Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 8, 3. Auflage 1972, unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1960, Berlin/DDR. S. 387-391

Karl Marx

[Über Versuche,
eine neue Oppositionspartei zu gründen]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3622 vom 25. November]

<387> London, Dienstag, 9. November 1852

In demselben Maße, wie sich die bis jetzt dominierenden Parteien auflösen und ihre individuellen Merkmale sich verwischen, macht sich selbstverständlich der Mangel einer neuen Oppositionspartei fühlbar. Dieser Mangel drückt sich auf verschiedene Weise aus.

Lord John Russell macht in seiner schon erwähnten Rede den Anfang. Er sagt, der Alarm, den Lord Derby geschlagen, sei zum Teil von den Gerüchten veranlaßt, daß er, Lord J. Russell, sich "höchst demokratische Ansichten" zu eigen gemacht habe.

"Ich brauche wohl nicht erst zu versichern, daß diese Gerüchte gänzlich unbegründet sind und man sich auf keine solche Tatsache berufen kann."

Dennoch nennt er sich einen Demokraten und setzt dann die harmlose Bedeutung des Wortes auseinander:

"Das Volk dieses Landes ist, mit anderen Worten, die Demokratie des Landes. Die Demokratie hat ein ebenso gutes Recht darauf, ihre Rechte zu genießen, wie Monarchie und Adel. Die Demokratie hegt nicht die Absicht, irgendein Vorrecht der Krone anzutasten. Die Demokratie versucht auch nicht, die gesetzlichen Privilegien des Oberhauses zu schmälern. Was also ist diese Demokratie? Die Zunahme an Reichtum, die Zunahme an Verstandeskraft, die Entstehung aufgeklärterer Ansichten, die geeigneter sind, die Welt in aufgeklärter Weise zu regieren. Ich will aber noch weitergehen. Ich sage, daß sich angesichts dieser Stärkung der Position der Demokratie nicht mehr das alte System des Zwanges anwenden läßt, das mir einst nur zu vertraut gewesen. Im Gegenteil, die Demokratie müßte erhalten und ermutigt werden, und es müßte dieser Macht und dieser Autorität ein legitimes und gesetzliches Organ verliehen werden."

<388> Der "Morning Herald" bemerkt dazu:

"Lord John Russell hat einen Grundsatz, wenn er Minister ist, und einen, wenn er der Opposition angehört. Ist er im Amt, so ist sein Grundsatz, nichts zu tun; ist er in der Opposition, so ist sein Grundsatz, alles zu versprechen."

Was in aller Welt kann der "Morning Herald" unter "nichts" verstehen, wenn er das eben zitierte Geschwätz Lord Russells "alles" nennt und den kleinen John Russell wegen seiner königstreuen, lordsrespektierenden und bischoferhaltenden "Demokratie" mit dem Schicksal von Frost, Williams und Kompanie bedroht! Der Witz der Geschichte ist jedoch der: als Lord Derby im Oberhaus sich als den prominenten Gegner der "Demokratie" bezeichnet und von der Demokratie als der einzigen Partei spricht, gegen die es sich zu kämpfen lohne, da tritt der unvermeidliche John Russell auf und untersucht, was diese Demokratie eigentlich sei - eben jene Zunahme des Reichtums, die Zunahme der Verstandeskraft dieser Reichen und ihrer Ansprüche, die Regierung durch die öffentliche Meinung und durch gesetzliche Organe zu beeinflussen. Danach ist die Demokratie nichts weiter als der Ausdruck der Ansprüche der Bourgeoisie, der industriellen und kommerziellen Mittelklasse. Lord Derby tritt als Gegner dieser Demokratie auf; Lord John Russell meldet sich als ihr Standartenträger. Beide stimmen in dem unausgesprochenen Geständnis überein, daß die alte Fehde innerhalb ihrer eigenen Klasse, der Aristokratie, für das Land nicht mehr von Interesse ist. Und Russell ist durchaus bereit, den Namen Whig fallenzulassen und sich Demokrat zu nennen, wenn dies die conditio sine qua non <unerläßliche Bedingung> dafür sein soll, daß er seine Gegner verdrängt. Die Whigs würden dann faktisch ihre bisherige Rolle weiterspielen und offiziell als die Diener der Bourgeoisie auftreten. So beschränkt sich Russells Plan einer Reorganisation der Partei darauf, der Partei einen neuen Namen zu geben.

