Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 20-30
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

[Der orientalische Krieg]

Aus dem Englischen.


["Zuid Afrikaan" vom 6. März 1854]

<20> London, 14. Januar 1854.

Endlich scheint die schon so lange schwebende "orientalische Frage" einen Punkt erreicht zu haben, an dem die Diplomatie nicht länger mehr imstande sein wird, mit ihrer immer sich ändernden und ewig resultatlosen Tätigkeit dieses Feld zu beherrschen. Am 3. d.M. sind die französische und die britische Flotte in das Schwarze Meer vorgedrungen, um Angriffe des russischen Geschwaders auf die türkische Flotte oder die türkische Küste zu verhindern. Zar Nikolaus hat schon einmal erklärt, daß ein solcher Schritt für ihn das Signal zu einer Kriegserklärung wäre. Wird er ihn nun ruhig hinnehmen? Ein Bericht von heute meldet, daß die vereinigten französischen und englischen Flotten zusammen mit der ersten Division der türkischen Flotte 17.000 Türken nach Batum bringen. Wenn das stimmt, so ist das geradesogut eine Kriegshandlung, als wenn sie einen direkten Angriff auf Sewastopol unternähmen, und der Zar kann nicht umhin, sofort den Krieg zu erklären.

Wird aber Rußland alleinstehen? Wessen Partei würden Österreich und Preußen in einem allgemeinen Krieg ergreifen?

Man sagt, Louis Bonaparte habe der österreichischen Regierung zu verstehen gegeben, daß die französische Regierung - falls es zu einem Konflikt mit Rußland komme und Österreich dessen Partei ergreifen sollte - sich die aufständischen Elemente zunutze machen werde, die in Italien und Polen nur eines Funkens bedürften, um wieder zur verheerenden Flamme angefacht zu werden, und daß Frankreich alsdann die Wiederherstellung der italienischen und polnischen Nation anstreben werde. Die österreichische Regierung jedoch, dessen können wir sicher sein, wird sich mehr durch ihre <21> eigenen finanziellen Schwierigkeiten als durch die Drohungen Bonapartes beeinflussen lassen.

Auf den Zustand der österreichischen Staatskasse kann man schließen aus der jüngsten Zunahme der entwerteten Banknoten und aus dem neuen Ausweg der Regierung, eine Abwertung des von ihr selbst ausgegebenen Papiergeldes um 15 p.c. anzuordnen. Dieser Kunstgriff, der eine Entwertung des eigenen Papiergeldes bewirkt, bringt die Findigkeit, Steuern zu ersinnen, wahrscheinlich zu höchster Vollendung - er besteuert die Zahlung von Steuern. Den deutschen Zeitungen zufolge wird das österreichische Budget für 1854 ein Defizit von 45.000.000 Gulden im ordentlichen Haushalt und von 50.000.000 Gulden im außerordentlichen Haushalt aufweisen. Zum hundertsten Male geht Österreich einer Anleihe entgegen, aber in einer Weise, die keinen Erfolg verspricht. Man beabsichtigt jetzt, eine Anleihe von 50.000.000 Gulden zu dem höchst offenkundigen Zweck aufzunehmen, fällige Zinsen zu zahlen und einigen anderen dringenden Forderungen nachzukommen.

Als in Wien die Nachricht von der bevorstehenden Einfahrt des vereinigten Geschwaders in das Schwarze Meer eintraf, hatten die Geldwechsler vollauf zu tun, um Papiergeld gegen Silbermünzen einzutauschen. Die Besitzer von 100- und 200-Gulden-Scheinen strömten zu ihren Kontoren, um ihre gefährdeten Schätze in Sicherheit zu bringen. Dennoch wird im entscheidenden Moment der Einfluß St. Petersburgs auf Wien den Ausschlag geben und Österreich auf Rußlands Seite in den kommenden Krieg verwickeln. Preußen wiederum versucht das Spiel von 1780, 1800 und 1805 zu wiederholen, d.h. einen Bund neutraler baltischer oder norddeutscher Staaten zu bilden, an dessen Spitze es eine nicht unbedeutende Rolle spielen und sich auf jene Seite schlagen könnte, die ihm die größten Vorteile bietet.

