Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 436-441
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Friedrich Engels

Bewegungen der Armeen in der Türkei

Geschrieben etwa 21. Oktober 1853.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3919 vom 8. November 1853, Leitartikel]

<436> Auf dem Kriegsschauplatz in der Türkei fanden kürzlich mehrere bedeutende militärische Bewegungen statt, die noch klarer die Positionen und Pläne der betreffenden Parteien offenbaren. Die Russen - denen wir uns zuerst zuwenden, weil sie die angreifende Partei und deswegen als diejenigen anzusehen sind, die die Initiative ergreifen - dehnten ihre Operationslinie weiter nach Westen aus. Eine Brigade nach der andern wurde in Richtung auf Widdin an der oberen Donau in Marsch gesetzt; und jetzt kann man sagen, daß sich die Front der russischen Armee von Kalafat gegenüber Widdin bis nach Orasch gegenüber von Hirsowa in einer Richtung erstreckt, welche gleichermaßen die Straße nach Konstantinopel und die nach Serbien und Mazedonien bedroht. Die erste Bewegung auf Kalafat genügte, um mit Sicherheit einen russischen Ablenkungsangriff in Richtung auf die Zentren der slawischen und griechischen Bevölkerung in der Türkei erkennen zu lassen. Gleichzeitig ist es dadurch wahrscheinlich geworden, daß der Feldzugsplan auf der direkten Straße nach Konstantinopel Defensivaktionen und bloße Demonstrationen, aber auf der Straße nach Sofia, in Serbien und Mazedonien, energische Offensivaktionen vorsieht. Als jedoch diese Bewegungen vorgenommen wurden, hatten die Türken noch nicht den Krieg erklärt. Das ist inzwischen eingetreten und scheint den Zaren derartig in Zorn versetzt zu haben, daß er wahrscheinlich seinen Truppen einen weitaus energischeren Impuls verleihen wird, als vorher zu erwarten war. Es wurde nicht nur Fürst Paskewitsch zum Befehlshaber der russischen Truppen ernannt, sondern es heißt auch, daß er 40.000 Mann von der Armee aus Polen mitbringe, welche neben der Garde und den Grenadieren als die beste Truppe in russischem Sold gilt. Solche Verstärkungen würden eine Überlegenheit der russischen Waffen her- <437> stellen, die offensive Operationen sowohl an der oberen wie auch an der unteren Donau rechtfertigen würde, während sie gleichzeitig als ein Gegengewicht gegen französische und britische Truppen anzusehen wären, die, Gerüchten zufolge, möglicherweise zur Unterstützung der Türkei entsandt werden sollen. Auf jeden Fall können diese russischen Verstärkungen nicht mehr rechtzeitig an der Donau ankommen, um noch in diesem Jahre Operationen durchzuführen. Von Warschau bis Bukarest über Dubno, Chotin und Jassy beträgt die Entfernung etwa 800 Meilen und führt durch eine Gegend, in der eine Armee nicht mehr als acht bis zehn Meilen pro Tag vorwärtskommen kann. Es wurde also drei Monate oder bis Anfang Januar dauern, ehe diese frischen Truppen ihre Positionen einnehmen könnten; und wenn wir die Jahreszeit berücksichtigen, dann ist es sogar wahrscheinlich, daß sie noch länger brauchen werden. Diese Truppen müssen daher bis zum Beginn der Frühjahrskampagne völlig im Hintergrund bleiben.

