Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 168-176
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

[Die Kriegserklärung -
Zur Geschichte der orientalischen Frage]

Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4054 vom 15. April 1854]

<168> London, Dienstag, 28. März 1854.

Endlich ist der Krieg erklärt worden. Die königliche Betschaft wurde gestern beiden Häusern des Parlaments verlesen - im Oberhaus durch Lord Aberdeen, im Unterhaus durch Lord J. Russell. Sie erläutert die Maßnahmen, die getroffen werden sollen, "um den Übergriffen Rußlands gegen die Türkei aktiv entgegenzutreten". Morgen wird die "London Gazette" die offizielle Kriegserklärung veröffentlichen, und am Freitag wird die Antwortadresse auf diese Botschaft Gegenstand der Parlamentsdebatte sein.

Gleichzeitig mit der englischen Erklärung erfolgte eine entsprechende Betschaft Louis-Napoleons an seinen Senat und an das Corps Législatif.

Die Kriegserklärung an Rußland konnte nicht länger hinausgeschoben werden, nachdem Hauptmann Blackwood, der Überbringer des englisch-französischen Ultimatissimums an den Zaren, vergangenen Sonnabend mit der Antwort zurückgekehrt war, Rußland wolle dieses Dokument überhaupt nicht beantworten. Ganz vergebens war indessen die Mission Hauptmann Blackwoods nicht. Rußland hat durch sie den Monat März gewonnen, diese für die russischen Streitkräfte gefährlichste Jahreszeit.

Die Veröffentlichung der Geheimkorrespondenz zwischen dem Zaren und der englischen Regierung hat incredibile dictu <unglaublicherweise>, anstatt einen Ausbruch öffentlicher Entrüstung gegen letztere hervorzurufen, die gesamte Tages- und Wochenpresse veranlaßt, England zu seinem wahrhaft nationalen Ministerium zu beglückwünschen. Mir ist jedoch bekannt, daß man eine Versammlung einberufen will, um der verblendeten britischen Öffentlichkeit die Augen zu öffnen über die wirkliche Haltung der Regierung. Sie soll nächsten <169> Donnerstag in der Music-Hall, Store Street, stattfinden, und man erwartet, daß Lord Ponsonby, Herr Layard, Herr Urquhart etc. an ihr teilnehmen.

Der "Hamburger Correspondent" bringt folgende Nachricht:

"Nach Berichten aus St. Petersburg, die am 16. d.M. hier eintrafen, wird die russische Regierung mit Veröffentlichung der die orientalische Frage betreffenden Aktenstücke fortfahren. Unter den zur Veröffentlichung bestimmten Dokumenten sollen sich auch einige Briefe, die Prinz Albert geschrieben, befinden."

Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß die Regierung am gleichen Abend, in dem im Unterhaus die königliche Botschaft verlesen wurde, ihre erste Niederlage in der gegenwärtigen Session erlitt; die zweite Lesung der Poor-Settlement and Removal Bill wurde trotz der Bemühungen der Regierung mit 209 gegen 183 Stimmen auf den 28. April vertagt. Diese Niederlage verdankt die Regierung keinem andern als Mylord Palmerston.

"Seine Lordschaft", schreibt die heutige "Times", "hat es fertiggebracht, sich und seine Kollegen zwischen zwei Feuer zu bringen" (die Tories und die Irische Partei), "und es besteht nicht viel Aussicht, daß diese das unter sich allein austragen können."

Man teilt uns mit, daß am 12. d.M. der Vertrag einer Tripleallianz zwischen Frankreich, England und der Türkei unterzeichnet wurde, daß aber der Großmufti, obwohl sich der Sultan persönlich an ihn wandte, unterstützt von dem Korps der Ulemas, sich weigerte, sein Fetwa abzugeben, das die Bestimmung über die Veränderungen der Lage der Christen in der Türkei sanktioniert, da diese im Gegensatz zu den Vorschriften des Koran ständen. Dieser Nachricht muß anscheinend um so größere Bedeutung beigelegt werden, als sie Lord Derby zu folgender Bemerkung veranlaßte:

"Ich möchte nur meine tiefsten Hoffnungen ausdrücken, daß die Regierung erklärt, ob etwas Wahres an der in den letzten Tagen verbreiteten Meldung ist, daß in diesem Übereinkommen zwischen England, Frankreich und der Türkei sich Artikel finden über die Errichtung eines Protektorats von unserer Seite aus, welches wenigstens ebenso zu verurteilen wäre wie ein russisches Protektorat, dem wir uns widersetzen."