Daß die türkisch-europäischen Flotten Sewastopol zerstören und die russische Schwarzmeerflotte vernichten, daß sie die Krim nehmen und halten können, Odessa besetzen, das Asowsche Meer blockieren und die Bergbewohner des Kaukasus entfesseln können, daran ist nicht zu zweifeln. Die Maßnahmen, die in der Ostsee ergriffen werden müssen, liegen ebenso auf der Hand wie die im Schwarzen Meer: eine Allianz um jeden Preis mit Schweden; eine Einschüchterung Dänemarks, falls es notwendig sein sollte; ein Aufstand in Finnland, der ausbrechen würde, wenn genügend Truppen landeten, und eine Garantie, daß kein Frieden geschlossen werden darf ohne die Bedingung, daß diese Provinz wieder mit Schweden vereinigt wird. Die in Finnland gelandeten Truppen würden Petersburg bedrohen, während die Flotte Kronstadt beschießt.

<22> Das Ganze wird von dem entschlossenen und energischen Vorgehen der Seemächte Europas abhängen.

Die "Neue Preußische Zeitung" vom 29. v.M. bestätigt die Nachricht, daß der Kaiser von Rußland die Mobilmachung für sämtliche Truppen seines Reiches befohlen habe. Er hat nicht nur seine Einlagen von den englischen und französischen Banken zurückgezogen, sondern auch eine freiwillige Spendensammlung unter dem Adel angeordnet sowie verfügt, den Eisenbahnbau einzustellen, um Menschen und Geld, die für diese Arbeiten erforderlich sind, für den Krieg einzusetzen.

Andrerseits schreiten die Rüstungen in Frankreich energischer denn je voran; die zweite Hälfte des 80.000-Mann-Kontingents von 1852 ist einberufen worden. Auch in Frankreich hat man seit langem eine Anleihe von 200.000.000 Francs (ungefähr 8.000.000 Pfd.St.) in Erwägung gezogen, doch die Lebensmittelteuerung, der ungenügende Ertrag der Weinernte und der Seidengewinnung, die allgemeine Stagnation in Handel und Industrie, die großen Befürchtungen wegen der Ende Februar zu leistenden Zahlungen, die fallende Tendenz der Staatspapiere und Eisenbahnaktien - all das ist keineswegs geeignet, ein solches Unternehmen zu erleichtern.

Die britische Regierung hat die Absicht, wie die "Times" meldet, die Zahl der Matrosen und Seesoldaten für das laufende Jahr auf 53.000 Mann zu erhöhen, was die im vorigen Jahr bewilligte Zahl um etwa 8.000 und die unter der Regierung Lord Derbys einberufene Zahl um weitere 5.000 übersteigt. Insgesamt kann man daher die Verstärkung der Kriegsflotte seit 1852 mit ungefähr 13.000 Mann annehmen. Die Mannschaften der Flotte sollen jetzt 38.000 Matrosen und Schiffsjungen und 15.000 Seesoldaten umfassen.