Die russischen Truppen, die sich bis jetzt in den Fürstentümern befinden, wurden auf 130.000 bis 150.000 Mann geschätzt. Angenommen, sie haben durch Krankheit und Desertion 20.000 bis 30.000 Mann verloren, so haben sie immer noch eine zahlenmäßige Überlegenheit gegenüber den Türken. Denn wenn wir über die wirkliche Stärke der russischen Truppen auch nicht viel mehr wissen als das, was aus der Anzahl der Divisionen und Brigaden, die in die Türkei einmarschiert sind, und der effektiven Stärke, welche sie haben sollen, entnommen werden kann, so ist uns die Anzahl der türkischen Truppen an der Donau aus den Berichten der britischen, französischen und piemontesischen Offiziere, die von ihren betreffenden Regierungen nach dort entsandt wurden, sehr gut bekannt. Alle diese Berichte stimmen darin überein, daß selbst nach Ankunft des ägyptischen Kontingents die aktive türkische Armee unter Omer Pascha nicht mehr als 110.000 Kombattanten und davon nur 80.000 reguläre Soldaten zählte. In ihrem Rücken wurde eine Reservearmee bei Adrianopel aufgestellt, welche aus 80.000 Redifs (gedienten, wiedereinberufenen Soldaten) bestehen soll, doch über den Zustand dieser Reserve besitzen wir keine genauen Informationen. Es ist daher Tatsache, daß an dem Tage, an dem der erste Schuß fallen wird, die von Omer Pascha befehligte Armee zahlenmäßig schwächer als die seines Gegners sein wird und daß nur grobe Fehler seitens seines Gegners oder ausgezeichnete Feldherrnkunst seinerseits ihn vor einer Niederlage bewahren werden.

Wir sind ebenso gut über die Position und die Verteidigungsvorbereitungen der Türken informiert. Drei Linien sind befestigt worden: als erste die Donau, um zu verhindern, daß sie der Feind überquert; zweitens die Linie von Varna bis Schumla; drittens jene, wenige Meilen hinter der zweiten am <438> Fluß Kamtschyk, wo sich das Fort befindet, welches die Balkanpässe sichert. Diese Befestigungen bezeichnen die ausländischen Offiziere als unüberwindlich und ausreichend, um jede feindliche Erstürmung zu vereiteln. Doch bei allem Respekt vor der bedeutsamen Kunst der Feldbefestigung und vor dem Urteil der Offiziere, die diesen Bericht geben, erlauben wir uns zu bemerken, daß derartige Meinungen mit der größten Vorsicht aufzunehmen sind. Wie viele Feldwerke gab es, die man für uneinnehmbar hielt und die nach wenigen Kartätschenschüssen beim ersten Ansturm genommen wurden, und wer weiß nicht, daß die berühmteste befestigte Stellung, die je errichtet wurde, die Linie von Torres Vedras, nicht durch ihre passive Widerstandskraft stark war, sondern weil Wellington zu ihrer Verteidigung 100.000 Mann hatte, während Masséna nur 30.000 Mann für den Angriff aufbringen konnte! Einzelne, detachierte Feldschanzen, z.B. in Bergpässen, haben oft gute Dienste geleistet, doch in der Neuzeit ist noch nie eine überlegene Armee, welche von einem fähigen General kommandiert wird, infolge der passiven Widerstandskraft, die Feldschanzen boten, in einer gewöhnlichen Aktion geschlagen worden. Ferner ist die Art und Weise, wie Feldbefestigungen verteidigt werden, von ausschlaggebender Bedeutung; doch wenig disziplinierte Truppen oder disziplinlose Soldaten sind hinter einer Brustwehr von geringem Nutzen, wenn ein Hagel von Kartätschen sie überschüttet.

Doch laßt uns auf die drei von den Türken befestigten Verteidigungslinien einen Blick werfen. Die erste ist die Donau. Allerdings kann die Befestigung der Donaulinie nur bedeuten, daß solche Werke errichtet werden, die einen Flußübergang durch die Russen verhindern. Die Donau ist von Orsova bis zur Mündung etwa 600 Meilen lang; um eine solche Linie wirksam zu befestigen und die Befestigungen mit Truppen zu besetzen, braucht man sechsmal soviel Soldaten, wie unter dem Kommando des türkischen Generals stehen; und falls er sie hätte, würde er den größten Fehler begehen, wenn er sie dafür verwendete. Wir schließen daraus, daß sich diese erste Befestigungslinie auf Werke zwischen Rustschuk und Hirsowa beschränken muß, durch welche der Flußübergang zwar behindert, aber nicht wirksam verhindert werden kann.

