Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 164-175
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx

Die russische Politik gegenüber der Türkei -
Die Arbeiterbewegung in England

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3819 vom 14. Juli 1853]

<164> London, Freitag, 1. Juli 1853

Seit 1815 haben die Großmächte Europas nichts so sehr gefürchtet wie eine Verletzung des Status quo. Aber jeder Krieg zwischen zwei dieser Mächte bringt den Umsturz des Status quo mit sich. Das ist der Grund, weshalb Rußlands Übergriffe im Osten geduldet wurden und weshalb man von Rußland dafür nie etwas anderes forderte, als daß es den Westmächten einen, wenn auch noch so absurden, Vorwand bot, neutral zu bleiben und der Notwendigkeit enthoben zu sein, Rußlands Übergriffe zurückzuweisen. Rußland wurde von jeher wegen der Geduld und Großmut seines "erhabenen Herrschers" gepriesen, der sich nicht nur herabließ, die nackte, schmachvolle Unterwürfigkeit der Kabinette des Westens zu decken, sondern auch noch die Großherzigkeit besaß, die Türkei nur Stück für Stück, statt auf einmal zu verschlucken. Die russische Diplomatie beruhte also auf der Feigheit der Staatsmänner des Westens, und ihre diplomatische Kunst ist allmählich so sehr zu einer ausgesprochenen Manier geworden, daß man die Geschichte der jetzigen Transaktionen fast buchstäblich in den Annalen früherer Jahre verfolgen kann.

Die Haltlosigkeit der neuesten Vorwände Rußlands wird dadurch offenkundig, daß der Sultan <Abdulmeschid> in seinem neuen Ferman an den Patriarchen von Konstantinopel in religiösen Dingen sogar mehr zugestand, als der Zar verlangt hatte. War vielleicht die "Pazifikation Griechenlands" ein stichhaltigerer Vorwand? Als Herr de Villèle seinerzeit, um die Vorahnungen des Sultans <Machmud II.> zu beruhigen und eine Probe der guten Absichten der Großmächte <165> zu geben, vorschlug, daß "die Alliierten vor allen Dingen einen Vertrag schließen sollten, der dem Ottomanischen Reich seinen Status quo sichern würde", widersetzte sich der russische Gesandte in Paris <Pozzo di Borgo> diesem Vorschlag aufs äußerste, indem er versicherte, daß

"Rußland, obwohl es in seinen Beziehungen zur Pforte Großmut übe und den allergrößten Respekt vor den Wünschen seiner Bundesgenossen hege, nichtsdestoweniger genötigt gewesen sei, sich die Austragung seiner eigenen Differenzen mit dem Diwan ausschließlich selbst vorzubehalten; daß eine allgemeine Bürgschaft für das Ottomanische Reich, abgesehen davon, daß sie ungewöhnlich und überraschend wäre, die Gefühle seines Herrn und dessen erworbene Rechte sowie die Grundsätze, auf denen diese beruhten, verletzen müßte".

Rußland erhebt jetzt Anspruch darauf, die Donaufürstentümer zu besetzen, ohne der Pforte das Recht zu gehen, diesen Schritt als Casus belli zu betrachten.

Rußland verlangte 1827, "die Moldau und die Walachei im Namen der drei Mächte zu okkupieren".

Rußland proklamierte in seiner Kriegserklärung am 2. April 1828:

"Meine Alliierten werden mich immer bereit finden, meine Schritte zur Ausführung des Londoner Vertrags mit den ihrigen zu vereinigen: stets werde ich bestrebt sein, an einem Werk mitzuarbeiten, das durch unsere Religion und alle der Menschheit heiligen Gefühle unserer tätigen Mithilfe empfohlen wird, und immer werde ich meine jetzige Stellung nur dazu benützen, die Ausführung des Vertrags vom 6. Juli zu beschleunigen."

Hingegen verkündigte Rußland in seinem Manifest vom 1. Oktober 1829:

"Rußland hat sich konsequent von jedem Wunsche nach Eroberungen, jedem Verlangen nach Gebietsvergrößerung ferngehalten."

Der russische Gesandte in Paris schrieb an den Grafen Nesselrode:

"Als das kaiserliche Kabinett die Frage erwog, ob der Zeitpunkt gekommen sei, gegen die Pforte die Waffen zu erheben, mögen vielleicht Zweifel an der Dringlichkeit dieser Maßnahme bestanden haben, besonders in den Augen derjenigen, die nicht genügend über die Wirkungen der blutdürstigen Reformen nachgedacht hatten, die das Oberhaupt des Ottomanischen Reiches soeben mit solch furchtbarer Gewalt durchgeführt hat.