Endlich ist die Wahrheit über die Affäre von Sinope heraus. Angaben zufolge, die über das Verhältnis der Stärke Rußlands und der Türkei bei Sinope veröffentlicht wurden, hatten die Russen drei Dampf-Zweidecker, einen Dreidecker und 680 Kanonen mehr als die türkischen Streitkräfte. So betrachtet, hat Sinope Rußlands Macht um nichts vergrößert und die der Türkei um nichts vermindert, ganz im Gegenteil. Hier stehen wir vor einer Tatsache, die selbst in den Annalen der britischen Flotte nicht ihresgleichen findet - Fregatten, die sich Bord an Bord an Linienschiffe legen, und Kapitäne, die die Fackel in das Pulvermagazin werfen und sich selbst als Brandopfer auf dem Altar des Vaterlandes darbringen. Die eigentliche Seestreitmacht der Türkei ist unangetastet; nicht ein Linienschiff, nicht ein Dampfer ging verloren. Doch damit nicht genug. Nach den letzten Nachrichten wurde einer der besten Dreidecker der russischen Flotte, die "Rostislaw", ein <23> Schiff mit 120 Kanonen, von den Türken versenkt. Dieser Verlust, der bislang unter dem passenden Vorwand verschwiegen wurde, die "Rostislaw" sei nicht während des Kampfes, sondern unmittelbar danach gesunken, wird jetzt von den Russen zugegeben und bildet einen guten Ausgleich für die Verluste der türkischen Flotte. Wenn tatsächlich ein Dreidecker versenkt wurde, so können wir annehmen, daß auch die anderen russischen Schiffe wirklich sehr ernsthafte Beschädigungen während des Kampfes erlitten haben, so daß im Grunde genommen der Sieg bei Sinope die russische Flotte mehr geschwächt haben dürfte als die türkische. Als der Pascha von Ägypten von der Katastrophe bei Sinope erfuhr, befahl er, sogleich 6 Fregatten, 5 Korvetten und 3 Briggs auszurüsten, um die Lücken in der türkischen Flotte wieder zu schließen.

Die ägyptische Dampffregatte "Pervas-Bahri", die von der weit größeren russischen Dampffregatte "Wladimir" außer Gefecht gesetzt und nach nahezu fünfstündigem Kampf genommen wurde, war von Einschlägen derart durchlöchert, daß sie nur mit Mühe nach Sewastopol gebracht werden konnte, wo sie sofort sank. Die "Pervas-Bahri" wurde in den Hafen von Sewastopol nur mit Hilfe ihres ersten Maschinisten, des Engländers Bell, gesteuert, dem der Admiral Kornilow sofortige Freilassung versprochen hatte, wenn es ihm gelänge, das Schiff dorthin in Sicherheit zu bringen. Statt aber nach der Ankunft in Sewastopol freigelassen zu werden, wurden Herr Bell und die ihm unterstellten Maschinisten und Heizer in strenge Haft genommen und auf die kärgliche Ration von 3 Pence pro Tag gesetzt; außerdem gab man ihnen zu verstehen, daß sie in dieser rauhen Jahreszeit 80 Meilen zu Fuß ins Landinnere marschieren müßten. Der Zar und seine Minister billigten das Vorgehen Fürst Menschikows, des Befehlshabers von Sewastopol, und stellten sich taub gegenüber den Einwänden des britischen Konsuls in Odessa und des britischen Gesandten in St. Petersburg. Es ist bereits bekannt, daß bei der Schlacht von Sinope zwei englische Handelsschiffe, die in eigenen Geschäften unterwegs waren, ohne jeden Anlaß erbarmungslos in die allgemeine Vernichtung einbezogen wurden. Das Folgende ist die einfache Schilderung von der Zerstörung eines der beiden Schiffe, wie sie ein französisches Blatt bringt:

"Am 30. November hatte die Brigantine 'Howard' aus Bideford, einem Seehafen in Südengland, eine Ladung Kohlen für den österreichischen Konsul in Sinope, Herrn Pirentz, gelöscht und lag vor Anker, um Ballast zu laden und dann nach Fatsa zu segeln, wo sie eine Ladung Getreide übernehmen und nach England bringen sollte, als plötzlich die russische Flotte auftauchte und, ohne den fremden Schiffen ein Zeichen oder irgendeine Möglichkeit zu geben, sich außer Gefahr zu bringen, ein schweres <24> Kugel- und Bombenfeuer auf die vor Anker liegende türkische Flotte eröffnete und binnen weniger Minuten die 'Howard' und andere Handelsschiffe im Hafen vollständig zerstörte."

Mit dieser abscheulichen Verletzung des Völkerrechts wurde in dem Odessaer Tagesbericht geprahlt, während die russischen Zeitungen gleichzeitig in höhnischen Worten meldeten, daß zu einer Zeit, da die englische Flotte nicht wagte, ins Schwarze Meer einzulaufen, die englische Regierung die Benutzung ihrer Werften zur Überholung eines russischen Kriegsschiffes nicht abzulehnen wagte.

