Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 9, S. 559-564
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1960

Friedrich Engels

Der weitere Verlauf des türkischen Krieges

Geschrieben etwa 22. Dezember 1853.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 3971 vom 9. Januar 1854, Leitartikel]

<559> Nach einer langen Verzögerung sind wir endlich in Besitz der offiziellen Dokumente über die beiden Siege gelangt, deren sich Rußland so laut rühmt und die es so reichlich belohnt. Wir meinen darunter selbstverständlich die Zerstörung des türkischen Geschwaders bei Sinope und das Gefecht bei Achalzych in Asien. Die Dokumente sind russische Bulletins; aber die Tatsache, daß das türkische offizielle Organ tiefstes Schweigen über die Sache bewahrte, wo doch seine Mitteilungen uns lange vor denen aus St. Petersburg erreicht haben würden, lassen es als gewiß erscheinen, daß die Pforte nichts Angenehmes zu veröffentlichen hat. Wir wollen also an Hand der uns zu Gebete stehenden Informationen die diesbezüglichen Ereignisse analysieren, um unsere Leser mit dem wahren Stand der Dinge vertraut zu machen.

Die Schlacht bei Sinope war das Ergebnis einer so einzig dastehenden Reihe von Fehlern der Türken, daß man sich die ganze Geschichte nur erklären kann, wenn man an eine unheilvolle Einmischung der westlichen Diplomatie oder an ein geheimes Einverständnis der Russen mit gewissen Kreisen in Konstantinopel glaubt, die mit der französischen und der englischen Botschaft in Verbindung stehen. Die ganze türkische und ägyptische Flotte begab sich im November nach dem Schwarzen Meer, um die Aufmerksamkeit der russischen Admirale von einer Expedition abzulenken, die mit Waffen und Munition für die aufständischen Bergbewohner an der kaukasischen Küste landen sollte. Die Flotte blieb achtzehn Tage auf See, ohne einem einzigen russischen Kriegsschiff zu begegnen. Nach einer Version soll das russische Geschwader Sewastopol während der ganzen Zeit nicht verlassen haben, wodurch es der Expedition zum Kaukasus ermöglicht war, ihre Aufgabe zu <560> erfüllen; nach einer anderen Version sollten die von den türkischen Plänen wohlunterrichteten Russen sich nach Osten zurückgezogen haben, von wo aus sie die Transportschiffe lediglich beobachteten, die infolgedessen die kaukasische Küste nie erreichten und nach Sinope zurückkehren mußten, während die Hauptflotte wieder in den Bosporus segelte. Der große Pulvervorrat an Bord des Sinope-Geschwaders, der zu einem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt des Zusammenstoßes zur Explosion einiger Schiffe führte, scheint ein Beweis für die Richtigkeit der letzten Version zu sein.

So blieben sieben türkische Fregatten, zwei Dampfer, drei Korvetten und ein oder zwei kleinere Schiffe mit einigen Transportschiffen im Hafen von Sinope sich selbst überlassen. Dieser Hafen ist nicht viel mehr als eine offene Reede, die aus einer nach dem Meere zu offenen Bucht gebildet und von einigen vernachlässigten, schlecht angelegten Batterien geschützt wird; die beste davon war in einem Kastell untergebracht, das zur Zeit der griechischen Kaiser erbaut wurde, also wahrscheinlich, ehe man in Europa etwas von Artillerie wußte. Wie es geschehen konnte, daß ein Geschwader mit etwa dreihundert Geschützen meist kleineren Kalibers auf Gnade und Ungnade einer dreimal größeren und stärkeren Flotte ausgeliefert wurde, noch dazu an einem Punkt der türkischen Küste, der wegen der Nähe Sewastopols russischen Angriffen am meisten ausgesetzt ist, während die Hauptflotte sich beschaulich auf dem Bosporus wiegte, das müssen wir erst noch erfahren. Wir wissen, daß die gefährliche Lage dieses Geschwaders genau bekannt war und in der Führung der Flotte heftig erörtert wurde; wir wissen auch, daß türkische, britische und französische Admirale ihre voneinander abweichenden Meinungen im Kriegsrat laut geltend machten und daß die sich überall einmischenden Botschafter auch anwesend waren, um sich über die Sache zu äußern; aber getan wurde nichts.