Die heutige "Times" erklärt, daß die Politik der Regierung derjenigen Lord Derbys gerade entgegengesetzt sei, und fügt hinzu:

"Wir würden sehr bedauern, wenn die Bigotterie des Mufti oder der Ulemas den Erfolg hätte, einen ernsthaften Widerstand gegen diese Politik hervorzurufen."

Um sowohl das Wesen der Beziehungen zwischen der türkischen Regierung und den geistlichen Gewalten der Türkei zu begreifen als auch die Schwierigkeiten, in die die erstere gegenwärtig verwickelt ist, wo es sich um das Protektorat über die christlichen Untertanen der Pforte handelt, um die <170> Frage also, die den gegenwärtigen Wirren im Orient offenkundig zugrunde liegt, muß man einen Rückblick auf die frühere Geschichte und Entwicklung der Pforte werfen.

Der Koran und die auf ihm fußende muselmanische Gesetzgebung reduzieren Geographie und Ethnographie der verschiedenen Völker auf die einfache und bequeme Zweiteilung in Gläubige und Ungläubige. Der Ungläubige ist "harby", d.h. der Feind. Der Islam ächtet die Nation der Ungläubigen und schafft einen Zustand permanenter Feindschaft zwischen Muselmanen und Ungläubigen. In diesem Sinne waren die Seeräuberschiffe der Berberstaaten die heilige Flotte des Islam. Wie läßt sich nun das Vorhandensein christlicher Untertanen im Reiche der Pforte mit dem Koran vereinbaren?

"Wenn sich eine Stadt durch Kapitulation ergibt", sagt die muselmanische Gesetzgebung, "und ihre Bewohner einwilligen, Rajahs zu werden, das heißt Untertanen eines muselmanischen Herrschers, ohne ihren Glauben aufzugeben, so zahlen sie den Charadsch" (die Kopfsteuer); "damit erlangen sie einen Waffenstillstand mit den Gläubigen, und niemand mehr darf ihre Güter konfiszieren oder ihnen ihre Häuser wegnehmen ... In diesem Falle sind ihre alten Kirchen Bestandteil ihres Besitzes; sie dürfen darin Andachten verrichten. Es ist ihnen jedoch nicht erlaubt, neue Kirchen zu bauen. Sie haben nur das Recht, sie wiederherzustellen und verfallende Teile der Gebäude wiederaufzubauen. Zu bestimmten Zeiten sollen von den Gouverneuren der Provinzen abgesandte Kommissare die Kirchen und Heiligtümer der Christen überprüfen, um festzustellen, ob nicht unter dem Vorwand von Ausbesserungsarbeiten neue Gebäude errichtet wurden. Wird eine Stadt gewaltsam erobert, so können die Bewohner ihre Kirchen weiterhin benutzen, jedoch nur als Wohnstätten oder Zufluchtsorte, nicht aber zur Verrichtung von Andachten."