Die letzte Post hat uns weitere ergänzende Nachrichten über die jüngsten militärischen Ereignisse in Asien gebracht. Anscheinend sind die Türken gezwungen worden, den russischen Teil Armeniens gänzlich zu räumen, doch ist der genaue Ausgang der Gefechte, die diesen Rückzug veranlaßt haben, noch nicht bekannt. Ein türkisches Korps war auf direktem Wege von Ardagan nach Achalzych vorgedrungen, während eine andere Abteilung den südlichen Weg von Kars über Alexandropol (auf georgisch Gumry) nach Tiflis eingeschlagen hatte. Beide Gruppen scheinen auf die Russen gestoßen zu sein. Nach russischen Berichten wurden die Türken auf beiden Vormarschwegen geschlagen und verloren ungefähr 40 Kanonen. Offizielle türkische Berichte besitzen wir nicht; doch in Privatkorrespondenzen wird der Rückzug mit der Notwendigkeit begründet, Winterquartiere zu beziehen. Fest steht jedenfalls, daß die Türken das russische Territorium bis auf das Fort St. Nikolaja geräumt haben, daß die Russen sie verfolgten und daß sich ihre Vorhut sogar bis auf eine Meile vor Kars wagte, wo sie zurückgeschlagen wurde. Wir wissen außerdem, daß die türkische Armee Anatoliens, die sich aus den asiatischen Provinzen, dem Bollwerk der altmuselmanischen Barbarei, rekrutiert und in ihren Reihen eine große Anzahl irregulärer Truppen hat, unzuverlässige, wenngleich im allgemeinen tapfere Gelegenheitssoldaten, Abenteurer und kurdische Freibeuter -, daß die Armee Anatoliens nicht mit der beständigen, disziplinierten und ausgebildeten Armee Rumeliens zu vergleichen ist, wo der Befehlshaber weiß, wie viele und welche Leute er Tag für Tag unter seinem Kommando hat, und wo dem Drang nach Abenteuern auf eigene Faust und eigenmächtigem Plündern durch Kriegsartikel und Kriegsgerichte Einhalt geboten wird. Wir wissen, daß die Russen, denen es zu Beginn des asiatischen Feldzuges sehr an Truppen mangelte, durch die 13. Infanteriedivision (16.000 Mann) unter Generalleutnant Obrutschew II und eine Abteilung Donkosaken verstärkt wurden; wir wissen, daß es ihnen gelang, die Bergbewohner in Schranken zu halten und ihre Kommunikationen sowohl über den Kaukasus durch Wladikawkas als auch auf dem Seewege <25> nach Odessa und Sewastopol aufrechtzuerhalten. Wenn wir diese Umstände bedenken und berücksichtigen, daß der türkische Befehlshaber Abdi Pascha entweder ein Verräter oder ein Dummkopf war (er ist inzwischen abberufen und Achmed Pascha an seiner Stelle ernannt worden), brauchen wir uns überhaupt nicht zu wundern, wenn die Türken geschlagen worden sind, obgleich kein Zweifel daran bestehen kann, daß die russischen Tagesberichte gewöhnlich übertreiben.

An der Donau haben die Russen vor kurzem Matschin, eine an einem Donauarm gelegene Festung, angegriffen. Ein Dampfer und zwei Kanonenboote kreuzten auf; sie wurden von heftigem Feuer empfangen. Es heißt, die Kanonenboote seien zum Sinken gebracht und der Dampfer so stark beschädigt worden, daß er eilends umkehren mußte. Drei oder vier Scharmützel ereigneten sich teils zwischen den Vorposten bei Kalafat, teils zwischen den russischen Posten an der Donau und kleinen türkischen Abteilungen, die über den Strom setzten, um sie zu überrumpeln. Die Türken behaupten, in allen Gefechten die Oberhand behalten zu haben. Es ist zu bedauern, daß den türkischen irregulären Truppen, die sich ganz besonders für solche Aktionen eignen, nicht schon längst der Befehl gegeben wurde, diesen Kleinkrieg mit größter Aktivität zu führen. Sie wären den Kosaken überlegen gewesen, hätten das Vorpostensystem des Gegners, das notwendig unzulänglich ist, weil es sich über eine Länge von 300 Meilen erstreckt, desorganisiert; sie hätten die russischen Pläne gestört, genaue Kenntnis von den Bewegungen des Gegners erlangt und wären bei entsprechend vorsichtigem und kühnem Vorgehen in jedem Gefecht siegreich geblieben.