Der Kaiser hat das türkische System auf die Probe gestellt, und Seine Majestät hat herausgefunden, daß es Anfänge von physischer und moralischer Organisation aufweist, die es bisher nicht besaß. Wenn der Sultan schon jetzt in der Lage war, uns einen <166> entschlosseneren und besser organisierten Widerstand entgegenzusetzen, wo er noch kaum die Grundzüge zu seinen neuen Reformplänen und Verbesserungen geschaffen hatte, wie schrecklich wäre er uns erst gewesen, wenn er Zeit gehabt hätte, alles mehr zu festigen. Nachdem die Dinge einmal so weit gediehen waren, müssen wir uns glücklich schätzen, daß wir zum Angriff schritten, ehe die Gefahr für uns noch größer wurde; jeder Aufschub hätte unsere Situation verschlimmert und uns noch größere Hindernisse bereitet als die, mit denen wir ohnehin schon zu kämpfen haben."

Rußland schlägt heute vor, zuerst zum Angriff vorzugehen und dann erst darüber zu reden. 1829 schrieb Fürst Lieven an den Grafen Nesselrode:

"Wir werden uns nur auf allgemeine Dinge beschränken, denn jede ausführliche Mitteilung über einen so heiklen Gegenstand könnte wirkliche Gefahren heraufbeschwören; und wenn wir einmal mit unseren Alliierten die Artikel des Vertrages mit der Pforte erörtern, so werden wir sie nur dadurch zufriedenstellen, wenn wir ihnen die Einbildung lassen, daß sie uns nie wieder gutzumachende Opfer auferlegt haben. Nur in unserem eigenen Lager darf der Friede unterzeichnet werden, und erst wenn er geschlossen ist, darf Europa die Bedingungen erfahren. Zum Widerspruch wird es dann zu spät sein, und es wird sich dann geduldig in das fügen, was es nicht mehr hindern kann."

Rußland hat nun mehrere Monate lang unter allen möglichen Vorwänden jede Aktion verzögert, um die Dinge in einem Zustand zu erhalten, der, da er weder Krieg noch Frieden ist, für Rußland erträglich, für die Türkei aber verderblich ist. Genauso handelte Rußland zu jener Zeit, auf die wir vorhin anspielten. Pozzo di Borgo äußerte sich darüber folgendermaßen:

"Unsere Politik besteht darin, darauf zu achten, daß in den nächsten vier Monaten nichts geschieht, und ich hoffe, daß uns das gelingt, denn die Menschen ziehen es im allgemeinen vor, abzuwarten; der fünfte Monat aber muß reich an Ereignissen werden."

Nachdem der Zar die türkische Regierung mit den größten Beleidigungen überhäuft hat, und obwohl er ihr jetzt gewaltsam die demütigendsten Zugeständnisse abnötigen will, macht er doch viel Wesens aus seiner "Freundschaft für den Sultan Abdulmedschid" und seiner Fürsorge, "das Ottomanische Reich zu erhalten". Den Sultan macht er dafür "verantwortlich", daß jener sich seinen "gerechten Forderungen" widersetzt, "seine Freundschaft und seine Gefühle fortgesetzt verletzt", seine "Note" zurückgewiesen und sein "Protektorat" abgelehnt habe.

Als Pozzo di Borgo 1828 von Karl X. befragt wurde, warum die Russen in dem damaligen Feldzug solch einen Mißerfolg aufzuweisen hatten, antwortete er: Der Kaiser, der den Krieg ohne zwingende Notwendigkeit nicht <167> à l'outrance <aufs äußerste> hätte führen wollen, hätte gehofft, der Sultan werde sich an dieser Großmut ein Beispiel nehmen; dieses Experiment sei nun aber fehlgeschlagen.

Kurz bevor Rußland in die jetzigen Differenzen mit der Pforte geriet, hatte es versucht, in der Frage der politischen Flüchtlinge eine gemeinsame Koalition aller Kontinentalmächte gegen England zustande zu bringen, und als ihm das mißlang, versuchte es, sich mit England gegen Frankreich zu verbünden. In ähnlicher Weise schüchterte es in den Jahren 1826 bis 1828 Österreich mit den "ehrgeizigen Plänen Preußens" ein, indem es gleichzeitig alles tat, was in seiner Macht stand, um Preußens Macht und Ansprüche zu steigern, so daß es in den Stand gesetzt würde, Österreich die Waage zu halten. In seiner jetzigen Zirkularnote bezeichnet Rußland Bonaparte wegen seiner Ansprüche auf die Heiligen Stätten als den einzigen Friedensstörer. Damals aber schrieb Rußland, wie Pozzo di Borgo erzählt,

"alle Erschütterungen in ganz Europa den Intrigen des Fürsten Metternich zu" und wollte "sogar dem Herzog von Wellington begreiflich machen, daß die Aufmerksamkeit, die er dem Wiener Kabinett schenkt, seinen Einfluß allen anderen Kabinetten gegenüber schmälern könnte; Rußland versuchte den Dingen eine solche Wendung zu geben, daß schon nicht mehr Rußland eine Vereinbarung zwischen Frankreich und Großbritannien anstrebt, sondern Großbritannien, das früher ein Bündnis mit Frankreich zurückgewiesen hatte, um sich dem Wiener Kabinett zu nähern".

