Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 330-340
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx

[Die Westmächte und die Türkei -
Symptome einer Wirtschaftskrise]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3892 vom 7. Oktober 1853]

<330> London, Freitag, 23. September 1853

Der "Globe" bestreitet in seiner Ausgabe vom 20. September die Echtheit des Berichtes aus dem "Journal des Débats" über die Mission des Herrn Reeve und die "Times" vom Mittwoch druckt den Artikel aus dem "Globe" unter der Überschrift "Gobemoucherie" <Zeitungsenten> ab, womit sie die französische Presse beschuldigt, mit Zeitungsenten ein Geschäft zu machen. Aber hat nicht der Leitartikel der "Times", den ich in meinem letzten Artikel beleuchtete, voll und ganz den Bericht des "Journal des Débats" bestätigt? Ist im Pariser "Moniteur" irgendein Dementi erschienen? Hat nicht am gleichen Tage, an dem der "Globe" die "Débats" der Lüge überführte, die "Assemblée nationale" erneut zum Ausdruck gebracht, daß

"Lord Redcliffe den Sultan davon in Kenntnis setzen sollte, daß die englische Flotte in die Dardanellen einlaufen und die französische Flotte nicht lange auf sich warten lassen würde, falls er sich weigerte, seine Modifikationen zurückzuziehen"?

Hat nicht die "Times" am gleichen Tage, an dem sie das Dementi aus dem "Globe" wiedergab, ausdrücklich erklärt, daß

"England und Frankreich nicht das Recht hätten, sich zwischen Rußland und der Türkei ins Mittel zu legen, es sei denn unter den von den vier verbündeten Mächten vorgeschlagenen und von Rußland angenommenen Bedingungen, ob nun diese Bedingungen der hochmütigen Gesinnung der Türkei zusagten oder nicht"?

Hieß es nicht in der "Morning Post", noch bevor das "Journal des Débats" in London angekommen war, daß

<331> "sich beim Erhalt der Antwort des Kaisers von Rußland auf den Vorschlag über die Modifikationen der Wiener Note, die Konferenz der Vertreter der Großmächte sofort versammelt hätte und am 4. d.M. einen Kurier nach Konstantinopel mit gewissen Mitteilungen der Konferenz an den Diwan entsandte, von denen man hoffte, daß sie die Pforte zur Annahme der Wiener Note bewegen würden"?

Schließlich lesen wir in einer heutigen Morgenzeitung, daß

"Herr Reeve nach Konstantinopel geht, daß er der Überbringer von Botschaften Lord Clarendons an Lord Stratford de Redcliffe ist und daß zwischen ihm und dem Außenministerium engste Beziehungen bestehen, da er der Verbindungsmann zwischen Downing Street und Printing House Square gewesen ist".

Tatsache ist, daß die orientalische Frage seit den letzten Enthüllungen durch die französische Presse wieder einen völlig neuen Aspekt angenommen hat und daß die schmählichen Beschlüsse des englischen Ministeriums wahrscheinlich von Ereignissen vereitelt werden, die im Gegensatz zu all seinen Berechnungen und Erwartungen stehen.

Österreich hat sich von dem gemeinsamen Vorgehen mit seinen angeblichen Verbündeten losgesagt. Die Wiener Konferenz ist - wenigstens im Augenblick - abgebrochen worden. Rußland hat die Maske fallenlassen, die ihm hinfort nutzlos erscheint, und das englische Ministerium ist aus seinen letzten Verschanzungen getrieben worden.

"Lord Aberdeen empfahl", wie der "Liverpool Courier" richtig bemerkt, "daß der Sultan Zuflucht zu einem durchsichtigen und gemeinen Betrug nehmen sollte; daß die Teilnehmer der Wiener Konferenz hinsichtlich der Note sich geistige Zurückhaltung auferlegen sollten und daß der Sultan sie im übertragenen Sinne auslegen sollte, d.h., da die Bedingungen der Note klar und präzise sind und der Kaiser von Rußland es rundweg abgelehnt hat, die Modifikationen des Sultans anzunehmen, sollten sich die Mächte darauf einstellen, von nun an so zu handeln, als ob jene Modifikationen angenommen worden wären."