Aus soeben empfangenen telegraphischen Nachrichten geht hervor, daß

"am 6. d.M. eine 15.000 Mann starke türkische Division mit 15 Kanonen die verschanzte Stellung bei Cetate, unweit von Kalafat, angriff und im Sturm nahm; die Russen verloren 2.500 Mann; eine Verstärkung von 18.000 Russen, die von Karakal anrückte, wurde zum Rückzug gezwungen und verlor dabei 250 Mann".

Einem anderen Bericht zufolge hat sich die große Mehrheit der Bevölkerung der Kleinen Walachei gegen die Russen erhoben, und diese haben Krajowa belagert.

Unterdessen erschöpfte sich Rußland in Bemühungen, überall in der Welt, an den Grenzen Britisch-Indiens, in Persien, Serbien, Schweden, Dänemark etc., Köder auszuwerfen oder Furcht einzuflößen. In Persien war es zu einer Differenz zwischen dem britischen Gesandten und der Regierung des Schahs gekommen. Als der Schah schon nachgeben wollte, mischte sich der russische Gesandte in der Absicht ein, den Schah nicht nur gegen England <26> aufzuhetzen, sondern ihn außerdem zu offener Feindschaft mit der Pforte und zu einer Kriegserklärung an die Türken zu drängen. Dieses Ränkespiel soll jedoch vereitelt worden sein durch die Drohung des britischen Geschäftsträgers Thompson, aus Teheran abzureisen, sowie durch die Gefahr eines schlagartig ausbrechenden Unwillens des persischen Volkes gegen Rußland und durch das Eintreffen einer afghanischen Gesandtschaft, die mit einem Einfall der Afghanen in persisches Gebiet drohte, falls Persien ein Bündnis mit Rußland einginge.

Zur gleichen Zeit wurde Serbien von einer Unmenge russischer Agenten überschwemmt; sie erkundeten Orte und forschten nach Personen, von denen früher bekannt gewesen, daß sie der verbannten Dynastie der Obrenovi ergeben waren, sprachen mit dem einen über den jungen Fürsten Michael - mit den andren über seinen alten Vater Milos, nährten bald die Hoffnung in ihnen auf Ausdehnung der Grenzen Serbiens unter dem Schutz Rußlands, auf die Bildung eines neuen Königreichs Illyrien, das alle serbisch sprechenden Menschen vereinigen soll, die sich gegenwärtig unter der Herrschaft der Türkei und Österreichs befinden - bald drohten sie ihnen mit unzähligen Armeen und völliger Unterjochung, falls sie sich widersetzten. Trotz dieser in verschiedenen Richtungen unausgesetzt betriebenen Intrigen ist es Rußland nicht gelungen, die Bande zwischen den Serben und dem Sultan zu zerreißen; im Gegenteil, man erwartete in Belgrad zwei Fermane aus Konstantinopel, von denen der eine alle bestehenden Verbindungen zwischen Serbien und Rußland beseitigen und der andere alle dem serbischen Volk im Laufe der Zeit zugestandenen Privilegien bestätigen sollte. Ferner hat die russische Regierung eifrig Verhandlungen in Stockholm und Kopenhagen betrieben, mit dem Ziel, die Regierungen Schwedens und Dänemarks zu bewegen, in dem nahenden europäischen Konflikt sich auf Rußlands Seite zu stellen. Der Hauptzweck, den es mit einem solchen Bündnis verfolgt, ist, zu erreichen, daß der Sund und der Belt für die westlichen Mächte gesperrt werden. Alles, was es bisher erreicht hat, ist der Abschluß eines Vertrages zwischen Schweden, Dänemark und Preußen über eine bewaffnete Neutralität und sind Rüstungsvorbereitungen, die sich offenkundig gegen Rußland selbst richten. Privatkorrespondenzen aus Schweden frohlocken über die Möglichkeit, das Herzogtum Finnland, das von Rußland ohne Kriegserklärung so schändlich in Besitz genommen wurde, dem Skandinavischen Königreich wieder einzuverleiben. In Dänemark ist die Haltung des Hofes, nicht des Volkes, fragwürdiger. Es geht sogar das Gerücht, der jetzige dänische Minister des Auswärtigen werde zurücktreten, und seinen Platz werde Graf Reventlow-Criminil einnehmen, ein Mann, der für seine engen Beziehungen <27> zum St. Petersburger Hof bekannt ist. In Frankreich hatte die "Fusion" der Orleanisten und Legitimisten dank Rußlands Einwirken einigen Erfolg; unterdessen setzt dieselbe Macht Himmel und Hölle in Bewegung, um die Entente cordiale zwischen den Regierungen Englands und Frankreichs zu untergraben und Zwietracht zwischen ihnen zu säen. Einige Pariser Zeitungen, die von Kisselew bezahlt werden, versuchen Mißtrauen gegen die Aufrichtigkeit der englischen Regierung zu wecken, und wie wir sehen, stellt auch in England eine Zeitung, die von Brunnow bezahlt wird, ihrerseits die Aufrichtigkeit der französischen Regierung in Zweifel. Ein weiterer Schlag, der sich hauptsächlich gegen die Westmächte richtet, ist das russische Verbot über die Ausfuhr von polnischem Getreide.

