Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 142-147
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx

Die Türkei und Rußland -
Nachsicht des Ministeriums Aberdeen gegenüber Rußland -
Das Budget -
Steuer auf Zeitungsbeilagen -
Parlamentskorruption

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3814 vom 8. Juli 1853]

<142> London, Dienstag, 21 Juni 1853

Im Jahre 1828, als man es zuließ, daß Rußland die Türkei mit Krieg überzog und diesen Krieg mit dem Vertrag von Adrianopel abschloß, durch den die ganze Ostküste des Schwarzen Meeres von Anapa im Norden bis Poti im Süden (ausgenommen Tscherkessien) und die Inseln an der Donaumündung Rußland zufielen, die Moldau und Walachei de facto von der Türkei losgetrennt und unter Rußlands Herrschaft gestellt wurden - eben zu dieser Zeit war Lord Aberdeen Minister des Auswärtigen in England. 1853 finden wir eben denselben Aberdeen an der Spitze des Koalitionsministeriums in demselben Lande wieder. Diese einfache Tatsache genügt, um die anmaßende Haltung Rußlands in seinem jetzigen Konflikt mit der Türkei und Europa zu erklären.

Ich sagte schon in meinem letzten Artikel, daß der Sturm, den die Enthüllungen in der "Press" über die geheimen Abmachungen zwischen Aberdeen, Clarendon und Baron Brunnow entfachten, sich schwerlich infolge der haarspalterischen, gewundenen und geistlosen Erklärungen der "Times" vom Donnerstag legen werde. Die "Times" mußte dann sogar in einem halbamtlichen Artikel zugeben, daß Lord Clarendon in der Tat den Forderungen zugestimmt habe, die Rußland beabsichtigte, an die Pforte zu stellen, fügte jedoch hinzu, es habe sich gezeigt, daß die Forderungen, wie man sie in London darstellte, sich wesentlich von denen unterschieden, die tatsächlich in Konstantinopel vorgeschlagen wurden, wenn auch die Papiere, die Baron Brunnow dem englischen Minister übermittelte, angeblich "wörtliche Auszüge" <143> aus den Instruktionen sein sollten, die dem Fürsten Menschikow übergeben worden waren. Am Sonnabend darauf zog jedoch die "Times" - zweifellos wegen des Protests der russischen Gesandtschaft - ihre Behauptungen zurück und stellte dem Baron Brunnow das Zeugnis vollkommener "Aufrichtigkeit und Glaubwürdigkeit" aus. Der "Morning Herald" von gestern wirft die Frage auf, "ob Rußland nicht etwa dem Baron Brunnow falsche Instruktionen gegeben habe, um den britischen Minister zu täuschen"? Inzwischen wurden neue, von einer korrupten Tagespresse dem Publikum geflissentlich vorenthaltene Enthüllungen gemacht, die jede derartige Interpretation ausschließen und die ganze Schuld auf die Schultern des Koalitionsministeriums wälzen. Jedes andere Parlament als das jetzige, das nur ein paralytisches Produkt einer erstarrten Wählerschaft ist, die durch unerhörte Bestechung und Einschüchterung zu künstlichem Loben stimuliert wurde, würde genügenden Grund haben, daraufhin Anklage gegen die Lords Aberdeen und Clarendon zu erheben.