Herr Drouyn de Lhuys schlug der Wiener Konferenz eine erläuternde Note vor, die in demselben heuchlerischen Ton abgefaßt war und die der Pforte übermittelt werden sollte; aber Graf Buol lehnte diesen Vorschlag ab und erklärte, daß er "der Pforte gegenüber zu freundlich sei, daß die Zeit für ein gemeinsames Vorgehen vorüber sei und daß es jeder Macht freistehe zu handeln, wie es ihr beliebe". Auf diese Weise hat das englische Ministerium nicht mehr die Möglichkeit, sich hinter den gemeinsamen Beschlüssen des europäischen Areopags <höchstes Gericht> zu verstecken, dieser Aktiengesellschaft, die auf ein <332> Wort des österreichischen Ministers hin genauso verschwindet, wie sie von ihm hervorgezaubert wurde. Anfangs - solange die russischen Truppen nicht den Pruth überquert hatten - wollte Österreich überhaupt keine Konferenz. Jetzt, da die Russen zur Donau vorgedrungen sind, will Osterreich die Konferenz auch nicht mehr, wenigstens nicht mehr unter den ursprünglichen Bedingungen. Andererseits hat Graf Nesselrode zwei Zirkularnoten veröffentlicht, die nicht länger zulassen, daß die ursprüngliche Wiener Note durch verborgene "gute Absichten" gestützt oder daß sie in einem anderen als dem wörtlichen Sinne ausgelegt wird.

Die von der Pforte vorgeschlagenen Modifikationen haben die ganze Frage zu "einem bloßen Streit um Worte" gemacht, trompetete die gesamte ministerielle Presse.

Keineswegs, sagt Nesselrode. Der Zar legt den ursprünglichen Text ebenso aus wie der Sultan. Die ursprüngliche Note ist nichts anderes und sollte auch nie etwas anderes sein als eine zweite Auflage der Menschikowschen Note, und wir halten uns an den Text, an den ganzen Text, und an nichts anderes als an den Text. Der ministerielle "Globe" ist natürlich über die Entdeckung erstaunt, daß sowohl der Zar als auch der Sultan die ursprüngliche Note so betrachten, "daß sie die Anerkennung jener Forderungen beinhaltet, die Rußland vorgebracht, die die Türkei abgelehnt hatte und die die vier Mächte nicht (?) zu unterstützen beabsichtigten", und daß "Rußland auf der absoluten Anerkennung der Forderungen besteht, die es zuerst erhoben hatte". Und weshalb sollte es auch nicht? Wenn es kühn genug war, jene Ansprüche vor vier Monaten zu stellen, warum sollte es jetzt davon Abstand nehmen, nachdem es den ersten Feldzug gewonnen hatte?

Der gleiche "Globe", der vor einigen Tagen behauptete, daß die türkischen Abänderungsvorschläge scholastische Spitzfindigkeiten, überflüssige Haarspaltereien seien, ist jetzt gezwungen zuzugeben, daß "die russische Auslegung zeigt, daß sie notwendig waren".

Die erste Depesche von Nesselrode ist noch nicht veröffentlicht, aber die "Morning Post" versichert uns, daß darin gesagt wird, "die Wiener Note sei nicht mehr und nicht weniger als das Äquivalent der Note des Fürsten Menschikow", und der "Evening Globe" fügt hinzu, daß demzufolge

"der Kaiser die Wiener Note so auffaßt, daß sie ihm die Anerkennung seiner Forderungen gegenüber der Türkei und den Einfluß auf die türkische Regierung sichert, den die Pforte ihm, gestützt auf die vier Mächte, verweigert hatte und den zu verhindern das Ziel der Verhandlung war, und daß der Kaiser niemals aufgehört hat, sich das Recht vorzubehalten, unmittelbar mit der Türkei allein zu verhandeln und die Vermittler beiseite zu schieben, die anzuerkennen er vorgibt".

<335> Niemals - auch nicht zum Schein - hat der russische Kaiser sie als Vermittler anerkannt. Er gestattete dreien von ihnen, im Nachtrab Österreichs zu marschieren, während er Österreich selbst erlaubte, als demütiger Bittsteller zu ihm zu kommen.