Indessen waren die Schritte der westlichen Diplomatie keinesfalls rußlandfeindlich, sondern zeigten im Gegenteil eher eine allzu eifrige Neigung, der Gerechtigkeit aus dem Weg und mit dem Verbrechen zusammenzugehen. Es leuchtet jetzt jedem ein, daß diese Schritte falsch und verhängnisvoll gewesen sind. Die Wiedergeburt der Wiener Konferenz und das dort am 5. v.M. abgefaßte Protokoll, das Schreiben des französischen und des britischen Gesandten in Konstantinopel an Reschid Pascha, die gemeinsame Note der vier Großmächte, die am 15. v.M. der Pforte überreicht und am 31. vom Sultan angenommen wurde, das Zirkular von Drouyn de Lhuys vom 30. v.M. an die französischen diplomatischen Vertreter, worin die Einfahrt der vereinigten Flotten ins Schwarze Meer angezeigt wird - dies sind die wesentlichen Ereignisse aus der diplomatischen Geschichte der letzten sechs Wochen. Über den Inhalt des Protokolls der Wiener Konferenz werden Ihre Leser schon früher unterrichtet worden sein. Kann es etwas Lächerlicheres geben als die darin enthaltene Behauptung,

"die zu wiederholten Malen vom Kaiser von Rußland gegebenen Versicherungen schlossen den Gedanken aus, daß dieser erlauchte Souverän irgendwelche Absichten eines Angriffs auf die Integrität des Ottomanischen Reiches habe".

Kann es etwas Gemeineres geben, als der Türkei es für angemessen zu empfehlen, in einen Waffenstillstand von drei Monaten einzuwilligen? Am 5. v.M., zwei Tage, nachdem die Berichte von dem schändlichen Gemetzel bei Sinope in Konstantinopel eingetroffen waren, richtete Reschid Pascha ein Schreiben an Lord Stratford de Redcliffe und General Baraguay d'Hilliers, worin er ihnen die Nachrichten aus Sinope mitteilte und darum bat, die Flotten ins Schwarze Meer einlaufen zu lassen. Am 12., eine Woche nach Reschid Paschas Note, gaben ihm die beiden Gesandten in einer recht unbestimmten Antwort zu verstehen, daß

<28> "die Anwesenheit des Vereinigten Geschwaders 'politische Bedeutung' hat, folglich keine militärische, und daß sie eine 'moralische Unterstützung' ist, folglich keine militärische".

