Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 469-471
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Friedrich Engels

Die russischen Niederlagen

Geschrieben etwa 11. November 1853.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3936 vom 28. November 1853, Leitartikel]

<469> Wir haben die durch die "Canada" herübergebrachten europäischen Zeitungen sorgfältig durchgesehen, um soweit wie irgend möglich Aufschluß über die Kämpfe zu bekommen, die in der Walachei zwischen den Türken und den Russen stattgefunden haben, und sind in der Lage, den durch die "Washington" mitgeteilten Tatsachen, die wir vergangenen Freitag kommentierten, einige wichtige Fakten hinzuzufügen. Zu der Zeit wußten wir, daß einige Engagements stattgefunden hatten, doch über ihre Einzelheiten wissen wir auch heute nicht viel mehr. Die Berichte, die uns zugingen, sind immer noch zusammenhanglos, widerspruchsvoll und spärlich und werden es wahrscheinlich auch so lange bleiben, bis wir die offiziellen Depeschen der türkischen Generale erhalten. Soviel ist jedenfalls klar, daß die Türken mit einem solchen Maß an Geschicklichkeit geführt worden sind und mit einer derartig anhaltenden Begeisterung gekämpft haben, die die Lobpreisungen ihrer wärmsten Bewunderer rechtfertigt - Lobpreisungen, die von der Masse der kühlen und unparteiischen Beobachter als übertrieben betrachtet wurden. Das Resultat ist eine allgemeine Überraschung. Jedermann war darauf vorbereitet, von Omer Paschas Talenten als Feldherr die glänzendsten Beweise zu erhalten; aber der Wert seiner Armee wurde weder von den westlichen Journalisten noch von den Staatsmännern richtig eingeschätzt. Es trifft zu: ihre Reihen setzen sich aus Türken zusammen, aber diese sind ganz andere Soldaten als jene, die Diebitsch 1829 zu Paaren trieb. Sie schlugen die Russen trotz deren großer Überlegenheit und unter ungünstigen Umständen. Wir erwarten, daß <470> sich dies nur als der Auftakt und der Beginn weit entscheidenderer Niederlagen erweisen wird.

Wir erfahren jetzt zum ersten Male, daß der Kriegsrat von Konstantinopel eine Armee von ungefähr 25.000 Mann bei Sofia konzentriert hat, um in Serbien zu operieren, falls dies notwendig sein sollte. So seltsam es klingen mag, aber über diese Streitmacht und ihre Bestimmung scheinen bisher keine Informationen nach Westeuropa gelangt zu sein, aber es ist klar, daß Omer Pascha von ihr den besten Gebrauch gemacht hat. Ihre Aufstellung bei Sofia war ein Fehler, denn wenn die Serben nicht revoltieren und keine gemeinsame Sache mit den Russen machen - was sie unter dem regierenden Fürsten <Alexander Karageorgewitsch> kaum tun werden -, besteht keine Veranlassung, eine Armee in jener Gegend zu halten; im Falle einer Revolte aber wären die Türken entweder gezwungen, in das Land einzumarschieren und sie zu unterdrücken, wofür 25.000 Mann nicht ausreichen wurden, da die Russen in der Walachei stehen, oder sie müßten die Grenzpässe besetzen und die Serben zwingen, im Lande zu bleiben, wofür ein Viertel jener Kräfte ausreichend wäre. Offensichtlich hatte Omer Pascha die Angelegenheit in diesem Lichte betrachtet, denn er ließ das Korps direkt nach Widdin marschieren und vereinigte es mit den Kräften, die er bereits dort hatte. Ohne Zweifel hat diese Verstärkung wesentlich zu dem Sieg beigetragen, den er jetzt über den rechten Flügel der unter Führung von General Dannenberg stehenden Russen erzielt hat, einen Sieg, über den wir keine weiteren Einzelheiten erfahren haben, außer der Anzahl russischer Offiziere, die getötet oder gefangengenommen wurden, der jedoch ein vollständiger Sieg gewesen sein muß und dessen moralische Seite sich für die Türken als weit stärker erweisen wird als die materielle.

Gleichfalls erfahren wir jetzt, daß die türkischen Streitkräfte, die von Turtukai (einem Punkt zwischen Rustschuk und Silistria) nach Oltenitza übersetzten, von Ismail Pascha, d.h. General Guyon, geführt wurden (er hat das Christentum nicht aufgegeben, obwohl er einen hohen Rang in der Armee des Sultans einnimmt). Seine Tapferkeit im ungarischen Kriege hat ihm einen hervorragenden Ruf als kühner, energischer und äußerst schnell handelnder Offizier verschafft. Er gibt nur wenige Männer, die, ohne ein bemerkenswertes strategisches Talent zu besitzen, Befehle mit solchem Erfolg durchführen, wie er es bei der jüngsten Gelegenheit bewiesen hat, als er seinen Gegner mit dem Bajonett zurücktrieb. Die Niederlage von General Pawlow bei Oltenitza muß in einem entscheidenden Maße das Land hinter der Aluta öffnen und den Weg nach Bukarest frei machen, da es sich erwiesen hat, daß Fürst Gort- <471> schakow nicht, wie berichtet wurde, auf Slatina vorgerückt ist, sondern in der Hauptstadt der Fürstentümer verbleibt, wobei er es klüglich vorzieht, seine Kräfte nicht zu teilen, was wiederum andeutet, daß er sich selbst nicht völlig sicher fühlt. Zweifellos ist in der Nähe jenes Ortes bald darauf eine entscheidende Schlacht geschlagen worden. Wenn Gortschakow nicht ein Aufschneider ist, und wenn er dort zwischen siebzig- und achtzigtausend Mann konzentrieren kann - eine Anzahl, die alle gerechtfertigten Abzüge von der offiziell gemeldeten Stärke der Streitmacht der Russen ihm noch übriglassen -, so ist der Vorteil entschieden auf seiner Seite. Aber wenn man berücksichtigt, wie falsch und übertrieben die Zahlenangaben aus dem russischen Lager sind, wenn man berücksichtigt, daß Omer Paschas Armee stärker und kampffähiger ist, dann ergibt sich, daß das Kräfteverhältnis in dieser Kampagne ausgeglichener ist, als man es sich vorgestellt hatte, und eine Niederlage Gortschakows rückt in den Bereich der Möglichkeit. Sicherlich, wenn der türkische Generalissimus fünfzig- bis sechzigtausend bereits siegestrunkener Truppen für den entscheidenden Kampf konzentrieren kann - und wir sehen jetzt nichts, was das verhindern könnte -, hat er große Aussichten auf Erfolg. Wenn wir dies sagen, so möchten wir mit Zurückhaltung sprechen, denn wenn unsere Sympathien auch auf seiten der Türken sind, so hat es doch keinen Zweck, ihre Lage günstiger einzuschätzen, als sie ist.

Es ist unmöglich, die geographische Struktur der Walachei zu studieren, besonders vom militärischen Standpunkt aus, ohne an die Lombardei erinnert zu werden. In dem einen Falle bilden die Donau und in dem andern der Po und seine Zuflüsse die Süd- und Westgrenzen. Auch haben die Türken sich einen ähnlichen Feldzugsplan zu eigen gemacht, wie ihn die Piemontesen in der Kampagne von 1849 durchführten und der mit der unheilvollen Schlacht von Novara endete. Wenn sich die Türken als siegreich erweisen sollten, so können sie uns um so mehr Bewunderung abfordern, und um so offenkundiger wird die prahlerische Unfähigkeit der Moskowiter. In jedem Falle ist Gortschakow kein Radetzky und Omer Pascha kein Ramorino.