Auch Joseph Hume betrachtet die Bildung einer neuen "Volkspartei" als eine Notwendigkeit. Aber, sagt er, sie kann sich nicht bilden auf Grund eines neuen Pachtrechts und ähnlicher Vorschläge. "Dadurch könnte niemand auch nur 100 von den 654 Parlamentsmitgliedern vereinigen." Worin besteht nun Humes Allheilmittel?

"Die Liga oder Partei oder Union des Volkes muß sich in einem Punkte einig sein - sagen wir in der Forderung der geheimen Abstimmung. Hat sie einmal diesen einen Punkt durchgesetzt, so muß sie Schritt für Schritt zu andern übergehen. Und die Bewegung, die sich zuerst auf einige wenige Mitglieder des Unterhauses beschränken muß, <389> kann erst auf Erfolg rechnen, wenn das Volk draußen sowie die Wähler die Notwendigkeit einsehen, daß sie mithelfen und die kleine Volkspartei im Parlament unterstützen müssen."

Dieser selbe Hume war einer der Männer, die die Volks-Charte entworfen haben. Von der Volks-Charte mit ihren sechs Punkten zog er sich auf die "kleine Charte" der Finanz- und Parlamentsreformer mit ihren drei Punkten zurück, und jetzt beschränkt er sich auf den einen Punkt der geheimen Abstimmung. Welchen Erfolg er selbst sich von dem neuen Allheilmittel verspricht, sagt er am Schlusse seines Briefes an den "Hull Advertiser":

"Sagen Sie selbst, wie viele Redaktionen es wagen werden, eine Partei zu unterstützen, die bei der jetzigen Zusammensetzung des Parlaments nie zur Macht gelangen kann?"

Da nun diese neue Partei nicht die Absicht hat, im Augenblick etwas an der Zusammensetzung des Parlaments zu ändern, sondern sich auf die Forderung der geheimen Abstimmung beschränkt, so wird sie nach ihrem eigenen Eingeständnis niemals zur Macht gelangen. Wo aber steckt der Nutzen der Gründung einer Partei der Impotenz, der offen eingestandenen Impotenz?

Außer Joseph Hume machen auch noch andere den Versuch, eine neue Partei zu gründen. Das ist die sogenannte Nationalpartei. Statt der Volks-Charte möchte diese Partei das allgemeine Wahlrecht zu ihrem ausschließlichen Schibboleth machen und dadurch gerade jene Bedingungen außer acht lassen, durch welche die Bewegung für das allgemeine Wahlrecht allein zu einer nationalen Bewegung werden und sich die Unterstützung des Volkes sichern kann. Ich werde auf diese Nationalpartei noch zurückkommen. Sie besteht aus ehemaligen Chartisten, die darauf aus sind, für respektabel gehalten zu werden, sowie aus Radikalen, d.h. Bourgeois-Ideologen, die sich der Chartistenbewegung bemächtigen wollen. Hinter ihnen stehen ob die "Nationalen" es gewahr werden oder nicht - die Parlaments- und Finanzreformer, die Leute der Manchesterschule, die sie vorwärtstreiben und sie als Vorhut benützen.