Rußland würde sich also jetzt einer großen Demütigung aussetzen, wenn es sich zurückzöge. Genauso war seine Situation nach dem ersten erfolglosen Feldzug von 1828. Was war nun damals sein vornehmstes Ziel? Lassen wir seine Diplomaten antworten:

"Ein zweiter Feldzug ist unerläßlich, um die zum Erfolg der Verhandlungen notwendige Superiorität zu erlangen. Wenn diese Verhandlungen stattfinden, so müssen wir in der Lage sein, die Bedingungen rasch und energisch zu diktieren ... Seine Majestät würde sich herbeilassen, um so weniger zu fordern, je mehr Macht man ihm einräumte. Diese Superiorität zu erlangen, muß meiner Meinung nach das Ziel aller unserer Anstrengungen sein. Diese Superiorität ist heute zur Bedingung unserer politischen Existenz geworden, die wir in den Augen der Welt festigen und aufrechterhalten müssen."

Aber fürchtet Rußland nicht die gemeinsame Aktion Frankreichs und Englands? Sicherlich. In den unter Louis-Philippe veröffentlichten geheimen Aufzeichnungen über die Mittel, die Rußland besitzt, um das Bündnis zwischen Frankreich und England zu zerstören, findet sich nachstehende Stelle:

"Im Falle eines Krieges, in dem Frankreich mit England zusammenginge, gibt sich Rußland keiner Hoffnung auf Erfolg hin, es sei denn, dieses Bündnis würde aus- <168> einandergehen, so daß zumindest England einwilligte, während eines kontinentalen Konflikts neutral zu bleiben."

Die Frage ist: Glaubt Rußland an eine gemeinsame Aktion Englands und Frankreichs? Wir wollen nochmals Pozzo di Borgos Depeschen zitieren:

"Von dem Moment an, wo die Idee von dem Untergang des Türkischen Reiches die Gemüter nicht mehr beschäftigt, ist es nicht wahrscheinlich, daß die englische Regierung einen allgemeinen Krieg riskieren würde, um dem Sultan die Einwilligung in diese oder jene Bedingung zu ersparen, besonders bei dem Stand der Dinge zu Beginn einer nahenden Kampagne, wo alles noch unbestimmt und ungewiß sein wird. Diese Erwägungen würden uns die Annahme gestatten, daß wir keine Ursache haben, einen offenen Bruch seitens Großbritanniens zu fürchten; dieses wird sich damit begnügen, der Pforte zu raten, um Frieden zu bitten, und soweit als tunlich seine guten Dienste während der Verhandlungen zur Verfügung zu stellen, wenn solche stattfinden sollten; sollte der Sultan sich weigern oder wir auf unserem Willen bestehen, so wird England nichts weiter tun."

Wie Nesselrode von dem "guten" Aberdeen, dem Minister von 1828 und 1853, denkt, kann man am besten aus folgender Depesche des Fürsten Lieven ersehen:

"Lord Aberdeen wiederholte bei unserer Zusammenkunft die Versicherung, daß es England niemals eingefallen sei, mit Rußland Streit zu suchen; er fürchte, man verstehe in St. Petersburg die Haltung der englischen Minister nicht; er selbst sei in einer sehr heiklen Position. Die öffentliche Meinung habe immer die Tendenz, sich gegen Rußland zu erregen. Die britische Regierung könne ihr nicht unausgesetzt Trotz bieten; und es wäre gefährlich, sie gerade in solchen Fragen herauszufordern, die so eng mit den nationalen Vorurteilen verknüpft seien. Andererseits aber könne Rußland mit dem vollsten Vertrauen auf die freundlichen Gefühle des englischen Ministeriums zählen, das gegen diese Vorurteile ankämpfe."

Was uns bei der Note des Grafen Nesselrode vom 11. Juni am meisten in Erstaunen versetzt, ist nicht "die unverschämte Mischung aus Zusicherungen, die durch die Tat Lügen gestraft werden, und aus Drohungen, die sich hinter Deklamationen verstecken", sondern es ist die Art des Empfangs, die Europa zum ersten Male einer russischen diplomatischen Note zuteil werden läßt. Statt der gewohnten Bewunderung und Ehrfurcht hat dieses Mal der Westen, der über die Vergangenheit errötete, dieser unverschämten Mischung von Anmaßung, Durchtriebenheit und wahrhafter Barbarei ein verächtliches Lachen gezollt. Und doch war Nesselrodes Zirkularnote und das "Ultimatissimum" vom 16. Juni nicht um ein Haar schlimmer als die so vielbewunderten Meisterwerke des Pozzo di Borgo und des Fürsten Lieven. <169> Graf Nesselrode war damals, was er heute ist, das diplomatische Haupt Rußlands.