Da Konstantinopel sich durch Kapitulation ergab, wie überhaupt der größte Teil der Europäischen Türkei, so genießen die Christen daselbst das Privileg, als Rajahs unter der türkischen Regierung zu leben. Sie besitzen dieses Privileg ausschließlich deshalb, weil sie einwilligten, sich unter muselmanischen Schutz zu stellen. Nur aus diesem Grunde lassen sich die Christen von den Muselmanen nach muselmanischem Gesetz regieren, so daß ihr kirchliches Oberhaupt, der Patriarch von Konstantinopel, gleichzeitig ihr politischer Vertreter und ihr höchster Gerichtsherr ist. Wo wir auch im Ottomanischen Reich eine Ansammlung griechisch-orthodoxer Rajahs fänden, sind die Erzbischöfe und Bischöfe gesetzlich auch Mitglieder der Munizipalräte und regeln unter der Leitung des Patriarchen die Verteilung der Steuern, die den Griechisch-Orthodoxen auferlegt werden. Der Patriarch ist der Pforte für das Betragen seiner Glaubensgenossen verantwortlich. Er hat das Recht, <171> über die Rajahs seiner Kirche zu richten, und überträgt dieses Recht den Metropoliten und Bischöfen innerhalb ihrer Diözesen; deren Rechtsprüche müssen von den Exekutivbeamten der Pforte, den Kadis etc., ausgeführt werden. Sie haben das Recht, Strafen zu verhängen, und zwar Geldstrafen, Gefängnisstrafen, Bastonaden und Verbannung. Außerdem verleiht ihnen ihre eigene Kirche die Macht der Exkommunikation. Unabhängig von dem Betrag der Geldstrafen erheben sie noch verschiedene Gebühren für Zivil- und Handelsprozesse. Jede Stufe der geistlichen Hierarchie hat ihren Kaufpreis. Der Patriarch zahlt an den Diwan einen hohen Tribut, um seine Investitur zu erlangen; seinerseits aber verkauft er wieder die Erzbischofs- und Bischofswürde an die Geistlichkeit seines Glaubens. Diese letztere hält sich durch den Verkauf von subalternen Stellen und durch den von den Popen eingetriebenen Tribut schadlos. Diese wiederum verkaufen stückweis die Macht, die sie von ihren Vorgesetzten erkauft haben, und treiben Handel mit jedem Akt ihres geistlichen Amtes, so mit Taufen, Heiraten, Ehescheidungen und Testamenten.

Aus diesem Exposé ist klar ersichtlich, daß Dreh- und Angelpunkt des Systems der Priesterherrschaft über die griechisch-orthodoxen Christen in der Türkei und der gesamten Struktur der türkischen Gesellschaft die Unterwerfung der Rajahs unter den Koran ist, der seinerseits, indem er diese als Ungläubige behandelt - das heißt als eine Nation nur im religiösen Sinne -, die vereinigte geistliche und weltliche Macht ihrer Priester sanktioniert. Schafft man also ihre Unterwerfung unter den Koran durch eine zivile Emanzipation ab, so hebt man gleichzeitig ihre Unterwerfung unter die Geistlichkeit auf und ruft eine Revolution in ihren sozialen, politischen und religiösen Verhältnissen hervor, die sie zunächst unvermeidlich an Rußland ausliefern muß. Wer den Koran durch einen code civil <ein Bürgerliches Gesetzbuch> ersetzt, der muß die ganze Struktur der byzantinischen Gesellschaft nach abendländischem Muster verändern.

Nach der Schilderung der Beziehungen zwischen den Muselmanen und ihren christlichen Untertanen taucht die Frage auf nach den Beziehungen zwischen Muselmanen und ungläubigen Ausländern.

Da der Koran jeden Ausländer zum Feind erklärt, so wird niemand wagen, in einem muselmanischen Land aufzutreten, ohne seine Vorsichtsmaßregeln getroffen zu haben. Die ersten europäischen Kaufleute, die das Risiko des Handels mit solch einem Volk auf sich nahmen, gedachten deshalb, sich anfänglich für ihre Person Ausnahmebedingungen und Privilegien <172> zu sichern, die sich aber später auf ihre ganze Nation ausdehnten. Daher rührt der Ursprung der Kapitulationen. Kapitulationen sind kaiserliche Diplome, Privilegiumsurkunden, die von der Pforte an verschiedene europäische Nationen verliehen werden und deren Untertanen berechtigen, ungehindert mohammedanische Länder zu betreten, in Ruhe dort ihre Geschäfte zu betreiben und ihren Gottesdienst abzuhalten. Von Verträgen unterscheiden sie sich durch den wichtigen Umstand, daß sie nicht auf Gegenseitigkeit beruhen, von den abschließenden Parteien nicht gemeinsam debattiert werden und nicht auf der Grundlage gegenseitiger Vorteile und Konzessionen von ihnen angenommen sind. Die Kapitulationen sind im Gegenteil einseitige Konzessionen von seiten der Regierung, die sie gewährt, weshalb sie auch von dieser nach Belieben wieder zurückgenommen werden können. Die Pforte hat tatsächlich zu verschiedenen Zeiten die Privilegien, die sie einer Nation zugestand, dadurch aufgehoben, daß sie sie auch anderen verlieh oder sie gänzlich zurückzog, indem sie deren ferneren Gebrauch untersagte. Dieser unsichere Charakter der Kapitulationen machte sie zu einer nie versiegenden Quelle von Streitigkeiten, von Klagen seitens der Gesandten und von einem endlosen Austausch sich widersprechender Noten und Fermane, die bei jedem Regierungswechsel erneuert wurden.