Es wird behauptet, daß Lord Clarendon eine Mitteilung erhielt, in der er verständigt wurde, daß die Affäre der Heiligen Stätten nicht die einzige war, die den russischen Fürsten <Menschikow> beschäftigte. In dieser Mitteilung ging man auch auf die allgemeine Hauptfrage ein, nämlich die der griechisch-orthodoxen Christen in der Türkei, und auf die Haltung, die der Kaiser von Rußland vertragsgemäß ihnen gegenüber einnehme. Alle diese Punkte wurden erörtert und der von Rußland einzuschlagende Kurs genau festgelegt - derselbe Kurs, der in der geplanten Konvention vom 6. Mai erläutert worden ist. Lord Clarendon, dem Lord Aberdeen zustimmte, mißbilligte diesen Kurs keineswegs, noch trat er ihm entgegen. Während die Dinge in London so standen, sandte Bonaparte eine Flotte nach Salamis; die öffentliche Meinung übte von außen ihren Druck auf das Parlament aus, und die Minister wurden in beiden Häusern interpelliert; Russell verpfändete sein Wort für die Aufrechterhaltung der Integrität und der Unabhängigkeit der Türkei, Fürst Menschikow aber ließ in Konstantinopel die Maske fallen. Es wurde infolgedessen notwendig, daß die Lords Aberdeen und Clarendon die anderen Minister in das Geschehene einweihten, und die Koalition war im Begriff sich aufzulösen, als Lord Palmerston, durch seine Vergangenheit gezwungen, auf einer ganz entgegengesetzten Politik bestand. Um die Auflösung seines Kabinetts zu verhüten, gab Lord Aberdeen schließlich dem Drängen Palmerstons nach und willigte ein in die gemeinsame Aktion der englischen und französischen Flotten in den Dardanellen. Um seinen Verpflichtungen gegenüber Rußland nachzu- <144> kommen, übermittelte aber Lord Aberdeen gleichzeitig in einer vertraulichen Depesche nach St. Petersburg die Mitteilung, daß er die Okkupation der Donaufürstentümer durch die Russen nicht als Casus belli betrachte, und die "Times" bekam Order, die öffentliche Meinung auf diese neue Auslegung internationaler Verträge vorzubereiten. Es wäre ungerecht, wollte man ihr nicht das Zeugnis ausstellen, daß sie sich redlich Mühe gab, schwarz in weiß zu verwandeln. Das gleiche Blatt, das immerzu behauptet hatte, das russische Protektorat über die griechisch-orthodoxen Christen der Türkei habe nicht die geringsten politischen Folgen, versicherte nun plötzlich, die Moldau und die Walachei stünden unter geteilter Herrschaft und bildeten in Wirklichkeit keinen integrierenden Bestandteil des Türkischen Reichs, ihre Okkupation wäre daher "genaugenommen" keine Invasion des Türkischen Reichs, da die Verträge von Bukarest und Adrianopel dem Zaren das Protektorat über seine Glaubensbrüder in den Donauprovinzen verliehen hätten. Die Konvention von Balta Liman vom 1. Mai 1849 bestimmt ausdrücklich:

"1. daß die Okkupation dieser Provinzen - vorausgesetzt, daß es dazu kommen sollte - nur gemeinsam von russischen und türkischen Truppen vorgenommen werden dürfe;

2. daß der einzige Rechtfertigungsgrund zu einem solchen Schritt nur schwerwiegende Ereignisse in den Fürstentümern sein sollten."

Da sich nun aber in diesen Fürstentümern überhaupt nichts ereignete und Rußland überdies nicht die Absicht hat, sie gemeinsam mit den Türken zu besetzen, sondern im Gegenteil gerade den Türken zum Trotz, so meint die "Times", die Türkei solle die Okkupation der Fürstentümer durch Rußland allein erst einmal schweigend dulden und dann in Verhandlungen mit Rußland treten. Sollte aber die Türkei nicht die nötige Gemütsruhe bewahren und die Okkupation als Casus belli betrachten, so folgert die "Times", sind England und Frankreich nicht verpflichtet, dasselbe zu tun, wenn es aber England und Frankreich dennoch täten, so empfiehlt die "Times" ihnen, recht artig zu sein und in keinem Falle als kriegführende Mächte gegen Rußland, sondern nur als passive Bundesgenossen der Türkei aufzutreten.

Ich kann diese feige und gewundene Haltung der "Times" nicht besser brandmarken, als wenn ich folgende Stelle aus ihrem heutigen Leitartikel zitiere. Er stellt ein unglaubliches Gemisch aus all den Widersprüchen, Ausflüchten, falschen Vorwänden, Besorgnissen und Feigheiten der Lord Aberdeenschen Politik dar:

"Bevor sie zum Äußersten schreitet, kann die Pforte, wenn sie es für nötig hält, gegen die Okkupation der Fürstentümer protestieren und mit Hilfe aller Mächte <145> Europas noch unterhandeln. Es bleibt der türkischen Regierung überlassen, in Übereinstimmung mit den Gesandten der vier Mächte diesen wichtigen Punkt zu bestimmen und speziell zu entscheiden, ob die Feindseligkeiten soweit gediehen sind, um gemäß der Konvention von 1841 fremden Kriegsschiffen die Dardanellen zu öffnen. Sollte diese Frage bejahend entschieden und die Flotten in die Meerengen beordert werden, so wird es sich dann erst zeigen, ob wir als vermittelnde oder als kriegführende Mächte dahin kommen; denn angenommen. die Türkei und Rußland befänden sich im Kriegszustand und die fremden Kriegsschiffe wären kraft des Casus foederis <eigentlich: Casus foederis et belli; ein Fall, wo für verbündete Staaten die Verpflichtung besteht, in den Krieg einzutreten> (!) zugelassen, so folgt daraus nicht, daß sie unbedingt als kriegführende und nicht als vermittelnde Mächte handeln müssen, woran sie ein viel größeres Interesse haben, besonders da sie nicht ausgeschickt sind, Krieg zu führen, sondern ihn zu verhindern. Eine solche Maßregel muß uns nicht mit Notwendigkeit zu Hauptpersonen in dem Streit machen."

Alle die Leitartikel der "Times" haben nichts genützt. Kein anderes Blatt trat in ihre Fußtapfen, keines biß auf den Köder an, und sogar die ministeriellen Zeitungen, "Morning Chronicle", "Morning Post", "Globe" und "Observer", nehmen einen ganz anderen Standpunkt ein und finden dabei ein lautes Echo jenseits des Kanals, wo nur die legitimistische "Assemblée nationale" angeblich keinen Casus belli in der Besetzung der Donaufürstentümer erblickt.

Die Uneinigkeit im Lager des Koalitionsministeriums wurde also dem Publikum durch den lärmenden Zwiespalt seiner Organe verraten. Palmerston nötigte das Kabinett dazu, die Okkupation der Moldau und Walachei als Kriegserklärung zu betrachten, und wurde darin von den Whigs und den pseudoradikalen Mitgliedern des Koalitionsministeriums unterstützt. Lord Aberdeen, der seine Zustimmung zur gemeinsamen Aktion der französischen und englischen Flotten nur gegeben hatte, weil er darauf spekulierte, daß Rußland nicht in den Dardanellen, sondern bloß in den Donauprovinzen vorginge, war nun der Hereingefallene. Das Fortbestehen des Ministeriums war wiederum in Frage gestellt. Als sich Palmerston gerade auf die dringenden Vorstellungen Lord Aberdeens anschickte, der widerrechtlichen Okkupation der Fürstentümer durch Rußland zuzustimmen, traf plötzlich eine Depesche aus Paris ein, die Bonapartes Absicht ankündigte, eben diesen Akt als einen Casus belli zu betrachten. Nun erreichte die Verwirrung den höchsten Grad.

Ist diese Darstellung zutreffend, und nach unserer Kenntnis von Lord Aberdeens Vergangenheit ist nicht daran zu zweifeln, so ist das ganze Geheimnis der russisch-türkischen Tragikomödie, die Europa jetzt monatelang beschäftigte, bloßgelegt. Wir begreifen plötzlich, warum Lord Aberdeen die <146> englische Flotte nicht von Malta abziehen wollte. Wir begreifen, warum Oberst Rose für sein energisches Vorgehen in Konstantinopel gerüffelt wurde, begreifen das freche Benehmen des Fürsten Menschikow und die heldenmütige Festigkeit des Zaren, der, nachdem er die kriegerischen Demonstrationen Englands als bloße Farce durchschaut hatte, froh gewesen wäre, durch die ungehinderte Okkupation der Moldau und der Walachei nicht nur den Schauplatz als "Herr der Lage" zu verlassen, sondern auch seine alljährlichen großen Manöver auf Kosten der Untertanen des Sultans abhalten zu können. Sollte der Krieg dennoch ausbrechen, so glauben wir, wird es nur deshalb geschehen, weil Rußland zu weit gegangen ist, um sich zurückziehen zu können, ohne an seiner Ehre Schaden zu nehmen; und vor allem glauben wir, daß es sich nur darum so über alle Maßen mutig fühlte, weil es die ganze Zeit mit Englands Nachsicht rechnete.