Eines aber geht nur zu klar hervor aus all diesen elenden Kompromissen und diesem Abgleiten von der festen Position, aus all diesem Suchen nach schwächlich opportunen Manövern, diesen Schwankungen und Quacksalbereien: Katilina steht vor den Toren der Stadt, ein entscheidender Kampf bereitet sich vor; die Opposition weiß, wie unpopulär sie ist und wie wenig Widerstand sie aufbringt, so daß alle Versuche, neue Verteidigungszentren zu schaffen, nur in einem Punkte übereinstimmen: in der "Politik des Zurück- <390> weichens". Die "Nationalpartei" zieht sich von der Charte auf das allgemeine Wahlrecht zurück, Joe Hume vom allgemeinen Wahlrecht auf die geheime Abstimmung, ein dritter von der geheimen Abstimmung auf die gerechtere Wahlkreiseinteilung und so fort, bis wir endlich bei Johnny Russell anlangen, der keinen anderen Kampfruf auszugeben vermag als den bloßen Namen der Demokratie. In Lord J. Russells Demokratie müßten eigentlich die "Nationalpartei", die Humesche "Volkspartei" und alle andern Scheinparteien kulminieren, wenn sie auch nur eine Spur von Lebensfähigkeit in sich hätten.

Einerseits die politische Schlaffheit und Gleichgültigkeit als Folge einer Periode der materiellen Prosperität, andererseits die Überzeugung, daß die Tories Unheil im Schilde führen; einerseits die sichere Erwartung der Bourgeoisführer, daß sie bald der Unterstützung des Volkes bedürfen werden, dabei andererseits die Erfahrung, die einige der populären Führer lehrt, daß das Volk zu indolent ist, um im Augenblick seine eigene Bewegung selbst zu schaffen - alle diese Umstände erzeugen das Phänomen, daß die Parteien gegenseitige Annäherungsversuche machen und die verschiedenen nicht im Parlament vertretenen Gruppierungen der Opposition bestrebt sind, sich zusammenzutun, indem sie sich gegenseitig, von der radikalsten Fraktion bis zur wenigst radikalen, Konzessionen machen und schließlich wieder bei dem anlangen, was Lord J. Russell Demokratie zu nennen beliebt.

Zu den Versuchen, eine "Nationalpartei", wie sie sich selbst tituliert, zu gründen, bemerkt Ernest Jones ganz richtig:

"Die Volles-Charte ist die umfassendste politische Reformbestrebung, die es gibt, und die Chartisten sind die einzige wahrhaft nationale, für politische und soziale Reformen eintretende Partei in Großbritannien."

Und R. G. Gammage, eines der Mitglieder der Chartistenexekutive, wendet sich mit folgenden Worten an das Volk:

"Würdet ihr denn die Mitarbeit der Bourgeoisie zurückweisen? Sicher nicht, wenn diese Mitarbeit euch unter anständigen, ehrenhaften Bedingungen angeboten wird. Was sind nun diese Bedingungen? Sie sind klar und einfach. Die Charte annehmen und, sobald sie angenommen ist, sich mit ihren Freunden vereinigen, die sich schon organisiert haben, um sie zu verwirklichen. Weigert ihr euch, das zu tun, so seid ihr entweder Gegner der Charte selbst, oder ihr pocht auf eure Klassenüberlegenheit und bildet euch ein, daß diese Überlegenheit euch zur Führung berechtigt. Im ersteren Fall kann sich kein ehrlicher Chartist mit euch verbinden; im zweiten Fall sollte kein Arbeiter so weit die Achtung vor sich selbst verlieren, daß er sich eurem Klassen- <391> vourteil beugt. Die Arbeiter sollen allein ihrer eigenen Macht vertrauen, dabei aber ehrliche Hilfe annehmen, von wem sie auch stamme; sie sollen aber immer so handeln, als ob ihr Ziel nur von ihren eignen Bemühungen abhinge!"

Auch die Masse der Chartisten ist im Augenblick von der materiellen Produktion vollständig in Anspruch genommen. Der Kern der Partei wird aber allerorten organisiert, und die Verbindungen in England wie auch in Schottland werden wiederhergestellt. Sollte es zu einer kommerziellen und politischen Krise kommen, so wird man die Bedeutung der jetzigen lautlosen Tätigkeit in den Hauptzentren des Chartismus in ganz Großbritannien spüren.

Karl Marx