Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 374-378

Karl Marx

Die politischen Konsequenzen
des kommerziellen Paroxysmus

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3602 vom 2. November 1852]

<374> London, Dienstag, 19. Oktober 1852

Mein letzter Brief schilderte die Lage, in der sich Industrie und Handel in England zur Zeit befinden; ziehen wir heute die politischen Konsequenzen daraus.

Wenn auch der Ausbruch der drohenden industriellen und kommerziellen Krise den erwarteten Kämpfen mit den Tories einen gefährlicheren und revolutionäreren Charakter verleihen wird, so ist doch die jetzige Prosperität zweifellos der wertvollste Bundesgenosse der Tories. Dieser Bundesgenosse wird ihnen zwar nicht gestatten, die Korngesetze aufs neue zu erlassen, die sie selbst schon aufgegeben hatten, er wird aber ihre politische Macht aufs wirksamste festigen und ihnen helfen, eine reaktionäre soziale Politik zu betreiben. Tritt dieser Politik niemand entgegen, so wird sie notwendig zur Eroberung beachtlicher materieller Klassenvorteile führen, wie sie ja auch schon von Anfang an im Namen materieller Klasseninteressen eingeführt worden war. Disraeli will keine Korngesetze, sondern eine neue Festsetzung der Steuern zugunsten der schwerbelasteten Pächter. Aber warum sind die Pächter schwerbelastet? Weil sie zumeist die alten Pachtsätze aus der Zeit vor der Aufhebung des Schutzzolls zahlen müssen, während die damaligen Getreidepreise längst den Weg alles Vergänglichen gegangen sind. Die Aristokratie will zwar die Grundrente nicht herabsetzen, aber sie will einen neuen Steuermodus einführen, der die Pächter für die Mehrausgabe entschädigen soll, die sie der Aristokratie in die Tasche zahlen müssen.

Ich wiederhole: die jetzige Prosperität begünstigt die Tory-Reaktion. Warum?

"Der Patriotismus", so klagt "Lloyd's Weekly Newspaper", "ist imstande, sich im Speiseschrank schlafen zu legen, wenn er dort nur Essen und Trinken vorfindet. <375> Darum liegt jetzt im Freihandel Lord Derbys beste Sicherung, und der Lord ruht auf einem Bett von Rosen, die Cobden und Peel gepflückt haben."

Die Masse des Volkes ist voll beschäftigt, und es geht ihr mehr oder weniger gut - immer abgesehen von den Paupers, die untrennbar sind von der britischen Prosperität. Das Volk ist daher augenblicklich kein sehr gefügiges Material in den Händen der politischen Agitatoren. Was aber Lord Derby bei seinen Machenschaften vor allem zustatten kommt, das ist der Fanatismus, mit dem die Bourgeoisie sich in den gewaltigen Prozeß der industriellen Produktion gestürzt hat, Fabriken errichtet, Maschinen konstruiert, Schiffe baut, Baumwolle und Wolle spinnt und webt, Speicher füllt, Güter produziert, distribuiert, exportiert, importiert und sich diesen und anderen mehr oder weniger nutzbringenden Geschäften hingibt, deren Zweck sie jedoch stets darin sieht, Geld zu machen. Die Bourgeoisie, die sehr wohl weiß, daß die glücklichen Momente flotten Geschäftsgangs immer kürzer und seltener werden, benutzt sie und muß sie benutzen, um Geld, viel Geld, nichts als Geld zu machen. Sie überläßt die Überwachung der Tories ihren Politikern ex professo <von Berufs wegen>. Diese aber (siehe Joseph Humes Brief an den "Hull Advertiser") jammern mit Recht darüber, daß sie ohne Druck von außen ebensowenig agitieren können, wie der menschliche Organismus ohne den Druck der Atmosphäre arbeiten kann.