In dieser Hinsicht trifft folgende Stelle aus dem letzten Artikel eines "Engländers" <A. Richards> über das Koalitionsministerium den Nagel auf den Kopf:

"Die Koalition wackelt bei jedem Lüftchen, das von den Dardanellen herüberbläst. Die Befürchtungen des guten Aberdeen und die klägliche Unfähigkeit Clarendons haben Rußland ermutigt und die Krise hervorgerufen."

Die letzten Nachrichten aus der Türkei lauten: Der türkische Gesandte in Paris wurde von Konstantinopel aus via Semlin telegraphisch verständigt, daß die Pforte das letzte Ultimatum Rußlands zurückgewiesen hat, wobei sie sich auf das Memorandum stützt, das an die Großmächte geschickt wurde. Der "Sémaphore" von Marseille berichtet, daß in Smyrna die Nachricht eintraf, zwei türkische Handelsschiffe seien im Schwarzen Meer von den Russen gekapert worden; daß aber andererseits die kaukasischen Stämme einen allgemeinen Feldzug gegen die Russen eröffnet haben, in welchem Schamyl einen glänzenden Sieg erfochten und nicht weniger als 23 Kanonen erbeutet hätte.

Herr Gladstone hat nun seine geänderten Vorschläge hinsichtlich der Annoncensteuer bekanntgegeben. Um sich die Unterstützung der "Times" zu sichern, hatte er vorgeschlagen, die Gebühr für Zeitungsbeilagen, die nur Annoncen enthalten, zu streichen. Von der öffentlichen Meinung eingeschüchtert, schlägt er jetzt vor, alle Einzelbeilagen steuerfrei zu belassen und alle Doppelbeilagen mit 1/2 d. zu besteuern, Man stelle sich die Wut der "Times" vor, die bei diesem abgeänderten Vorschlag nur 20.000 Pfd.St. anstatt 40.000 Pfd.St. gewinnen wird und außerdem zusehen muß, wie der Markt <147> ihren Konkurrenten weit geöffnet wird. Dieses so konsequente Blatt, welches die Besteuerung des Wissens und damit auch die Annoncensteuer bis aufs äußerste verteidigt, widersetzt sich nun jeglicher Steuer für Zeitungsbeilagen. Aber die "Times" kann sich trösten. Wenn das Ministerium, nachdem es den größten Teil des Budgets durchgesetzt hat, keine Notwendigkeit mehr verspürt, der "Times" zu schmeicheln, so werden die Manchesterleute, sobald sie sich ihren Anteil am Budget gesichert haben, dieses Ministerium nicht länger als notwendig erachten. Das ist es gerade, was das Ministerium befürchtet, und eben diese Befürchtung erklärt die Tatsache, daß sich die Budgetdebatte über die ganze Sitzungsperiode des Parlaments erstreckt. Es ist charakteristisch für die ausgleichende Gerechtigkeit des Herrn Gladstone, daß er, während er die Zeitungsannoncensteuer von 1 sh. 6 d. auf 1 sh. 3 d. herabsetzt, vorschlägt, die Anzeigen von Neuerscheinungen, die am Schluß der meisten Bücher und Zeitschriften gebracht werden, mit 6 d. pro Stück zu besteuern.

Heute abend wird das Unterhaus mit zwei Fällen von Bestechung beschäftigt sein. Während der gegenwärtigen Parlamentssession haben 47 Ausschüsse zur Untersuchung der Wählerbeeinflussung getagt, von denen 4 noch tätig sind; 43 haben ihre Untersuchungen abgeschlossen, wobei sie herausfanden, daß die Mehrzahl der Parlamentsmitglieder, denen ihre Mandate entzogen wurden, sich der Bestechung schuldig gemacht haben. Um zu zeigen, welche Achtung dieses Parlament - ein Sprößling der Korruption und der Vater von Koalitionen - in der öffentlichen Meinung genießt, genügt es, die folgenden Worte des heutigen "Morning Herald" zu zitieren:

"Wenn Mangel an klarer Zielsetzung und noch mehr der zögernde, unentschlossene Angriff symptomatisch für Schwachsinn sind, dann muß zugegeben werden, daß das jetzige Parlament, dieses Sechsmonatskind, bereits in seine zweite Kindheit eingetreten ist. Ihm geht schon jetzt der Atem aus, und es zerfällt in kleine Grüppchen von mut- und ziellosen Klüngeln."

Karl Marx