Auf diese Weise wurde die Pforte zur Annahme der ihr am 15. Dezember überreichten gemeinsamen Note der vier Mächte gezwungen. Diese Note gewährt der Pforte nicht nur keinerlei Entschädigung für die Verluste, die sie durch die Piratenstreiche des Autokraten erlitten hat; sie besteht nicht nur auf der Erneuerung all der alten Verträge von Kainardschi, Adrianopel, Hunkiar-Iskelessi etc., die Rußland anderthalb Jahrhundert lang als Arsenal gedient haben, dem es die Waffen zum Betrug, zur Einmischung, zum weiteren Vordringen und zur Einverleibung entnommen hat; sie gestattet dem Zaren auch, seine Absicht - das religiöse Protektorat und das administrative Diktat über die Türkei - zu erreichen, wenn sie festlegt, daß

"die von der Hohen Pforte an alle ihre nicht-muselmanischen Untertanen in bezug auf die oktroyierten geistlichen Privilegien erlassenen Fermane allen Mächten mitgeteilt und von angemessenen, jeder derselben gemachten Zusicherungen begleitet sein sollen"

und daß die Pforte ihrerseits den festen Entschluß aussprechen solle, ihr Verwaltungssystem und innere Reformen wirksamer zu entwickeln.

Obwohl diese neuen Vorschläge dem Buchstaben nach das gemeinsame Protektorat über die christlichen Untertanen der Türkei den fünf europäischen Mächten übertragen, gehen sie doch in Wahrheit das Protektorat allein an Rußland. Es soll so geregelt werden, daß Frankreich und Österreich als römisch-katholische Länder über die römisch-katholischen Christen in der Türkei das Protektorat ausüben, England und Preußen als protestantische Länder über die protestantischen Untertanen des Sultans, während jener Teil, der sich zum griechisch-orthodoxen Glauben bekennt, dem Protektorat Rußlands unterstellt werden soll. Da nun aber die Katholiken keine 800.000 und die Protestanten noch nicht einmal 200.000, die sich zur griechisch-orthodoxen Religion Bekennenden aber nahezu 10.000.000 zählen, ist es klar, daß tatsächlich der Zar das Protektorat über die christlichen Untertanen in der Türkei erlangen würde. Diese Vorschläge der vier Mächte wurden von der Pforte erst am 19. v.M. angenommen, als Riza Pascha und Halil Pascha ins Kabinett eintraten und damit den Erfolg der Friedens- oder russischen Partei sicherten.

Als bekannt wurde, daß der Ministerrat die vier Gesandten über die Annahme der von ihnen angeregten Vorschläge in Kenntnis gesetzt hatte, versammelten sich am 21. v.M. die Softas (Studenten), um eine Petition gegen <29> den Beschluß der Regierung einzureichen, und nur die Verhaftung der Anführer verhinderte den Ausbruch von Unruhen. Die in Konstantinopel herrschende Erbitterung war so groß, daß es der Sultan den folgenden Tag weder wagte, sich in den Diwan zu begeben, noch wie gewöhnlich unter Kanonendonner und Hurrageschrei der Besatzungen ausländischer Kriegsschiffe zur Moschee von Top-hane zu ziehen, und Reschid Pascha aus seinem eigenen Palast in Stambul floh und in dem an die Residenz des Sultans angrenzenden Palast Zuflucht suchte. Am nächsten Tag wurde die Öffentlichkeit etwas beruhigt durch eine Erklärung des Sultans, daß die militärischen Operationen nicht eingestellt würden.