Inzwischen soll, wie in einer Darstellung behauptet wird, ein österreichischer Dampfer in Sewastopol über die Position des Geschwaders berichtet haben. Der russische offizielle Bericht behauptet im Gegenteil, Nachimow habe, während er an der asiatischen Küste kreuzte, das Geschwader entdeckt und Anstalten gemacht, es anzugreifen. Wenn aber die Russen die Türken bei Sinope entdeckten, so mußten die Türken von den Türmen und Minaretten der Stadt aus die Russen notwendigerweise viel früher entdecken. Wie konnte es geschehen, daß die türkischen Batterien in einem so schlechten Zustand waren, wenn ein paar Tage Arbeit genügt hätten, sie instand zu setzen? Wie kam es, daß die türkischen Schiffe gerade dort vor Anker lagen, wo sie das Feuer der Batterien behinderten, und warum wurden sie nicht nach geeigneteren Ankerplätzen gebracht, wo sie drohender Gefahr besser <561> gewachsen waren? Es wäre Zeit genug für all das gewesen, denn Admiral Nachimow erklärt, daß er erst nach Sewastopol um drei Dreidecker gesandt hätte, ehe er den Angriff wagte. Sechs Tage, vom 24. bis zum 30. November, hätten die Türken doch nicht verstreichen lassen, ohne irgend etwas zu unternehmen. Der Bericht des türkischen Dampfboots "Taif", das nach Konstantinopel entkam, beweist jedoch zur Genüge, daß die Türken überrascht worden sind. Der russische Bericht kann also in dieser Beziehung nicht stimmen.

Unter Admiral Nachimows Befehl standen drei Linienschiffe, eines davon war ein Dreidecker, sechs Fregatten, einige Dampfer und sechs oder acht kleinere Schiffe, also eine Macht von etwa doppelt so vielen Geschützen als das türkische Geschwader. Und doch schritt er erst zum Angriff, nachdem er noch drei weitere Dreidecker als Verstärkung hatte, die allein genügt hätten, den Streich zu führen. Erst mit dieser unverhältnismäßigen großen Übermacht wagte er den Angriff. Der Nebel, oder wie andere behaupten, das Hissen der britischen Flagge, gestattete ihm, sich unbehindert auf 500 Yard zu nähern. Dann begann der Kampf. Die Russen fürchteten, vom Wind an die Küste getrieben zu werden, und warfen daher Anker. Darauf begann ohne jedes Schiffsmanöver der gegenseitige Beschuß dieser beiden verankerten Flotten; sie hatte mehr den Charakter einer Kanonade auf dem Festland und dauerte vier Stunden. Die Möglichkeit, ganz auf seemännische Taktik und auf jegliches Manövrieren verzichten zu können, kam den Russen sehr zustatten, da der Mannschaftsbestand ihrer Flotte im Schwarzen Meer sich fast ausschließlich aus "Landratten", besonders polnischen Juden, zusammensetzte, was ihnen in offener Seeschlacht den wohlbemannten türkischen Schiffen gegenüber wenig Aussicht auf Erfolg gegeben hätte. Brauchten doch die Russen sogar ganze vier Stunden, um die schwachen Schiffe ihrer Gegner zum Schweigen zu bringen. Außerdem hatten sie noch den Vorteil, daß jeder ihrer fehlgegangenen Schüsse entweder den Küstenbatterien oder der Stadt schaden mußte. Und daß im Vergleich zu den Treffern sehr viele Schüsse ihr Ziel verfehlt haben, geht aus der fast völligen Zerstörung des Ortes hervor, die längst vollendet war, ehe die feindliche Flotte zum Schweigen gebracht werden konnte. Der russische Bericht gibt an, daß nur das türkische Viertel niedergebrannt sei, während das griechische Viertel wie durch ein Wunder der Zerstörung entgangen sei. Dem widersprechen aber glaubwürdigere Zeugen, die berichten, die ganze Stadt liege in Trümmern.