Diese Kapitulationen sind es, aus denen sich das Recht eines Protektorats ausländischer Mächte herleitet, nicht über die christlichen Untertanen der Pforte - die Rajahs -, sondern über deren Glaubensgenossen, die die Türkei besuchen oder dort als Ausländer wohnen. Die erste Macht, die ein solches Protektorat erlangte, war Frankreich. Die Kapitulationen, abgeschlossen zwischen Frankreich und der Ottomanischen Pforte 1535 unter Suleiman dem Großen und Franz I., 1604 unter Achmed I. und Heinrich IV. und 1673 unter Mechmed IV. und Ludwig XIV., wurden 1740 in einer Sammlung erneuert, bestätigt, rekapituliert und vermehrt, die den Titel trug "Alte und neue Kapitulationen und Verträge zwischen dem Hofe von Frankreich und der Ottomanischen Pforte, erneuert und vermehrt im Jahre 1740 A.D. und 1153 der Hedschra, übersetzt" (die erste offizielle, von der Pforte sanktionierte Übersetzung) "zu Konstantinopel durch Herrn Deval, Sekretär-Dolmetsch des Königs und dessen erster Dragoman bei der Ottomanischen Pforte". Artikel 32 dieses Übereinkommens legt das Recht Frankreichs zu einem Protektorat über alle Klöster fest, in denen man sich zur fränkischen Religion bekennt, welcher Nation sie auch angehören mögen, und über alle fränkischen Besucher der Heiligen Stätten.

Rußland war die erste Macht, die 1774 eine nach dem Beispiel Frankreichs abgefaßte Kapitulation in einen Vertrag einfügte - in den Vertrag von <173> Kainardschi. Auch Napoleon hielt es 1802 für zweckmäßig, Bestand und Fortdauer der Kapitulation zum Gegenstand eines Vertragsartikels zu machen und ihr den Charakter eines gegenseitig bindenden Vertrags zu verleihen.

In welcher Beziehung steht nun die Frage der Heiligen Stätten zu dem Protektorat?

Die Frage der Heiligen Stätten ist nichts anderes als die Frage eines Protektorats über die in Jerusalem angesiedelten Religionsgemeinden der griechisch-orthodoxen Christen und über die Gebäude, die sie auf dem heiligen Boden besitzen, insbesondere über die Kirche des Heiligen Grabes. Es versteht sich, daß Besitz in diesem Falle nicht Eigentum bedeutet, das den Christen durch den Koran untersagt ist, sondern nur das Recht der Nutznießung. Dieses Recht der Nutznießung schließt die anderen Gemeinden keineswegs davon aus, ihre Andacht an demselben Ort zu verrichten; die Besitzer haben keine weiteren Privilegien als das Recht, die Schlüssel zu behalten, die Gebäude instand zu halten und zu betreten, die Heilige Lampe zu entzünden, die Räume mit dem Besen zu fegen und die Teppiche auszubreiten, was im Orient ein Symbol des Besitzes ist. Ebenso wie die Christenheit an den Heiligen Stätten ihren Höhepunkt erreicht, hat auch die Frage des Protektorats daselbst ihren höchsten Ausdruck gefunden.

