories bilden auch die Whigs einen Teil der Großgrundbesitzer Englands. Mehr noch: die ältesten, reichsten und arrogantesten Familien unter den Grundherrn Englands sind sogar der eigentliche Kern der Whigpartei.

Was unterscheidet sie nun von den Tories? Die Whigs sind die aristokratischen Vertreter der Bourgeoisie, der industriellen und kommerziellen Mittelklasse. Unter der Bedingung, daß die Bourgeoisie ihnen, also einer Oligarchie aristokratischer Familien, das Regierungsmonopol und alle Ämter überläßt, machen sie ihr alle jene Konzessionen - aber auch nicht mehr und nicht weniger -, die sich im Laufe der sozialen und politischen Entwicklung als unvermeidlich und unaufschiebbar erwiesen haben, und helfen der Bourgeoisie, diese Konzessionen durchzusetzen. Und sooft solch ein unvermeidliches Gesetz angenommen wird, verkünden sie laut, daß hiermit das Ende allen historischen Fortschritts erreicht sei, daß die ganze soziale Bewegung ihr höchstes Ziel durchgesetzt habe, und dann "klammern sie sich fest an diesem unverrückbaren Abschluß". Sie können leichter als die Tories eine Verminderung ihrer Revenuen aus der Grundrente ertragen, weil sie sich als die von Gott eingesetzten Pächter jener Revenuen betrachten, die das Kolonialreich, die das Imperium abwirft. Sie können auf das Monopol verzichten, das die Korngesetze ihnen gaben, solange sie das Regierungsmonopol als ihr Familieneigentum behaupten. Seit der "glorreichen Revolution" von 1688 sind die Whigs im Genuß der öffentlichen Ämter verblieben, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, die hauptsächlich durch die erste französische Revolution und die durch sie ausgelöste Reaktion verursacht worden waren. Wer sich dieser Zeitspanne in der Geschichte Englands erinnert, wird finden, daß der Whiggismus sich damals nur dadurch auszeichnete, daß er seine Familienoligarchie aufrechterhielt. Andere Interessen und Prinzipien, die die Whigs jeweils außerdem vertreten, sind nicht ihre eigentlichen Interessen, sondern werden ihnen durch die Entwicklung der industriellen und kommerziellen Klasse, der Bourgeoisie, aufgezwungen. Nach 1688 finden wir sie vereint mit den Finanzmagnaten, die zu jener Zeit Bedeutung erlangten, genau wie wir sie 1846 vereint finden mit den Fabrikmagnaten. Die Whigs setzten ebensowenig die Reformbill von 1831 wie die Freihandelsbill von 1846 durch. Beide Reformbewegungen, die politische wie auch die kommerzielle, waren Bewegun- <340> gen der Bourgeoisie. Sobald die Bewegungen jeweils soweit herangereift, daß jeder Widerstand unmöglich geworden, sobald sie gleichzeitig zum sichersten Mittel geworden, um die Tories aus ihren Ämtern zu verdrängen, traten die Whigs hervor, übernahmen die Führung der Regierung und sicherten sich damit ihren Anteil am Sieg. 1831 gewährten sie auf der politischen Seite die Reform gerade soweit wie nötig, um die Bourgeoisie nicht gänzlich unbefriedigt zu lassen; nach 1846 beschränkten sie ihre freihändlerischen Maßnahmen soweit wie nötig, um für den aristokratischen Grundherrn möglichst viel an Privilegien zu retten. Jedesmal hatten sie die Bewegung nur zu dem Zwecke in die Hand genommen, um deren Entfaltung zu verhindern und um gleichzeitig ihre eigenen Posten zurückzuerobern.

Es ist klar, sobald der adlige Grundbesitz nicht mehr imstande ist, sich als selbständige Macht zu behaupten und als selbständige Partei um die Regierungsgewalt zu kämpfen, kurz, sobald die Tories endgültig gestürzt sind, ist in der britischen Geschichte kein Platz mehr für die Whigs. Ist die Aristokratie erst einmal vernichtet, wozu kann dann noch eine aristokratische Vertretung der Bourgeoisie gegenüber eben jener Aristokratie dienen?

