Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 555-558
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Karl Marx

Der Rücktritt Palmerstons

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3965 vom 31. Dezember 1853]

<555> London, 16. Dezember 1853

Die interessanteste und wichtigste Neuigkeit, die der Dampfer "Afrika" mitbringt, ist Lord Palmerstons Rücktritt als Mitglied des Koalitionsministeriums unter Lord Aberdeen. Das ist ein Meisterstück dieses skrupellosen und vollendeten Taktikers. Jene Londoner Zeitungen, die Sprachrohr des Ministeriums sind, informieren die Öffentlichkeit beharrlich, daß nicht die orientalische Frage an dem Ereignis Schuld trage, sondern daß Seine Lordschaft, als gewissenhafter und getreuer Hüter der britischen Konstitution, sein Amt verläßt, weil er seine Zustimmung zu einer Parlamentsreform nicht geben kann, auch wenn sie nur so zwerghafte Dimensionen hat, wie sie einem Whig vom Typ Lord John Russells entsprechen. Mit dieser offiziellen Begründung hat er auch seinen Kollegen von der Koalition seinen Rücktritt mitzuteilen geruht. Aber er hat Sorge getragen, bei der Öffentlichkeit einen anderen Eindruck zu erwecken, und es ist denn auch, trotz aller Erklärungen der offiziellen Blätter, allgemein die Meinung verbreitet, daß die Reformbill nur den Vorwand liefert und die wahre Ursache die Rußlandpolitik des Kabinetts ist. In diesem Sinne schrieben denn auch seit einiger Zeit, und besonders nach der Beendigung der letzten Parlamentssession, alle Blätter, die seine Interessen vertreten. Sie spielten in verschiedener Tonart und auf verschiedene Weise immer dieselbe Melodie: wie Lord Palmerston vergeblich gegen den Einfluß des Premierministers kämpfe und sich heftig gegen die unwürdige Rolle wehre, die ihm in dem Orientdrama aufgezwungen werde. Unaufhörlich wurden Gerüchte über die Spaltung des Ministeriums in zwei große Lager verbreitet, und nichts wurde verabsäumt, das britische Publikum darauf vorzubereiten, daß der ritterliche Viscount eine Probe der ihn aus- <556> zeichnenden Energie ablegen werde. Als das Schauspiel vorbereitet, die mise en scène <Inszenierung> hergerichtet war, wählte der edle Lord, der schon hinter dem Vorhang stand, mit erstaunlichem Scharfsinn den geeigneten Moment, in dem sein Erscheinen auf der Bühne den überraschendsten und wirksamsten Effekt machen würde.

Lord Palmerston trennt sich von seinen Freunden der Koalition gerade in dem Augenblick, da Österreich gierig auf den Vorschlag eingeht, neue Konferenzen zu veranstalten; da der Zar sein Netz von Intrigen und Krieg immer weiter ausbreitet, einen bewaffneten Zusammenstoß zwischen Serben und Bosniaken herbeiführt und dem regierenden Fürsten von Serbien mit Absetzung droht, wenn dieser darauf besteht, in dem Konflikt weiterhin neutral zu bleiben; da die Türken, die sich auf die Anwesenheit der französischen und englischen Flotte verließen, die Zerstörung einer Flottille und die Niedermachung von 5.000 Mann durch eine dreimal so mächtige russische Flotte zu beklagen haben; da russische Kapitäne ungestraft britische Gesetze in britischen Häfen und an Bord britischer Fahrzeuge mit Füßen treten dürfen; da die dynastischen Intrigen der "makellosen Königin" <Victoria> und ihres "deutschen Prinzgemahls" <Albert> längst offenkundig geworden sind; und schließlich, da das abgestumpfte englische Volk, dessen nationaler Stolz im Ausland beleidigt und das im eigenen Land durch Streiks, Hungersnöte und kommerzielle Stagnation heimgesucht wird, eine drohende Haltung einzunehmen beginnt und niemand hat, an dem es sich rächen kann, als seine eigene erbärmliche Regierung. Dadurch, daß er sich in einem solchen Augenblick zurückzieht, wälzt Lord Palmerston alle Verantwortlichkeit von seinen eigenen auf die Schultern seiner früheren Kollegen. Sein Schritt wird zum großen nationalen Ereignis. Er verwandelt sich auf einmal in den Vertreter des Volkes, der gegen die Regierung auftritt, aus der er ausscheidet. Er rettet dadurch nicht nur seine eigene Popularität, sondern er macht seine Kollegen noch vollends unpopulär. Der unvermeidliche Zusammenbruch des jetzigen Ministeriums erscheint als sein Werk, damit wird er zum notwendigen Mitglied für jedes darauffolgende. Er überläßt nicht nur ein dem Tode geweihtes Kabinett seinem Schicksal, er drängt sich auch gleich dem nachfolgenden auf.