Was die zweite Depesche aus St. Petersburg vom 7. September betrifft, die die Berliner "Zeit" am 18. September veröffentlichte und die an Freiherrn von Meyendorf in Wien gerichtet war, so hatte Nesselrode völlig recht, wenn er darin ausführte, daß ihm die ursprüngliche Note vom österreichischen Gesandten als ein "Ultimatum" geschildert wurde, welchem zuzustimmen sich Rußland unter der ausdrücklichen Bedingung verpflichtete, daß es von der Pforte ohne die geringste Änderung angenommen würde. "Dieses Zeugnis wird niemand sich weigern, der Loyalität des Kaisers zu geben"? Gewiß hat er ein kleines "Piratenstück" an den Donaufürstentümern begangen: hat sie überwältigt, besetzt, besteuert, regiert, ausgeplündert, sich angeeignet, sie verschlungen trotz Erklärungen Gortschakows. Aber wenn schon! Gab er nicht andrerseits

"beim Empfang des ersten Notenentwurfes seine Zustimmung durch den Telegraphen, ehe wir noch wußten, ob derselbe in London und in Paris genehmigt werden würde"?

Konnte man von ihm mehr erwarten, als telegraphisch zu bestätigen, daß eine von einem russischen Minister in Wien diktierte Note nicht von einem russischen Minister in St. Petersburg abgelehnt werden würde? Konnte er mehr für Paris und London tun, als nicht einmal ihre Zustimmung abzuwarten? Aber er tat doch mehr. Der Entwurf, dessen Annahme telegraphisch zu bestätigen er sich herabließ, wurde in Paris und London "abgeändert", und "nahm er seine Zustimmung zurück oder machte er die geringsten Schwierigkeiten"? Die Note ist zwar seiner eigenen Erklärung nach in ihrer "endgültigen Form nicht mehr und nicht weniger als ein Äquivalent der Note Fürst Menschikows", aber eine äquivalente Note ist auf alle Fälle "anders" als die ursprüngliche; und hatte er "sich nicht die Annahme der Menschikowschen Note ohne jede Veränderungen ausbedungen"? Hatte er nicht "schon allein aus diesem Grunde verweigern können, die neue Note zu erörtern"? Auch das tat er nicht. "Konnte man eine versöhnlichere Gesinnung zeigen?" Das Ultimatum der Wiener Konferenz geht ihn nichts an; das ist ihre eigene Angelegenheit. "Es ist ihre Sache, die Verzögerungen zu erwägen, die davon die Folge sein werden", daß der Sultan nicht nachgibt. Ihm, seinerseits, macht es nichts aus, noch einige Monate länger in den Donaufürstentümern zu bleiben, wo seine Truppen umsonst gekleidet und verpflegt werden.

<336> Odessa nimmt keinen Schaden daran, daß die Donaumündung gesperrt ist; und wenn die Besetzung der Donaufürstentümer dazu beiträgt, den Weizenpreis in Mark Lane in die Höhe zu treiben, so werden die profanen Imperiale <russische Goldmünze im Wert von 10 Silberrubeln> um so schneller ihren Weg in das heilige Rußland zurückfinden. Österreich und die Mächte müssen daher

"der Pforte offen und fest erklären, daß sie fortan die Aufgabe ihr allein überlassen, nachdem sie ihr umsonst den einzigen Weg eröffnet haben, der zur unmittelbaren Herstellung ihrer Beziehungen mit uns führen konnte".

Österreich und die Mächte haben genug für den Sultan getan, indem sie dem Zaren den Weg zur Donau geebnet und dem vereinigten Geschwader den Weg ins Schwarze Meer versperrt haben. Nesselrodes "erlauchter Gebieter" brandmarkt jetzt "die kriegerischen Inspirationen, welche zu dieser Stunde den Sultan und die Mehrzahl seiner Minister zu beherrschen scheinen". Er, seinerseits, würde es gewiß lieber sehen, wenn der Sultan es gelassen hinnähme, wenn er Kanonenbooten mit Friedenstraktaten und Kosaken mit Komplimenten begegnete. "Er hat das Maß der Zugeständnisse erschöpft, ohne daß die Pforte bis jetzt ein einziges gemacht hätte. Weiter kann Seine Majestät nicht gehen." Gewiß nicht, weiter kann er nicht gehen, ohne die Donau zu überschreiten. Nesselrode drängt seine ganze Argumentation auf ein geradezu meisterhaftes Dilemma zusammen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Entweder die von der Pforte verlangten Abänderungen sind unerheblich, oder sie sind wichtig. Wenn sie unerheblich sind, warum sollte dann die Pforte darauf bestehen? Sind sie wichtig, "dann ist es sehr einfach, daß wir uns weigern, denselben zuzustimmen."