Es ist allgemein bekannt, daß im Mittelalter die deutschen Kaiser die aufblühenden Städte kaiserlichen Gouverneuren, sogenannten advocati <Schutzherren>, unterstellten, um diese Städte gegen den benachbarten Adel zu schützen. Sobald jedoch die Bevölkerung und der Reichtum der Städte so weit gediehen waren, daß sie stark und unabhängig genug geworden, um sich zur Wehr zu setzen und den Adel sogar anzugreifen, vertrieben die Städte alsbald die adligen Gouverneure, die advocati.

Die Whigs sind die advocati der britischen Bourgeoisie gewesen, und ihr Regierungsmonopol muß zusammenbrechen, sobald das Monopol der Tories als Grundherren zusammenbricht. Die Partei der Whigs ist in demselben Maße zu einer Koterie herabgesunken, in dem die Bourgeoisie sich als selbständige Kraft entwickelt hat.

So muß sich der Charakter der britischen Whigs schließlich als ein widerlich heterogenes Gemisch herausstellen: am Feudalismus Festhaltende, die gleichzeitig Malthusianer sind; der Profitwirtschaft Verschriebene mit feudalen Vorurteilen; Aristokraten ohne Ehrgefühl; Bourgeois ohne industrielle Betätigung; bornierte finality men, die fortschrittliche Phrasen im Munde führen; Anhänger des Fortschritts, die fanatisch konservativ sind; Reformer, die den Fortschritt in homöopathischer Dosierung verzapfen; Förderer des Nepotismus, Großmeister der Korruption, Heuchler in Dingen der Religion, <341> Tartüffe in der Politik. Die Masse das englischen Volkes hat einen gesunden ästhetischen Instinkt und daher eine urwüchsige Abneigung gegen alles Zwiespältige und Zweideutige, gegen Fledermäuse und Russelliten. Darüber hinaus teilt die Masse des englischen Volkes, teilt das städtische und ländliche Proletariat den Haß der Tories gegen die "Geldmenschen". Mit der Bourgeoisie wiederum teilt es den Haß gegen die Aristokraten. In den Whigs haßt es beide, den Aristokraten und den Bourgeois - den Grundherrn, der es unterdrückt, den Geldherrn, der es ausbeutet. In den Whigs haßt es die Oligarchie, die über England seit mehr als einem Jahrhundert herrscht und die es dem Volk verwehrt, seine Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen.

Die Peeliten (liberale und konservative) sind keine Partei, sondern nur das Souvenir an einen Parteimann, den verstorbenen Sir Robert Peel. Der Engländer aber ist zu prosaisch, um in einem Souvenir etwas anderes zu sehen als den Ausgangspunkt für eine Elegie. Und jetzt, da das englische Volk im ganzen Land dem dahingegangenen Sir Robert Peel Denkmäler aus Erz und Marmor errichtet hat, glaubt es um so mehr, sich ohne diese wandelnden Denkmäler Peels - die Grahams, GladsTories, Cardwells usw. - behelfen zu können. Die sogenannten Peeliten sind nichts andres als dieser Stab von Bürokraten, den Robert Peel für seine Zwecke geschult hatte. Und da sie einen recht zahlreichen Stab bilden, so vergessen sie zeitweise, daß sie keine Armee hinter sich haben. Sie sind also alte Anhänger des Sir R. Peel, die sich noch im Zweifel sind, welcher Partei sie sich anschließen sollen. Es versteht sich aber von selbst, daß ein solcher Zweifel noch nicht ausreicht, um sich als selbständige Macht zu konstituieren.

Verbleiben noch Freihändler und Chartisten, deren kurze Charakterisierung ich im nächsten Briefe geben will.

Karl Marx