Die zweite Stellung - von Schumla bis Varna - ist genau die gleiche, in der die Türken 1829 aufs Haupt geschlagen wurden und in der sie bestimmt erneut vernichtend geschlagen werden können, falls sie dort eine entscheidende Schlacht annehmen sollten. Die Stellung scheint hervorragende Verteidigungseigenschaften zu besitzen und könnte künstlich noch verstärkt werden. Die Stellung am Kamtschyk, im Rücken von Varna und Schumla, <439> scheint noch stärker zu sein und hat außerdem den Vorteil, daß sie den Feind dazu zwingt, Truppen für die Einschließung dieser Festungen zurückzulassen. Doch haben beide den Nachteil, daß sie hinter sich als einzigen Rückzugsweg einen engen Paß haben, wodurch für eine schwächere Armee alle anderen Vorteile aufgehoben werden und es einen unerhörten Fehler darstellen wurde, eine Schlacht anzunehmen, es sei denn, die schwächere Armee wäre dessen so gewiß, wie die Briten bei Waterloo, daß im entscheidenden Augenblick eine verbündete Armee dem angreifenden Feind in die Flanke fallen würde.

Wir haben keine Möglichkeit, zu beurteilen, welchen Gebrauch Omer Pascha von diesen Befestigungen machen wird. Zweifellos weiß er sehr genau, daß seine Rolle im Krieg im wesentlichen eine defensive sein wird; und er ist daher völlig im Recht, wenn er seine Verteidigungsposition mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln der Befestigungskunst verstärkt. Wir wissen nicht, ob er beabsichtigt, mit diesen Befestigungen die Russen davon abzuschrecken, die Donau an jenen Punkten zu überschreiten, von wo aus Konstantinopel am unmittelbarsten bedroht ist, oder ob er bereit ist, hier eine Entscheidungsschlacht anzunehmen. Man sagt, er habe seine Armee dergestalt aufgestellt, daß er vorbereitet ist, über die Spitze der Hauptmacht der Russen, wo immer sie auch die Donau in Richtung auf Schumla überschreiten sollten, herzufallen und sie zu schlagen, ehe für sie Unterstützung herangeholt werden kann. In diesem Falle würde die zweite befestigte Linie einen gesicherten Rückzug ermöglichen, falls die Operation vereitelt werden sollte. Doch in Wahrheit würde eine große Verteidigungsschlacht an jeder der drei Verteidigungslinien ein Fehler sein; denn entweder werden die Russen ihre gesamte Streitmacht für den Angriff konzentrieren, und dann wird Omer Pascha kaum eine Chance verbleiben; oder sie werden ihre Kräfte teilen, und dann müßte er die befestigten Linien verlassen, um über eine der russischen Kolonnen herzufallen. Die beste Verwendung dieser Befestigungen und die einzige, die den modernen Anforderungen des Krieges entspricht, wäre es, wenn er sie als zeitweilige Stützpunkte für Angriffsoperationen gegen einzelne russische Kolonnen in dem Augenblick benutzte, da diese die Donau überqueren; wenn er den russischen Vormarsch durch eine mehr oder weniger hartnäckige Verteidigung jeder einzelnen Linie aufhielte und wenn er mittels der dritten Linie die wichtigsten Balkanpässe so lange hielte, wie das ohne ein gewöhnliches Treffen geschehen könnte. Gleichzeitig darf nicht verschwiegen werden, daß jede Armee und besonders die türkische Armee, durch kampflose Übergabe dieser Festungen äußerst demoralisiert werden würde; denn wenn sie sich nicht hinter Verschanzungen und in Gräben <440> halten kann, wie soll sie da die Russen auf offenem Felde schlagen? Das ist die Art, in der der einfache Soldat immer urteilt, insbesondere wenn er nur wenig diszipliniert ist. Wenn also diese Festungen wirklich die Bedeutung haben, die ihnen zugeschrieben wird, so müssen wir sie für weniger gefährlich für die Russen als für die Türken selbst halten.