Dabei aber kann sich die Bourgeoisie einer Art unangenehmer Vorahnung nicht erwehren, daß in den hohen Regionen der Regierung etwas Verdächtiges brodelt und daß das Ministerium ihre politische Apathie, in die die jetzige Prosperität sie getrieben hat, in nicht gerade sehr sauberer Weise ausbeutet. Von Zeit zu Zeit warnt sie daher das Ministerium durch ihre Presseorgane. So steht zum Beispiel im Londoner "Economist":

"Es läßt sich nicht voraussehen, wie lange die Demokratie" (lies Bourgeoisie) "ihre jetzige weise Langmut, ihre Achtung vor der eigenen Macht und vor den Rechten der anderen noch beibehält und nicht versucht, ihre Position zu stärken, indem sie sich der Methoden der Aristokratie bedient. Die Aristokratie darf jedoch aus dem allgemeinen Verhalten der Demokratie nicht schließen, daß diese von ihrer Mäßigung niemals abgehen wird."

Derby aber antwortet: Haltet ihr mich für einen solchen Narren, daß ich mich jetzt, wo die Sonne scheint, von euch ins Bockshorn jagen lasse und die Hände in den Schoß lege, bis Stürme und Stockungen in der Geschäftswelt euch wieder Zeit genug lassen, euch der Politik besser anzunehmen?

<376> Der ganze Plan der Tory-Kampagne läßt sich von Tag zu Tag verfolgen.

Die Tories fingen damit an, die Versammlungen im Freien zu schikanieren; sie verfolgen die irischen Blätter, weil diese Artikel enthalten, die ihnen unangenehm sind; und augenblicklich klagen sie die Agenten der Friedensgesellschaft der Aufreizung zum Aufruhr an, weil sie Flugschriften verbreiteten gegen die Prügelstrafe in der Miliz. So drängen sie, wo sie nur können, ohne viel Aufhebens zu machen, die Opposition zurück, die sich isoliert hie und da auf der Straße oder in der Presse rührt.

Gleichzeitig vermeiden sie jeden offenen und größeren Bruch mit ihren Gegnern, indem sie das Zusammentreten des Parlaments verzögern und alles so vorbereiten, daß sie sich nach dessen Zusammentritt "mit der Beisetzung eines toten Herzogs und nicht mit den Interessen eines lebendigen Volkes" befassen (aus einem radikalen Blatt <"The People's Paper">). In der ersten Novemberwoche tritt nun das Parlament zusammen; es kann aber keine Rede davon sein, daß die Session vor Januar ernstlich beginne.

Wie aber füllen die Tories die Zwischenzeit aus? Mit der Registrierungskampagne und mit der Bildung der Miliz.

Mit der Registrierungskampagne bezwecken sie, entweder gegnerischen Wählern das Wahlrecht rundweg zu nehmen oder deren Eintragung in die neuen Wählerlisten für das kommende Jahr zu vereiteln, indem sie diesen oder jenen Einwand geltend machen, der laut Gesetz die Eintragung eines Wählers verhindern kann. Jede politische Partei wird durch ihre Rechtsanwälte vertreten und führt ihre Sache auf eigene Kosten; die mit der Revision betrauten Anwälte, die der Oberste Richter der Queen's Bench ernennt, entscheiden, ob die Ansprüche und Einsprüche zu Recht bestehen. Diese Kampagne hat sich bisher hauptsächlich in Lancashire und Middlesex abgespielt. Um die Kosten dafür in Nord-Lancashire aufzubringen, ließen die Tories Subskriptionslisten zirkulieren, auf denen Lord Derby selbst mit der freigebigen Summe von 500 Pfd.St. figuriert. In Lancashire erreichte die Zahl der Einsprüche gegen Wähler die außerordentliche Höhe von 6.749, und zwar 4.650 in Süd- und 2.099 in Nord-Lancashire. Im Süden waren es 3.557, die von den Tories, und 1.093, die von den Liberalen beanstandet wurden, im Norden 1.334, die die Tories, und 765, die die Liberalen verwarfen. (Das bezieht sich natürlich nur auf die Wähler vom platten Lande, die Wähler in den Städten des betreffenden Bezirks sind nicht mit eingerechnet.) In Lancashire siegten die Tories. In der Grafschaft Middlesex wurden <377> 353 Radikale und 40 Konservative von den Listen gestrichen; die Konservativen gewannen also über 200 Stimmen.