"Die Räumung der Donaufürstentümer", sagt Lord Clarendon, "ist eine sine qua non, eine Vorbedingung jeglicher Beilegung." Ganz im Gegenteil, erwidert Nesselrode. "Die Beilegung", d.h. die Ankunft des türkischen Gesandten, der die österreichische Note ohne Abänderungen überbringt, "ist eine sine qua non, die der Räumung der Donaufürstentümer vorausgehen muß."

Mit einem Wort, der großmütige Zar ist bereit, sich von dem Humbug der Wiener Konferenz zu trennen, da er ihn nicht länger benötigt, um seinen ersten Feldzug zu beenden; aber um so fester wird er die Donaufürstentümer halten, da sie die unerläßliche Bedingung für den Beginn des zweiten Feldzugs sind.

<337> Wenn es stimmt, daß - wie wir heute durch telegraphische Depesche erfahren - die Konferenz ihre Arbeit wieder aufgenommen hat, werden die Mächte Nikolaus das Lied wieder vorsingen, mit dem Alexander von der Pariser Menge empfangen wurde:

Vive Alexandre,
Vive le roi des rois,
Sans rien prétendre
Il nous donne des lois.

<Alexander, hoch in Ehren!
Er der andere Fürsten lenkt,
läßt uns anstandslos gewähren,
gnädig uns Gesetze schenkt
>

Der Zar hat jedoch nicht mehr wie früher die Kontrolle über die Orientwirren. Der Sultan ist gezwungen worden, den alten fanatischen Geist heraufzubeschwören, eine neue Invasion Europas durch die wilden Kriegerstämme Asiens zu veranlassen, sich nicht durch diplomatische Noten und konventionelle Lügen besänftigen zu lassen, und es scheint - selbst durch die anmaßende Note des Moskowiters - so etwas wie Furcht vor den "kriegerischen Inspirationen" durchzuschimmern, die Stambul beherrschen. Das vom Sultan an die Muselmanen gerichtete Manifest verweigert Rußland jedes weitere Zugeständnis, und es heißt, eine Abordnung der Ulemas habe den Sultan ersucht, abzudanken oder unverzüglich den Krieg zu erklären. Die Uneinigkeit im Diwan ist sehr groß, und der friedfertige Einfluß Reschid Paschas und Mustafa Paschas weicht dem Einfluß des Seraskiers <Kriegsministers> Mechmed Ali.

Die Verblendung der sogenannten radikalen Londoner Presse ist nicht zu glauben. Nachdem es vor einigen Tagen hieß, daß "die volle Strenge der Gesetze Englands gegen die vier verräterischen Personen angewandt werden (gegen Aberdeen, Clarendon, Palmerston und Russell)", schließt der "Morning Advertiser" von gestern einen seiner Leitartikel wie folgt:

"Lord Aberdeen muß daher einem Nachfolger Platz machen. Ist es noch nötig, zu sagen wer der Nachfolger sein muß? Es kommt nur einer in Frage, den das Land in dieser entscheidenden Situation für fähig hält, das Staatsruder in die Hand zu nehmen. Das ist Lord Palmerston."

Wenn der "Morning Advertiser" schon nicht in der Lage ist, in Tatsachen und Ereignissen zu lesen, so sollte er wenigstens in der Lage sein, die Artikel von Herrn Urquhart zu lesen, die Tag für Tag in seinen eigenen Spalten veröffentlicht werden!