Es gibt eine drollige Geschichte von zwei persischen Naturforschern, die einen Bären untersuchten. Der eine, der noch niemals vorher solch ein Tier gesehen, fragte, ob es lebendige Junge würfe oder Eier lege. Der andere, der besser informiert war, erwiderte: "Dieses Tier ist zu allem fähig." Gewiß, auch der russische Bär ist zu allem fähig, besonders solange er weiß, daß die anderen Tiere, mit denen er zu tun hat, zu nichts fähig sind.

En passant <Beiläufig> möchte ich noch den bedeutenden Sieg erwähnen, den Rußland in Dänemark eben errang, wo die königliche Botschaft mit einer Majorität von 119 zu 28 Stimmen durchging. Sie folgt hier im Wortlaut:

"In Gemäßheit des § 4 des Grundgesetzes vom 5. Juni 1849 gibt das vereinigte Parlament seinerseits seine Zustimmung zu der von Seiner Majestät beabsichtigten Ordnung der Thronfolge für die ganze dänische Monarchie, übereinstimmend mit der königlichen Botschaft hinsichtlich der Erbfolge vom 4. Oktober 1852, erneuert am 13. Juni 1853."

Streiks und Koalitionen der Arbeiter entwickeln sich rapide und in einem beispiellosen Ausmaße. Ich habe jetzt Berichte vor mir liegen über die Streiks der Fabrikarbeiter aller Arten in Stockport; der Schmiede, Spinner, Weber usw. in Manchester; der Teppichweber in Kidderminster; der Bergleute aus den Ringwood-Kohlengruben in der Nähe von Bristol; der Weber in Blackburn und Darwen; der Tischler in Boston; der Bleicher, Appretierer, Färber und Maschinenstuhlweber von Bolton und Umgebung; der Weber von Barnsley; der Seidenweber von Spitalfields; der Spitzenwirker von Nottingham; aller Arten von Arbeitern des ganzen Birminghamer Distrikts und in verschiedenen anderen Orten. Jeder Posteingang bringt neue Nachrichten von Streiks. Die Arbeitseinstellungen nehmen epidemische Ausmaße an. Jeder größere Streik wie in Stockport, Liverpool etc. löst zwangsläufig eine ganze Serie kleinerer Streiks aus, da ein großer Teil der arbeitenden Menschen nur imstande ist, den Fabrikanten Widerstand zu leisten, wenn sie sich an ihre Arbeitsbrüder im Königreich um Unterstützung wenden, und da diese ihrerseits, um ihnen zu helfen, höhere Lohne fordern. Außerdem wird es gleichermaßen zu einer Sache der Ehre und des allgemeinen Interesses für jede Ortschaft, die Kämpfe der Arbeitsbrüder nicht dadurch zu isolieren, daß sie schlechteren Bedingungen nachgeben. So kommt es, daß Streiks in einer Ortschaft durch Streiks in entferntesten anderen Ortschaften ein Echo <170> finden. In einigen Fällen sind die Forderungen um höhere Löhne nur eine Begleichung längst fähiger Rechnungen mit den Fabrikanten. Das trifft auf den großen Stockport-Streik zu.

Im Januar 1848 führten die Fabrikbesitzer von Stockport bei allen Kategorien von Fabrikarbeiterlöhnen eine allgemeine Herabsetzung der Löhne von 10% durch. Dieser wurde unter der Bedingung zugestimmt, daß bei Wiederbelebung des Geschäfts die 10% wieder aufgehoben werden. Angesichts dessen erinnerten Anfang März 1853 die Arbeiter ihre Unternehmer an die versprochene Erhöhung von 10%; da sie mit ihnen kein Übereinkommen erzielen konnten, traten bis zu 30.000 Arbeiter in den Streik, In der Mehrzahl der Fälle bestanden die Fabrikarbeiter entschieden auf ihrem Recht an dem Anteil der Einnahmen, die das Land und besonders die Unternehmer infolge der Prosperität einstecken konnten.