Auf der einen Seite stehen in diesem Kampfe die Tories, auf der andern die Whigs zusammen mit den Anhängern der Manchesterschule. Die letzteren haben bekanntlich Gesellschaften zum Erwerb von freiem Grundbesitz gebildet und damit eine Maschinerie geschaffen, die neue Wähler aus dem Boden stampfen soll. Die Tories lassen die Maschinerie bestehen, zerstören aber, was sie produziert. Durch die Entscheidungen des Revisionsanwalts für Middlesex, Mr. Shadwell, wurden viele Wähler ihres Wahlrechts beraubt, die der Gesellschaft zum Erwerb von freiem Grundbesitz angehörten; er erklärte nämlich, daß nur ein Stück Land, das wenigstens 50 Pfund Sterling gekostet habe, das Wahlrecht verleihe. Da dies eine Frage des Tatbestandes und keine Frage des Rechts ist, so gibt es gegen solche Entscheidungen keine Berufung beim Court of Common Pleas. Es liegt auf der Hand, daß diese Unterscheidung zwischen Tatbestand und Recht den Revisionsanwälten, die immer ein offenes Ohr haben für die Wünsche des amtierenden Ministeriums, größte Macht bei der Zusammensetzung der neuen Wählerlisten verleiht.

Was lassen nun diese großen Anstrengungen der Tories und das direkte Eingreifen ihres Führers in der Registrierungskampagne vorhersagen?

Daß Lord Derby keine sehr sanguinischen Hoffnungen auf das weitere Bestehen seines neuen Parlaments setzt, daß er geneigt ist, es aufzulösen, falls es sich widerspenstig zeigt, und daß er mittlerweile durch die Revisionsanwälte eine konservative Mehrheit für eine allgemeine Neuwahl vorzubereiten sucht.

So haben also die Tories auf der einen Seite durch diese Registrierungskampagne sich einen Rückhalt geschaffen, indem sie sich der Maschinerie der Gesetzgebung zu bemächtigen gewußt, während sie sich auf der anderen Seite durch die Bill über die Miliz die nötigen Bajonette verschaffen, um auch die reaktionärsten Parlamentsbeschlüsse durchführen und in aller Gelassenheit die finsteren Blicke der Friedensgesellschaft ertragen zu können.

"Da ihr das Parlament einen legalen Anstrich gibt, da ihr eine bewaffnete Miliz aktive Macht verleiht, was vermag da die Reaktion nicht alles in England zu tun!"

ruft das Organ der Chartisten <"The People's Paper"> aus.

Und der Tod des " Iron Duke" <"eisernen Herzogs" (Wellington)>, des prosaischen Helden von Waterloo, hat in diesem kritischen Moment die Aristokratie von einem unbequemen <378> Schutzengel befreit, der im Kriegshandwerk Erfahrung genug hatte, um des öfteren einen scheinbaren Sieg dem gut gedeckten Rückzug und eine glänzende Offensive dem rechtzeitigen Kompromiß zu opfern. Wellington war im Oberhaus immer derjenige, der zur Mäßigung riet; in entscheidenden Momenten hatte er oft Vollmacht für 60 und mehr Stimmen; er hinderte die Tories daran, der Bourgeoisie und der öffentlichen Meinung offen den Krieg zu erklären. Nun aber, unter der Führung eines kampfsüchtigen Tory-Ministeriums, das ein Sportenthusiast <Derby> leitet, kann das Oberhaus,

"das unter des Herzogs Leitung den sicheren Ballast des Staatsschiffs bildete, leicht zum Windfang werden, der dieses Schiff in Gefahr bringt".

Die Auffassung, daß dieser Ballast an Lords zur Sicherheit des Staates notwendig sei, ist natürlich nicht die unsrige, sondern die der liberalen Londoner "Daily News". Der jetzige Herzog von Wellington, bislang Marquis von Douro, ist sofort aus dem Lager der Peeliten in das der Tories übergegangen. Es sind also alle Anzeichen dafür vorhanden, daß die Aristokratie sich anschickt, die tollkühnsten Anstrengungen zu machen, um das verlorene Terrain zurückzuerobern und die goldenen Zeiten von 1815 bis 1830 zurückzubringen. Und in einem solchen Augenblick hat die Bourgeoisie keine Zeit zum Agitieren, keine Zeit zum Revoltieren, ja, noch nicht einmal Zeit, um ihre Entrüstung vor aller Welt in schicklicher Weise zu deklarieren.

Karl Marx