Aber haben sich die Russen nicht in der Walachei auch verschanzt? Gewiß, doch ihre Lage ist eine andere. Sie sind die angreifende Partei; ihre Befestigungen dienen nur dazu, im Falle eines Mißerfolges den Rückzug zu decken und die Verfolger aufzuhalten. Sie haben außerdem vier Flüsse, einen hinter dem anderen, die ihre Rückzugslinie berühren und die dementsprechend vier Verteidigungslinien bilden. Diese Linien sind: die Donau, der Ardschisch, der Buseo und der Sereth. Das ist eine ideale Möglichkeit, vorbeugende Befestigungen zu errichten; das sind natürliche Verteidigungslinien, die für eine europäische Armee kein Hindernis beim Rückzug bilden, aber bei einigen künstlichen Geländeverstärkungen zu ernstlichen Hindernissen für Verfolgungen werden; und darüber hinaus besteht hier nicht die Absicht, mit nur einer Rückzugslinie eine allgemeine Schlacht anzunehmen. Soweit wir beurteilen können, gehören die russischen Befestigungen entschieden zum europäischen System der Kriegführung, während bei denen der Türken der asiatische Charakter vorherrscht. Der gleiche gedankenlose Charakter ist der bestimmende Faktor für die allgemeine Position der Türken. Sie verteidigen Konstantinopel, indem sie sich über die nächste Zufahrtsstraße nach dort legen, während die Russen ihren ersten Angriff nicht auf diese Stadt zu richten scheinen, sondern auf den zentralen Teil der Halbinsel, wo die türkische Herrschaft besonders verwundbar ist, und von wo aus für eine russische Armee trotzdem der kürzeste Weg zur Hauptstadt führt.

Aber es gibt einen Umstand, den wir nicht vergessen dürfen. Die russische Armee ist und war schon immer langsam und vorsichtig in ihren Bewegungen. Sie wird höchstwahrscheinlich während des Winters nichts unternehmen. Es mag ein paar Gefechte geben, um diese oder jene Donauinsel für die eine oder andere Partei zu gewinnen. Doch falls der Zar nicht eine ganz außerordentliche Aktivität befehlen sollte - wobei jedoch die Ausführung eines solchen Befehls sehr wahrscheinlich durch die passive Pedanterie seiner Generale vereitelt werden würde -, gibt es sehr wenig Aussicht auf entscheidende Manöver vor Anbruch des Frühlings. Die Donau könnte überquert, doch der Balkan kann nicht überschritten werden, und zwischen den beiden wäre die Lage der Russen äußerst gefährlich.

Inzwischen haben die Türken ihre Flotte nach Varna entsandt. Der Engländer, Admiral Slade, der sie befehligt, scheint guten Mutes zu sein. Doch <441> auch diese Bewegung ist sehr riskant. In der Tat scheint die russische Flotte in allem, außer in ihrer Anzahl, gegenüber der türkischen unterlegen zu sein, aber solange bei den Russen zwei Linienschiffe auf jedes türkische und zwei russische Kanonen auf jede türkische Kanone kommen, können die Türken außerhalb der Reichweite ihrer Küstenbatterien keine Operation wagen. Und in einem solchen Fall würde die Flotte sicherer und besser im Bosporus liegen, wo die Russen kaum versuchen werden, sie zu blockieren. Wenn die türkische Flotte erst einmal in Varna ist, wird ihr jede Bewegungsmöglichkeit genommen, während sie sich am Bosporus ihre Aktionsfreiheit vorbehält und für Expeditionen nach Trapezunt, an die kaukasische Küste oder gegen einzelne Detachements der russischen Flotte eingesetzt werden kann.

So sind wir wohl oder übel genötigt anzunehmen, daß die Russen den Türken in jeder Hinsicht überlegen sind. Ob Omer Pascha, der in der Tat ein fähiger Soldat ist, Erfolg haben wird, indem er seine persönlichen Qualitäten in die Waagschale wirft, bleibt abzuwarten. Der alte Paskewitsch, obwohl ein langsamer Geselle, ist ein erfahrener General und wird nicht leicht zu überlisten sein.