Das wesentliche Merkmal der gegenwärtigen Streiks besteht darin, daß sie in den unteren Schichten der ungelernten Arbeiter (nicht Fabrikarbeiter) begannen, die jetzt unter dem unmittelbaren Einfluß der Emigration, deren Zusammensetzung verschiedenen Schichten der Handwerker entsprach, geschult worden waren; erst später wurden die Fabrikarbeiter der großen industriellen Zentren Großbritanniens von den Streiks erfaßt. Früher hingegen gingen die Streiks immer von den Spitzen der Fabrikarbeiter - den Mechanikern, den Spinnern usw. - aus, erfaßten dann die unteren Klassen dieses großen industriellen Ameisenhaufens und erst in letzter Instanz die Handwerker. Dieses Phänomen ist ausschließlich der Emigration zuzuschreiben.

Es gibt eine Kategorie von Philanthropen und sogar von Sozialisten, die Streiks als sehr schädlich für die Interessen des "Arbeiters selbst" erachten und die ihre Hauptaufgabe darin sehen, eine Methode zu finden, ständige Durchschnittslöhne zu sichern. Abgesehen davon, daß die Tatsache des industriellen Zyklus mit seinen verschiedenen Phasen alle solche Durchschnittslöhne unmöglich macht, bin ich ganz im Gegenteil davon überzeugt, daß das aufeinanderfolgende Steigen und Fallen der Löhne und die ständigen daraus resultierenden Konflikte zwischen Fabrikanten und Arbeitern in der gegenwärtigen Organisation der Produktion die unerläßlichen Mittel sind, den Kampfgeist der Arbeiterklasse lebendig zu halten, diese in einer einzigen großen Vereinigung gegen die Übergriffe der herrschenden Klasse zusammenzufassen und sie davon abzuhalten, zu Mitleid heischenden, gedankenlosen, mehr oder weniger gut genährten Produktionsinstrumenten zu werden. In einer Gesellschaftsordnung, die auf dem Antagonismus der Klassen beruht, müssen wir, wenn wir de Sklaverei nicht nur in Worten, sondern auch in <171> Taten verhüten wollen, den Kampf aufnehmen. Um den Wert von Streiks und Koalitionen richtig zu würdigen, dürfen wir uns nicht durch die scheinbare Bedeutungslosigkeit ihrer ökonomischen Resultate täuschen lassen, sondern müssen vor allen Dingen ihre moralischen und politischen Auswirkungen im Auge behalten. Ohne die längeren aufeinanderfolgenden Phasen von Abspannung, Prosperität, Aufschwung, Krise und Elend, welche die moderne Industrie in periodisch wiederkehrenden Zyklen durchläuft, mit dem daraus resultierenden Auf und Ab der Löhne sowie dem ständigen Kampf zwischen Fabrikanten und Arbeitern, der in genauer Übereinstimmung mit jenen Schwankungen in den Löhnen und Profiten verläuft, würde die Arbeiterklasse Großbritanniens und ganz Europas eine niedergedrückte, charakterschwache, verbrauchte, unterwürfige Masse sein, deren Emanzipation aus eigner Kraft sich als ebenso unmöglich erweisen würde wie die der Sklaven des antiken Griechenlands und Roms. Wir dürfen nicht vergessen, daß Streiks und Koalitionen unter den Leibeigenen die Brutstätten der mittelalterlichen Gemeinwesen waren und diese Gemeinwesen wiederum die Quelle des Lebens der neuen herrschenden Bourgeoisie.

Ich äußerte in einem meiner letzten Artikel, welche Bedeutung der gegenwärtige Kampf der Arbeiter für die Chartistenbewegung in England haben wird. Meine Voraussage wird jetzt bestätigt durch die Ergebnisse der ersten beiden Wochen der von dem Chartistenführer Ernest Jones wiedereröffneten Kampagne. Wie Sie wissen, sollte auf dem Berge von Blackstone Edge die erste große Versammlung im Freien abgehalten werden. Am 19. vergangenen Monats kamen die Delegierten der entsprechenden Lokalgruppen der Chartisten aus Lancashire und Yorkshire dort zusammen und konstituierten sich als Delegiertenrat. Ernest Jones' Petition für die Charte, die allen Versammlungen in den zwei Grafschaften unterbreitet werden sollte, fand einstimmige Annahme, und es wurde beschlossen, die Überreichung der Petitionen aus Lancashire und Yorkshire Herrn Apsley Pellat, Mitglied des Parlaments für Southwark, anzuvertrauen, der es übernommen hatte, alle Petitionen der Chartisten dem Parlament zu unterbreiten. Was die Massenversammlung betrifft, so glaubten auch die zuversichtlichsten Gemüter nicht an die Möglichkeit, sie durchzuführen, da ein furchtbares Wetter war; der Sturm nahm von Minute zu Minute an Heftigkeit zu, und es regnete in Strömen. Zuerst tauchten nur einige wenige verstreute Gruppen auf, die den Berg emporstiegen, aber bald kamen größere Trupps in Sicht, und von einer Anhöhe aus, die die Täler der Umgebung überragte, konnte man, so weit <172> das Auge zu blicken vermochte, durch den fürchterlichen Platzregen dünne, aber unentwegte Ströme von Menschen erkennen, die auf den Straßen und Fußpfaden der umliegenden Gegend den Berg hinaufkamen. Zu dem Zeitpunkt, an dem die Versammlung eröffnet werden sollte, hatten sich etwa 3.000 Menschen an der von einem Dorf oder Wohnsitz weit entfernten Stelle versammelt, und während der langen Reden blieben die Kundgebungsteilnehmer, ungeachtet des als Sturzflut niederkommenden Regens, unentwegt stehen.