Lord Palmerston rettet jedoch nicht nur seine Popularität und sichert sich einen hervorragenden Platz in der neuen Regierung, er nützt auch noch direkt der Sache Rußlands, wenn er sich in diesem ungemein kritischen Augenblick zurückzieht. Die russische Diplomatie hat sich längst über den <557> zaudernden Geist des Koalitionskabinetts lustig gemacht; Bonaparte erschien es stets wegen seiner Vorliebe für die Orléans und die Coburger verdächtig, sogar in Konstantinopel beginnt man seine verräterische und kleinmütige Schwachheit zu begreifen; - nun wird dieses Ministerium auch noch den Rest an Einfluß verlieren, den es im Rat der Welt noch besessen haben mag. Eine uneinige, unpopuläre Regierung, der die eignen Freunde nicht vertrauen und die die Feinde nicht respektieren, eine Regierung, die nur als eine rein provisorische betrachtet wird, deren Auflösung jeden Moment erfolgen kann, an deren wirklichem Vorhandensein man sogar zweifelt - eine solche Regierung ist am wenigsten dazu geeignet, dem Einfluß Großbritanniens unter den übrigen Mächten Europas Gewicht zu verschaffen. Der Rücktritt Lord Palmerstons verwandelt das Koalitionsministerium und mit ihm England in eine Null, was die Außenpolitik anbelangt; und noch niemals hat das Verschwinden Englands von der politischen Arena, sei es nur für ein oder zwei Wochen, solch eine immense Bedeutung für den russischen Despoten gehabt. Das versöhnliche Element hat in den herrschenden Kreisen Englands über das streitbare gesiegt. So wird an den Höfen von Berlin, Paris und Wien Lord Palmerstons Rücktritt gedeutet werden; und diese Deutung wird man dem Diwan aufzwingen, dessen Selbstvertrauen ohnehin schon durch den letzten russischen Erfolg erschüttert ist und der angesichts der Kanonen der vereinigten Flotten zusammentreten muß.

Man darf nicht vergessen, daß Lord Palmerston, seit er Mitglied des Koalitionsministeriums geworden ist, seine öffentliche Tätigkeit in der Außenpolitik auf die berüchtigte Schießpulver-Verschwörung und auf die von ihm zugestandene Verwendung der englischen Polizei als Spitzel gegen die politischen Flüchtlinge beschränkt hat, sowie auf eine Rede, in der er in witzelnder Form die durch die Russen erfolgte Verhinderung der Donauschiffahrt als unbedeutend hinstellte; endlich auf die feierliche Rede, mit der er das Parlament verabschiedete und in der er dem Unterhaus versicherte, die Regierung habe in den orientalischen Wirren einwandfrei gehandelt, die Abgeordneten könnten ruhig auseinandergehen, denn die Minister blieben auf ihren Posten; nebstbei verbürgte er sich noch "für die Ehre und den Charakter des Kaisers von Rußland".

Außer den von uns aufgezählten allgemeinen Ursachen hatte Lord Palmerston noch einen besonderen Grund, die Welt durch seinen letzten Akt der patriotischen Selbstaufopferung zu überraschen: man ist ihm auf die Schliche gekommen. Sein Prestige beginnt zu schwinden, seine frühere Karriere wird <558>der Öffentlichkeit bekannt. Dem englischen Volk, dem durch die eingestandene Teilnahme Palmerstons an der Verschwörung des 2. Dezember, die die Französische Republik stürzte, und durch seine Schießpulver-Verschwörungs-Komödie die Augen noch nicht geöffnet waren, ist durch die Enthüllungen des Herrn David Urquhart aufgerüttelt worden, der Seine Lordschaft tüchtig gezaust hat. Herr Urquhart hat in seinem kürzlich erschienenen Werk "Rußlands Vordringen", in Artikeln der englischen Presse, besonders aber durch Reden in antirussischen Meetings im ganzen Königreich der politischen Reputation Palmerstons einen Schlag versetzt, den die zukünftige Geschichte nur bestätigen wird. Unser eigenes Wirken für die Sache der historischen Gerechtigkeit trug weit mehr als wir erwarteten dazu bei, diesen geschäftstüchtigen und arglistigen Staatsmann der öffentlichen Meinung Englands in einem neuen Lichte zu zeigen.

Völlig unerwartet erfahren wir aus London, daß Herr Tucker dort 50.000 Exemplare des umfangreichen Artikels nachgedruckt und gratis verteilt hat, in welchem wir vor etwa zwei Monaten Seiner Lordschaft die Maske vom Gesicht rissen und seine politische Karriere im richtigen Licht zeigten. Der Wandel der Stimmung in der Öffentlichkeit ist nicht gerade erfreulich für den edlen Lord, und er glaubt vielleicht der wachsenden Flut von Tadeln zu entgehen oder sie durch seinen gegenwärtigen Coup unterdrücken zu können. Wir sagen voraus, daß Lord Palmerston dieser Coup nicht gelingen und daß seine ausgedehnte Karriere im öffentlichen Leben sehr bald ihr ruhmloses und unseliges Ende finden wird.