Teile der Heiligen Stätten und der Kirche des Heiligen Grabes sind im Besitze der Katholiken, Griechisch-Orthodoxen, Armenier, Abessinier, Syrer und Kopten. Zwischen all diesen verschiedenen Prätendenten kam es nun zu einem Konflikt. Die Souveräne Europas, die in diesem religiösen Streit eine Frage ihres Einflusses im Orient sahen, wandten sich zuerst an die Herren des Grund und Bodens, fanatische und gierige Paschas, die ihre Stellung mißbrauchten. Die Ottomanische Pforte und ihre Agenten befolgten ein höchst ermüdendes Systeme de bascule <Schaukelsystem>, gaben abwechselnd den Katholiken, Griechisch-Orthodoxen und Armeniern recht, forderten und erhielten Gold von allen Seiten und machten sich über sie alle lustig. Kaum hatten die Türken einen Ferman zugestanden, der das Recht der Katholiken auf den Besitz eines strittigen Ortes anerkannte, als sich die Armenier mit einer noch volleren Börse einstellten und sogleich einen entgegengesetzten Ferman durchsetzten. Dieselbe Taktik wurde den Griechisch-Orthodoxen gegenüber befolgt, die es überdies verstanden, wie offiziell in verschiedenen Fermanen der Pforte und in "hudjets" (Gutachten) ihrer Agenten bezeugt wird, sich rechtswidrige und unechte Anrechte zu verschaffen. Bei anderen Gelegen- <174> heiten wurden die Entscheidungen der Regierung des Sultans durch die Habgier und das Übelwollen der Paschas und Subalternagenten in Syrien vereitelt. Dann mußten neue Verhandlungen gepflogen, neue Kommissare ernannt und neue Geldopfer gebracht werden. Was die Pforte in früheren Zeiten aus pekuniären Beweggründen tat, tut sie heutzutage aus Furcht, um Schutz und Begünstigung zu erhalten. Nachdem sie den Forderungen Frankreichs und den Ansprüchen der Katholiken gerecht geworden ist, beeilte sie sich, Rußland und den Griechisch-Orthodoxen dieselben Bedingungen einzuräumen, um auf diese Weise einem Sturm zu entgehen, dem zu begegnen sie sich ohnmächtig fühlt. Es gibt kein Heiligtum, keine Kapelle, keinen Stein von der Kirche des Heiligen Grabes, bei denen man nicht den Versuch gemacht hätte, sie zur Entfachung eines Streits zwischen den verschiedenen christlichen Gemeinden auszunutzen.

Alle die verschiedenen christlichen Sekten, die sich um das Heilige Grab gruppieren, verbergen hinter ihren religiösen Forderungen ebenso viele politische und nationale Nebenbuhlerschaften.

Jerusalem und die Heiligen Stätten bewohnen Nationen, die sich nach ihrem religiösen Bekenntnis unterteilen in Katholiken, Griechisch-Orthodoxe, Armenier, Kopten, Abessinier und Syrier. Es gibt 2.000 Griechisch-Orthodoxe, 1.000 Katholiken, 350 Armenier, 100 Kopten, 20 Syrier und 20 Abessinier - im ganzen 3.490. Im Ottomanischen Reich zählt man 13.730.000 Griechisch-Orthodoxe, 2.400.000 Armenier und 900.000 Katholiken. Diese sind alle wiederum unterteilt. Die griechisch-orthodoxe Kirche, von der ich oben sprach, die den Patriarchen von Konstantinopel anerkennt, unterscheidet sich wesentlich von der russisch-orthodoxen, deren geistliches Oberhaupt der Zar ist, und von den Hellenen, deren Oberhäupter der König und die Synode von Athen sind. Ähnlich unterteilen sich die Katholiken in Römisch-Katholische, Griechisch-Unierte und Maroniten, die Armenier in Gregorianische und Armenisch-Katholische; denselben Teilungen unterliegen Kopten und Abessinier. Die drei an den Heiligen Stätten vorherrschenden Religionen sind die griechisch-orthodoxe, die katholische und die armenische. Die katholische Kirche, kann man sagen, repräsentiert vorwiegend lateinische Völker, die griechisch-orthodoxe Kirche Slawen, Turkoslawen und Hellenen, und die anderen Kirchen Asiaten und Afrikaner.