Während des Kampfes wurden drei türkische Fregatten verbrannt, vier wurden zum Stranden gebracht und später mit einem Dampfer und den kleinen Fahrzeugen zusammen verbrannt. Das Dampfboot "Taif" kappte jedoch seine Ankertaue, fuhr kühn zwischen den russischen Schiffen durch und ent- <662> kam nach Konstantinopel, obgleich es von drei russischen Dampfern unter Admiral Kornilow verfolgt wurde. Angesichts der Schwerfälligkeit der Russen zur See, der ungünstigen Position der türkischen Flotte vor ihren eigenen Batterien und innerhalb deren Feuerbereich, und vor allem angesichts der absoluten Gewißheit der Niederlage wäre es wohl besser gewesen, das ganze türkische Geschwader hätte die Anker gelichtet und wäre auf den Feind losgesegelt, soweit es der Wind gestattete. Wenigstens wäre dann vielleicht durch die nicht zu vermeidende Preisgabe einiger Schiffe ein Teil des Geschwaders gerettet worden. Natürlich wäre für ein derartiges Manöver die herrschende Windrichtung maßgebend gewesen; aber es erscheint zweifelhaft, ob Osman Pascha überhaupt an einen derartigen Schritt gedacht hat.

Der Sieg von Sinope ist kein Ruhmestitel für die Russen; die Türken aber kämpften mit unerhörter Tapferkeit. Auch nicht ein Schiff hat während des ganzen Kampfes die Flagge gestrichen. Diesen Verlust eines wichtigen Teils ihrer Seemacht, die zeitweilige Eroberung des Schwarzen Meers durch die Russen und die niederdrückenden moralischen Auswirkungen eines solchen Ereignisses auf das türkische Volk, die Armee und die Marine hat die Türkei ausschließlich den "guten Diensten" der westlichen Diplomatie zu verdanken, die die türkische Flotte an der Ausfahrt und somit auch daran hinderte, das Geschwader von Sinope zu schützen oder es heimzuholen. Und ebenso hat sie es nur deren geheimen Informationen an Rußland zu verdanken, daß Rußland in den Stand gesetzt war, den Streich mit solcher Gefahrlosigkeit und Gewißheit zu führen.

Der zweite Sieg, dessen sich die Russen rühmen, wurde bei Achalzych in Armenien erfochten. Die Türken sind schon seit einiger Zeit in ihren Offensivbewegungen an der Grenze von Georgien gehemmt worden. Seit sie Scheftakil oder den Hafen St. Nikolaja genommen hatten, war kein Ort von irgendwelcher Bedeutung erobert, noch ein einziger Sieg von mehr als kurzlebiger Bedeutung errungen worden. Und dies in einem Lande, wo die Russen unter den ungünstigsten Umständen zu kämpfen haben; wo ihre Landverbindungen mit Rußland auf zwei Straßen beschränkt sind, die von aufrührerischen Tscherkessen unsicher gemacht werden; wo ihre Verbindungen zur See leicht abgeschnitten oder gefährdet werden können und wo das ganze von den Russen besetzte transkaukasische Gebiet mit dem Zentrum Tiflis eher als ein unabhängiger Staat denn als Bestandteil eines mächtigen Reiches gelten kann. Wie soll man diese Unterbrechung des türkischen Vormarsches erklären? Die Türken klagen Abdi Pascha des Verrats an und haben ihn zurückberufen; und es ist in der Tat sehr sonderbar, daß Abdi Pascha der einzige türkische General in Asien ist, dem die Russen gestatteten, Teilsiege von <563> lokaler Bedeutung zu erringen. Aber man kann den Türken zwei Fehler nachweisen, die den ausgebliebenen Erfolg zu Beginn der Kampagne und die spätere tatsächliche Niederlage erklären. Sie haben ihre Armee über die ganze lange Linie von Batum nach Bajazid verstreut und zersplittert. Ihre Truppen waren nirgends stark genug, um einen konzentrischen Angriff auf Tiflis zu unternehmen, wenn auch ein Teil von ihnen sich im Augenblick des unbestrittenen und nutzlosen Besitzes der Stadt Eriwan erfreut. Das Land ist felsig und unfruchtbar, und es mag schwer sein, dort eine große Armee zu versorgen; aber die besten Mittel gegen Hunger in einem Heer sind rasche Bewegungen und schnelle Zusammenfassung aller Hilfsquellen. Zwei Korps hätten genügt: eines um Batum zu decken und an der Küstenlinie anzugreifen und das andere, um durch das Tal der Kura direkt nach Tiflis zu marschieren. Aber man hat die türkischen Kräfte ohne jede zwingende Notwendigkeit zersplittert und immer wieder zersplittert, bis jedes einzelne Korps fast unfähig zum Kampfe war.