Herrn Edward Hoosons Resolution: "Daß die sozialen Beschwerden der Arbeiterklasse in England die Folge einer Klassengesetzgebung seien und daß das einzige Heilmittel gegen eine solche Klassengesetzgebung die Annahme der Volks-Charte sei", wurde von Herrn Gammage, von der Exekutive der Chartisten, und von Herrn Ernest Jones unterstützt, aus deren Reden ich einige Auszüge zitiere:

"Die vorgeschlagene Resolution führt die Mißstimmung des Volkes auf die Klassengesetzgebung zurück. Er denke, daß kein Mensch, der den Verlauf der Ereignisse verfolgt hat, nicht mit dieser Feststellung einverstanden sein kann. Das sogenannte Unterhaus hat sich allen Sorgen des Volkes gegenüber taub gestellt, und als das Volk über sein Elend in Wehklagen ausbrach, wurde es verspottet und verhöhnt von den Männern, die sich anmaßten, die Repräsentanten der Nation zu sein; und wenn ausnahmsweise einmal die Stimme des Volkes ein Echo im Parlament fand, wurde sie immer erstickt im Geschrei der grausamen Mehrheit unserer Klassengesetzgeber." (Lauter Beifall.) "Das Unterhaus lehnte es nicht nur ab, dem Volke Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern lehnte es sogar ab, seine soziale Lage zu untersuchen. Sie alle könnten sich dessen erinnern, daß vor einiger Zeit Herr Slaney in dem Hause einen Antrag für die Ernennung eines Ständigen Ausschusses eingebracht hatte, dessen Aufgabe es sein sollte, die soziale Lage des Volkes zu untersuchen und Maßnahmen zur Abhilfe vorzuschlagen - aber das Haus war fest entschlossen, der Frage auszuweichen, so daß während der Begründung des Antrages nur sechsundzwanzig Mitglieder anwesend waren und das Haus sich vertagen mußte." (Laute Rufe: "Schande, Schande!") "Als dann der Antrag erneut gestellt wurde, hatte Herr Slaney nicht nur überhaupt keinen Erfolg, sondern es waren - soweit sich der Redner (Herr Gammage) erinnert - von 656 ehrenwerten Herren nur 13 anwesend, die in eine Diskussion der Frage hätten eintreten können. Wenn er den Versammelten sage, wie die Lage des Volkes wirklich ist, so nehme er an, daß sie mit ihm der gleichen Meinung seien, daß es mehr als genug Gründe für eine Untersuchung gibt. Ökonomen bestätigen, daß die Jahresproduktion in England 820 Millionen Pfd.St. beträgt. Angenommen, daß es im Vereinigten Königreich 5 Millionen Arbeiterfamilien gibt und daß jede dieser Familien ein Durchschnittseinkommen von 15 sh. pro Woche hat, was meines Erachtens im Vergleich zu dem, was sie tatsächlich erhalten, ein sehr hoher Durchschnitt ist" (Zurufe: "Sogar viel zu hoch!"), "- wenn wir dennoch diese 15 sh. als Durchschnittsbetrag annehmen, so stellt sich <173> heraus, daß der Arbeiter aus seiner enormen Jahresproduktion erbärmliche 195 Millionen erhält" (Rufe: "Schande!") "- und der ganze Rest in die Taschen faulenzender Gutsherren, Wucherer und in die Taschen der Kapitalistenklasse im allgemeinen geht ... Brauchen sie noch Beweise, daß diese Männer Räuber sind? Nicht jene sind die schlimmsten Diebe, die hinter Gefängnismauern sitzen; die größten und gerissensten Diebe sind jene, die mit Hilfe der von ihnen selbst gemachten Gesetze rauben; und diese großen Räubereien sind die Ursache all der kleinen Räubereien, die im ganzen Lande durchgeführt werden ..."