Am Dienstag abend wurde in Sheffield auf Grund einer Eingabe an den Bürgermeister eine Versammlung der Einwohner einberufen, "um den gegen- <338> wärtig ungeklärten und nicht zufriedenstellenden Stand der orientalischen Frage zu erörtern und zu erwägen, ob es tunlich sei, der Regierung eine entsprechende Denkschrift zu überreichen". Eine ähnliche Versammlung soll in Stafford abgehalten werden, und viele andere Versuche sind im Gange, um öffentliche Kundgebungen gegen Rußland und das Ministerium "aller Talente" auf die Beine zu bringen. Aber im allgemeinen ist die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Diskontorate, die Getreidepreise, Streiks und kommerzielle Unsicherheit in Anspruch genommen, und noch mehr durch die Cholera, die in Newcastle wütet und der vom Department der öffentlichen Gesundheitspflege in London nur mit Erklärungen begegnet wird. Eine Kabinettsorder ist erlassen worden, die für die nächsten sechs Monate die im Epidemiegesetz vorgesehenen Maßnahmen im gesamten Inselreich in Kraft setzt; in London und anderen Großstädten werden in aller Eile Vorbereitungen getroffen, um dieser Geißel entgegenzuwirken. Wenn ich die Ansichten des Herrn Urquhart teilte, so würde ich sagen, der Zar habe die Cholera in "geheimer Mission" nach England geschickt, um den letzten Rest des sogenannten angelsächsischen Geistes zu zerstören.

Eine erstaunliche Veränderung ist während der vergangenen vier Wochen in den Industriegebieten vor sich gegangen. Im Juli und Anfang August sah man nichts weiter als strahlenden Wohlstand, der von der fernen Wolke der "orientalischen Frage" nur leicht und vielleicht noch etwas mehr von der Befürchtung überschattet wurde, daß ein Mangel an Arbeitskräften unsere Baumwoll-Lords daran hindern könnte, jene immense Goldgrube profitbringenden Geschäfts, die vor ihnen lag, bis aufs letzte auszubeuten. Der Streit im Orient schien beigelegt zu sein, die Ernte könnte sich sicherlich als etwas kärglich erweisen, aber es gab ja den Freihandel, um die Preise mit den niemals versagenden Lieferungen aus Amerika, vom Schwarzen Meer und von der Ostsee niedrig zu halten. Tagtäglich stieg die Nachfrage nach Industrieerzeugnissen. Kalifornien und Australien schütteten ihre goldenen Schätze in den Schoß der britischen Industrie. Die "Times", Malthus und all ihre eigenen früheren Rhapsodien über die Übervölkerung vergessend, erörterte ernstlich die Frage, ob nicht der Mangel an Arbeitskräften und die sich daraus ergebenden höheren Löhne diesem blühenden Handel durch eine dementsprechende Steigerung der Produktionskosten der britischen Industrieerzeugnisse ein Ende setzen würde, falls nicht der Kontinent Scharen von Arbeitern lieferte. Die Fabrikanten meinten, den arbeitenden Klassen ginge es nur zu gut, so gut, daß ihre Forderungen keine Grenzen kannten und ihre "Unverschämtheit" Tag für Tag unerträglicher werde. Aber das allein war ja ein Beweis für den ungeheuren, beispiellosen Wohlstand, dessen sich das Land <339> erfreute; und was sonst konnte die Ursache für diesen Wohlstand sein als der Freihandel! Viel wichtiger jedoch war die Gewißheit, daß der ungemein schwunghafte Handel durch und durch gesund war, daß es keine Lagerbestände, keine wilde Spekulation gab. In diesem Sinne pflegten sich die Fabrikanten unisono zu äußern, und sie handelten nach diesen Ansichten: sie bauten Fabriken zu Hunderten, sie gaben Dampfmaschinen mit Tausenden von Pferdestärken in Auftrag, mechanische Webstühle zu Tausenden, Spindeln zu Hunderttausenden. Noch nie war die Ingenieurkunst und der Maschinenbau ein einträglicheres Geschäft als 1853. Firmen, die 1851 durch den großen Streik in ihrem gesamten inneren Aufbau zusammengebrochen waren, erlangten jetzt wieder ihre alte Stellung und verbesserten sie sogar; und ich könnte mehr als eine erstklassige und berühmte Maschinenbaufirma nennen, die ohne dieses noch nicht dagewesene Geschäft unter dem Schlag zusammengebrochen wäre, den ihr die Maschinenbauer während des letzten großen Streiks versetzten.