Diese verworrenen, kleinmütigen und unbegreiflichen Schritte der westlichen Diplomatie, die während der düsteren Geschichte der letzten neun Monate die Geduld der Öffentlichkeit nahezu erschöpften, haben Zweifel an der Aufrichtigkeit der britischen Regierung aufkommen lassen. Da die Öffentlichkeit die Beweggründe für die Langmut der westlichen Mächte nicht verstehen kann, spricht man von geheimen Einflüssen, und es werden eifrig Gerüchte verbreitet, daß sich Prinz Albert, der Gemahl der Königin, in die Geschäfte der Exekutive einmische; daß er nicht nur bei den Beratungen der Herrscherin mit ihrem Geheimen Rat zugegen sei, sondern auch seinen Einfluß zur Kontrolle der Ansichten der verantwortlichen Ratgeber ausnutze, und daß, während er die Gelegenheit wahrnimmt, den Zusammenkünften der Königin mit ihren Ministern beizuwohnen, er auch in ständiger und direkter Verbindung mit ausländischen Höfen stehe, einschließlich des russischen, den französischen allerdings ausgenommen. Anderen Gerüchten zufolge soll die "Fusion" der Orleans und der älteren Linie der Bourbonen, des einstigen französischen Königshauses, fast ebensoviel Unterstützung vom britischen Hof erhalten wie vom russischen, und zum Beweise dessen verweist man auf den Besuch des Herzogs von Nemours am Hofe Königin Victorias, der unmittelbar nach dem Treffen mit "Heinrich dem Fünften" erfolgte. Ein viertes Gerücht, nach dem die Verhandlungen über die orientalische Frage mit Zustimmung Rußlands ausschließlich Graf Buol-Schauenstein, dem Schwager des Grafen Meyendorf, übertragen worden seien, wird als Beweis dafür angeführt, daß die englische Regierung niemals selbständige oder wirksame Verhandlungen gewünscht, sondern von Anfang an versucht habe, die Pläne Rußlands und seiner Alliierten zu unterstützen, während sie den Anschein erweckte, daß sie gegen Rußland sei. Es gilt als ziemlich sicher, daß Roebuck die gesamte Frage des coburgischen Einflusses vor das Unterhaus bringen wird, während Lord Brougham beabsichtigt, sie vor das Oberhaus zu bringen. Ohne Zweifel bildet der coburgische Einfluß gegenwärtig <30> das fast ausschließliche Gesprächsthema der Hauptstadt. Das Parlament wird am 31. d.M. wieder zusammentreten.

Seit 1809 hat es keinen so strengen Winter gegeben wie den jetzigen. Die große Kälte ist noch nicht das Ärgste; weit schlimmer ist der ständige Temperaturwechsel und Wetterumschlag. Der Zugverkehr wurde nur unter größten Schwierigkeiten aufrechterhalten; in einigen Gebieten scheint der Verkehr ganz abgeschnitten zu sein, und mit dem Zustand seiner Verkehrsmittel ist England in längst vergessene Zeiten zurückgeworfen. Um die Beschwerlichkeiten beim Übersenden von Geschäftspapieren, die durch Schneeverwehungen aufgehalten worden sind, zu mildern und Wechselproteste bei unerklärter Nichteinlösung zu vermeiden, hat man sich des elektrischen Telegraphen bedient. Dennoch veranschaulichen mehr als 500 Wechselproteste in London das durch die ungewöhnlich rauhe Jahreszeit hervorgerufene allgemeine Durcheinander. Die Zeitungen sind voller Meldungen von furchtbaren, durch Schneestürme und Sturmwinde verursachten Schiffskatastrophen, besonders an der Ostküste. Obgleich die kürzlich veröffentlichten Tabellen über Handel, Schiffahrt und Staatseinkünfte ein Anhalten jener Prosperität anzeigen, mit der das Jahr 1853 begonnen hatte, wirken sich der harte Winter und Hand in Hand mit ihm die Teuerung der wichtigsten Bedarfsgüter, besonders bei Getreide, Kohlen und Fett, sehr schwer auf die Lage der unteren Klassen aus. Zahlreiche Fälle von Hungertod sind vorgekommen. Brotunruhen im Westen bilden jetzt eine Begleiterscheinung zu den Aussperrungen im Norden.

Zeitmangel zwingt uns jedoch, einen ausführlichen Bericht über Handel und Gewerbe auf einen folgenden Brief zu verschieben.