Andererseits war es die Untätigkeit, zu der die Diplomatie die türkische Flotte verurteilt hatte, die es den Russen gestattete, in Mingrelien zwei Divisionen Infanterie (vom fünften Korps) zu landen und so die Kaukasische Armee des Fürsten Woronzow um fast 20.000 Mann zu verstärken. Durch diese Verstärkung konnte er nicht nur die Türken an der Küste binden, sondern er hatte auch noch die Genugtuung, zu sehen, wie ein Korps unter General Andronikow die belagerte Festung Achalzych entsetzte und den Feind im offenen Felde nahe dieser Stadt schlug. Die Russen geben an, daß sie mit etwa 10.000 Mann 18.000 Türken in die Flucht schlugen. Wir können uns natürlich auf solche Angaben nicht verlassen, aber wir müssen gestehen, daß die große Zahl der irregulären Truppen in der türkischen Armee in Anatolien und das fast gänzliche Fehlen europäischer Offiziere, besonders in den höheren Rängen und im Stabe, die Türken den Russen gegenüber sehr in Nachteil versetzte, wenn diese zahlenmäßig gleich stark waren. Die Russen behaupten, zehn oder zwölf Geschütze erbeutet zu haben; das mag richtig sein, denn in diesem unwegsamen Gebiet muß die besiegte Partei notwendigerweise die meisten ihrer Kanonen im Stich lassen. Gleichzeitig aber geben die Russen zu, nur 120 Gefangene gemacht zu haben. Das kommt dem Geständnis gleich, daß sie beinahe alle Verwundeten auf dem Schlachtfeld niedergemacht haben, die ihnen die Türken wohl oder übel überlassen mußten. Übrigens geht aus den Meldungen der Russen hervor, daß sie ihre Maßnahmen, um wenigstens einen Teil des sich zurückziehenden Feindes zu verfolgen und seinen Rückzug zu verhindern, sehr schlecht geplant haben müssen. Sie hatten eine Menge Kavallerie; ein kühner Angriff direkt auf die Masse der Fliehenden hätte ganze <564> Bataillone abschneiden können. So aber ist dieses Gefecht, wenigstens nach den uns vorliegenden Berichten, von nur geringem politischen oder militärischen Interesse.

An der Donau haben die Russen nichts anderes getan, als daß sie bei Matschin, einem Fort oder, besser gesagt, vorspringenden Felsen gegenüber von Braila, ebenso vorgingen wie bei Eröffnung des Feldzuges. Sie scheinen damit wenig erreicht zu haben. Wir können heute außerdem eine aus guter Quelle stammende detaillierte Aufzählung der türkischen Truppen bei Widdin machen. Sie bestehen aus 34.000 Mann Infanterie, 4.000 Mann Kavallerie und 2.000 Mann Artillerie mit 66 Feldgeschützen, außer der schweren Artillerie auf den Wällen von Widdin und den Redouten Kalafats. So werden 40.000 Türken daran verschwendet, die direkte Route von Bukarest nach Serbien zu besetzen. 40.000 Mann, an ausgedehnte Befestigungen gekettet, die sie zu verteidigen haben, sind zu wenig, um einer großen Armee Widerstand zu leisten, und viel zu viel, um Streifzüge kleinerer Detachements abzuwehren. Mit der bereits bei Schumla vereinigten Macht würden dort diese 40.000 Mann den doppelten Wert haben als sonstwo. Ihr Fehlen hat neben der diplomatischen Einmischung die Operation von Oltenitza mißlingen lassen. Es ist unmöglich, sich vorzustellen, daß Omer Pascha nicht wissen sollte, daß, wenn er mit 100.000 Mann zwischen Silistria und Rustschuk steht, die Russen es niemals versuchen werden, sich vor seinen Augen mit einer Truppenzahl, deren Stärke ausreichen würde, ihm zu schaden, in die Berge Serbiens zu werfen. Eine solche Aufstellung seiner Truppen kann unmöglich mit seiner Ansicht übereinstimmen, und sicherlich ist er sehr empört und verärgert über die böswilligen Einflüsse, die sie ihm aufzwingen.