Herr Gammage ging dann zu einer Analyse der Zusammensetzung des Unterhauses über, wobei er nachwies, daß es unmöglich sei, daß es zwischen den Klassen, denen die Mitglieder des Unterhauses angehören, und den Klassen, die sie repräsentieren, einerseits und den Millionen arbeitenden Menschen andrerseits auch nur das geringste gegenseitige Verständnis geben könnte. Abschließend sagte der Redner: "Das Volk muß sich über seine sozialen Rechte klarwerden."

Herr Ernest Jones sagte:

"Wir erklären heute feierlich, daß die Charte Gesetz werden wird." (Lauter Beifall.) "Jetzt fordere ich euch dazu auf, euch in diese große Bewegung wieder einzureihen, weil ich weiß, daß die Zeit dafür gekommen ist, daß der Erfolg von euch abhängt und weil es mein heißes Bestreben ist, zu verhindern, daß ihr die Gelegenheit ungenutzt vorübergehen laßt. Lebhaftes Geschäft und Auswanderung haben euch eine zeitweise Stärke gegeben. und eure zukünftige Lage hängt davon ab, wie ihr es versteht, diese Stärke zu nutzen. Nutzt ihr sie nur für die Ziele der Gegenwart, so werdet ihr zusammenbrechen, wenn die gegenwärtigen Verhältnisse sich geändert haben. Aber wenn ihr sie dazu benutzt, nicht nur eure gegenwärtige Lage zu stärken, sondern eure zukünftige zu sichern, dann werdet ihr über alle eure Feinde triumphieren. Wenn lebhaftes Geschäft und Auswanderung euch Stärke geben, dann muß diese Stärke enden, wenn das lebhafte Geschäft und die Auswanderung enden, und wenn ihr euch nicht in der Zwischenzeit sichert, so werdet ihr mehr Sklave sein als je zuvor." ("Hört, Hört!") "Aber gerade die Ursache eurer heutigen Stärke wird in Kürze die Ursache eurer Schwäche sein. Die Auswanderung, die die Nachfrage nach eurer Arbeit erhöht, wird bald noch mehr die Nachfrage nach euren Arbeitsplätzen erhöhen ... Eine Geschäftsstockung wird einsetzen, und jetzt frage ich euch: Wie seid ihr darauf vorbereitet? Ihr nehmt an der großen Bewegung der Arbeiter zur Verkürzung der Arbeitszeit und für höhere Löhne teil, und ihr habt einige praktische Erfolge erreicht. Aber vergeßt nicht, daß die Unternehmer folgenden Hintergedanken haben: die Arbeiter mit kleinen Zugeständnissen vertrösten, aber ihnen keine Gesetze zugestehen. Keine Lohnbill im Parlament annehmen, sondern einige ihrer Forderungen in der Fabrik bewilligen." ("Hört!") "Der Lohnsklave wird dann sagen: Wozu brauchen wir schon eine politische Organisation für eine Zehnstundenbill oder eine Lohngesetzgebung - wir haben das uns ja selbst erkämpft ohne Parlament. Jawohl, aber könnt ihr es halten ohne Parla- <174> ment? Wer hat es euch gegeben? Das lebhafte Geschäft. Wer wird es euch nehmen? Das flaue Geschäft. Eure Unternehmer wissen das. Deshalb verkürzen sie eure Arbeitszeit oder erhöhen eure Löhne oder verzichten auf das, was sie euch abgezogen hatten in der Hoffnung, daß ihr die politischen Organisationen zur Durchführung dieser Maßnahmen aufgebt." (Beifall.) "Sie verkürzen die Arbeitszeit, weil sie sehr genau wissen, daß sie bald ihre Fabriken verkürzt arbeiten lassen müssen - sie erhöhen eure Löhne, weil sie sehr genau wissen, daß sie bald Tausenden von euch überhaupt keine Löhne mehr zahlen werden. Aber sie - besonders die Fabrikanten Mittelenglands - sagen euch auch, daß selbst, wenn die Gesetze angenommen würden, dies sie nur dazu zwingen würde, nach anderen Mitteln zu eurer Ausplünderung zu suchen - das waren die Hintergedanken ihrer Worte. Das heißt also erstens: Ihr bekommt die Gesetze nicht durch, weil ihr kein Parlament des Volkes habt. Zweitens: Wenn solche Gesetze angenommen würden, so würden die Fabrikanten - nach ihren eigenen Worten - diese Gesetze umgehen." (Laute Rufe: "Hört!") "Nun frage ich euch abermals: Wie seid ihr auf die Zukunft vorbereitet? Wie nutzt ihr die gewaltige Stärke, die ihr gegenwärtig besitzt? Ihr werdet ohnmächtig sein, wenn ihr euch nicht jetzt vorbereitet - ihr werdet alles verlieren, was ihr erreicht haben mögt: wir sind hier heute zusammengekommen, um euch zu zeigen, wie ihr das Erreichte behalten und mehr bekommen könnt. Manche Leute haben die Vorstellung, eine Chartistenorganisation würde mit der Arbeiterbewegung in Konflikt geraten. Du lieber Himmel! Die Chartistenorganisation ist gerade das Mittel, die Arbeiterbewegung zum Erfolg zu führen... Der Arbeitnehmer kann nicht ohne den Arbeitgeber auskommen, bis er sich selbst Arbeit geben kann. Der Arbeitnehmer aber kann niemals sich selbst Arbeit geben, wenn er nicht über die Arbeitsmittel - Boden, Kredit und Maschinen - verfügen kann. Er kann niemals über diese verfügen, wenn er nicht die Land-, Geld- und Handelsmonopole niederreißt, und das kann er nur dann, wenn er die Macht im Staate ausübt. Warum erstrebt ihr eine Zehnstundenbill? Wenn die politische Macht nicht nötig ist, um die Freiheit für die Arbeiter zu erlangen, warum dann überhaupt ins Parlament gehen? Warum nicht sofort in der Fabrik beginnen? Deshalb, weil ihr wißt, weil ihr fühlt, weil ihr durch alle eure Handlungen stillschweigend zugebt, daß ohne die politische Macht die soziale Befreiung nicht möglich ist." (Lauter Beifall.) "Darum also lenke ich eure Aufmerksamkeit auf die Grundlage der politischen Macht - auf das allgemeine Wahlrecht -, lenke ich eure Aufmerksamkeit auf die Charte." (Begeisterter Beifall.) "... Man könnte sagen: Warum warten wir nicht, bis die Krise kommt und sich die Millionen selbst mit uns vereinen? Weil wir keine Bewegung wollen, die aus der Erregung und der Gefahr heraus entsteht, sondern eine Bewegung, erfüllt von nüchterner Urteilskraft und moralischer Kraft. Wir wollen, daß ihr euch nicht von Erregung fortreißen, sondern von der Vernunft leiten laßt, und darum rufen wir euch heute zu: Organisiert euch von neuem, damit ihr den Sturm meistert und nicht sein Spielball werdet. Abermals wird die Handelskrise mit der Revolution auf dem Kontinent Hand in Hand gehen, und wir müssen ein helles Feuer des Chartismus entzünden, dessen Flamme uns durch das Chaos des Aufruhrs leuchte. Heute inaugurieren wir aufs Neue unsere Bewegung, und um ihre offizielle Anerkennung durchzusetzen, wählen wir den Weg durchs Parlament; nicht weil wir die Annahme <175> der Petition erwarten -, wir benutzen es nur als das geeignetste Sprachrohr, um der Welt unsere Auferstehung zu verkünden. Jawohl, eben die Männer, die unseren Tod verkündeten, sollen jetzt das unerwünschte Vergnügen haben, der Welt unsere Auferstehung zu verkünden, und unsere Petition ist nur die Geburtsurkunde, die der Welt unsere zweite Geburt anzeigt." (Laute Beifallsrufe.)