Es ist eine Tatsache, daß augenblicklich der strahlende Sonnenschein des Wohlstands durch dunkle Wolken verdeckt wird. Zweifellos hat die veränderte Lage in der Auseinandersetzung über die orientalische Frage eine ganze Menge dazu beigetragen; aber das berührt den Binnenhandel sowie den Handel mit Amerika und den Kolonien nur sehr wenig. Das Steigen der Diskontorate ist weniger eine Ursache als vielmehr ein Symptom dafür, daß "etwas faul im Staate Dänemark" ist. Der geringe Ertrag der Ernte und das Steigen der Lebensmittelpreise sind zweifellos Ursachen, die der Nachfrage nach Industrieerzeugnissen auf jenen Märkten, die der Auswirkung dieser Ursachen preisgegeben sind, entgegengewirkt haben und entgegenwirken werden, und von ihnen steht der Binnenmarkt, diese Hauptstütze der britischen Industrie, an erster Stelle. Allerdings wird gegenwärtig das Steigen der Lebensmittelpreise in den meisten Gebieten Englands und Schottlands beinahe ganz oder schon völlig durch die Erhöhung der Löhne ausgeglichen, so daß schwerlich gesagt werden kann, die Kaufkraft des Verbrauchers habe bereits merklich nachgelassen. Außerdem hat die Erhöhung der Löhne die Produktionskosten in jenen Industriezweigen erhöht, in denen die Handarbeit überwiegt; aber der Preis fast aller Industrieerzeugnisse war bis zum August auf Grund der großen Nachfrage ein gut Teil höher geschraubt worden, als es der Steigerung der Produktionskosten entsprochen hätte. Alle diese Gründe haben zusammengewirkt, um den Geschäftsgang zu verlangsamen; aber in letzter Instanz reichen sie nicht dazu aus, die allgemeine Besorgnis zu begründen, von der die Fabrikanten und Geschäftsleute der Industriegebiete erfüllt sind.

<340> Fest steht, daß der trügerische Zauber des Freihandels dahinschwindet, und den kühnen industriellen Abenteurern dämmert es allmählich, daß ökonomische Erschütterungen, Geschäftskrisen und erneutes Auftreten von Überproduktion in einem Land des Freihandels doch nicht ganz so unmöglich sind, wie sie es sich erträumt hatten. Und Überproduktion hat es gegeben, gibt es und muß es geben, denn es gibt sogar jene Schreckgespenste des "Manchester Guardian", die "Lagerbestände", und sie nehmen auch noch zu. Die Nachfrage nach Waren hat entschieden nachgelassen, während der Vorrat täglich anwächst. Die größten neuerrichteten Fabriken, in denen die meisten Arbeiter beschäftigt sind, kommen erst jetzt allmählich in Betrieb. Der Mangel an Arbeitskräften, die Streiks im Baugewerbe, die Unmöglichkeit, die riesigen Mengen in Auftrag gegebener Maschinen zu liefern -, das alles hat manch eine unvorhergesehene Verzögerung bewirkt und zeitweilig den Ausbruch jener Symptome industriellen Überangebots hinausgeschoben, die sich sonst schon früher gezeigt hätten. So konnte die größte Fabrik der Welt, die von Herrn T. Salt, in der Nähe von Bradford, erst in dieser Woche mit der Arbeit beginnen, und es wird noch eine Weile dauern, ehe sich ihre ganze Produktionskapazität voll und ganz auf dem Markt auswirkt. Auf diese Weise werden viele der größeren neuen Unternehmen in Lancashire nicht in der Lage sein, noch vor dem Winter die Arbeit aufzunehmen, während es Frühling oder vielleicht auch noch später werden wird, ehe auf dem Markt die volle Auswirkung dieser neuen und riesigen Zunahme der Produktivkräfte zu spüren sein wird. Den letzten Nachrichten aus Melbourne und Sydney zufolge sind die Importmärkte sehr viel träger geworden, und viele Warensendungen wird man jetzt auf unbestimmte Zeit aufschieben müssen. Von der hemmungslosen Spekulation werden wir nach und nach hören, wenn die Bilanz gezogen wird. Die Spekulation erstreckt sich auf derartig viele Waren, daß sie diesmal weniger zutage tritt als früher, obgleich sie in großem Maße betrieben wird.

Karl Marx