Herrn Hoosons Resolution und die Petition an das Parlament wurden auf dieser Versammlung, wie auch auf den im Verlauf der Woche folgenden Versammlungen, durch begeisterte Zurufe angenommen.

Ernest Jones hatte auf der Versammlung von Blackstone Edge den Tod von Benjamin Ruston bekanntgegeben, eines Arbeiters, der sieben Jahre vorher an gleicher Stelle einem Chartistenmeeting präsidiert hatte. Er schlug vor, daß sein Begräbnis zu einer großen politischen Demonstration gemacht und mit der Versammlung von West Riding für die Annahme der Charte verbunden werde als eine Totenehrung, würdig des dahingeschiedenen Vorkämpfers der Sache der Arbeiter. Niemals zuvor hat es in den Annalen der britischen Demokratie eine solche Demonstration gegeben, wie die anläßlich der Auferstehung des Chartismus in West Riding und der Beerdigung von Benjamin Ruston in der vergangenen Woche; mehr als 200.000 Menschen waren in Halifax versammelt, eine Zahl, die sogar in den erregtesten Zeiten nicht erreicht worden ist. Allen, die nichts anderes von der englischen Gesellschaft kennen als ihre trostlose apoplektische Oberfläche, sollte man empfehlen, an diesen Arbeitermeetings teilzunehmen und in jene Tiefen zu blicken, wo die Totengräber der englischen Gesellschaft am Werke sind.

Die Koalition hat das Vorgefecht in der indischen Frage gewonnen: Lord Stanleys Antrag auf Aufschub der Gesetzgebung wurde mit einer Mehrheit von 184 Stimmen abgelehnt. Dringende Angelegenheiten zwingen mich, meine Bemerkungen zu dieser Abstimmung aufzuschieben.

Karl Marx