Man stelle sich vor, daß alle diese streitenden Völkerschaften das Heilige Grab belagern, daß die Mönche sich bekriegen und der scheinbare Gegenstand ihrer Kämpfe ein Stern aus der Grotte Bethlehems, ein Teppich, der Schlüssel zu einem Heiligtum, ein Altar, ein Schrein, ein Stuhl, ein Kissen - irgendein lächerlicher Vorteil ist!

<175> Um einen solchen Mönchskreuzzug zu verstehen, ist es unerläßlich, erstens ihre Lebensweise und zweitens die Art ihrer Behausungen ins Auge zu fassen.

"Alle diese religiösen Abfälle verschiedener Nationen", erzählte vor kurzem ein Reisender <Famin>, "leben in Jerusalem voneinander abgesondert, feindlich und mißtrauisch, eine nomadische Bevölkerung, die sich ständig aus Pilgern rekrutiert und durch Pest und Elend dezimiert wird. Der Europäer stirbt oder kehrt nach einigen Jahren nach Europa zurück, die Paschas und ihre Garde gehen nach Damaskus oder Konstantinopel, und die Araber fliehen in die Wüste. Jerusalem ist ein Ort, wohin jeder einmal reist, doch wo niemand bleibt. Jeder in der heiligen Stadt erwirbt seinen Unterhalt durch seine Religion - die Griechisch-Orthodoxen oder die Armenier von den 12.000 oder 13.000 Pilgern, die jährlich Jerusalem besuchen, die Katholiken von den Subsidien und Almosen, die sie von ihren Glaubensgenossen in Frankreich, Italien etc. bekommen."

Außer ihren Klöstern und Heiligtümern besitzen die christlichen Nationen in Jerusalem kleine Wohnräume oder Zellen, die an die Kirche des Heiligen Grabes angebaut sind und von den Mönchen bewohnt werden, die Tag und Nacht diesen heiligen Ort bewachen müssen. Zu bestimmten Zeiten werden diese Mönche in ihren Pflichten durch ihre Brüder abgelöst. Diese Zellen haben nur eine Tür, die sich nach dem Inneren des Tempels öffnet; ihre Nahrung erhalten diese geistlichen Wächter durch ein Pförtchen von außen. Die Türen der Kirche sind verschlossen und werden von Türken bewacht, die sie nur gegen Bezahlung öffnen und je nach ihrer Laune oder Habgier schließen.

Die Streitigkeiten zwischen Geistlichen sind die giftigsten, sagt Mazarin. Nun denke man sich diese Geistlichen, die nicht nur von, sondern auch in diesen Heiligtümern miteinander leben müssen!

Um das Bild zu vollenden, sei daran erinnert, daß die Väter der katholischen Kirche, die sich fast ausschließlich aus Römern, Sardiniern, Neapolitanern, Spaniern und Österreichern zusammensetzen, alle gleich eifersüchtig sind auf das französische Protektorat und es gern durch ein österreichisches, sardinisches oder neapolitanisches ersetzen möchten; die Könige von Sardinien und Neapel führen beide schon den Titel König von Jerusalem. Dazu kommt noch, daß die ansässige Bevölkerung Jerusalems etwa 15.500 Seelen zählt, worunter 4.000 Muselmanen und 8.000 Juden sind. Die Muselmanen, die etwa ein Viertel der ganzen Bevölkerung bilden und aus Türken, Arabern und Mauren bestehen, sind selbstverständlich in jeder Hinsicht die Herren, denn bei der Schwäche ihrer Regierung in Konstantinopel sind sie in keiner <176> Weise beengt. Nichts gleicht aber dem Elend und den Leiden der Juden in Jerusalem, die den schmutzigsten Flecken der Stadt bewohnen, genannt Harêth-el-Yahud, im Viertel des Schmutzes zwischen Zion und Moria, wo ihre Synagogen liegen; sie sind unausgesetzt Gegenstand muselmanischer Unterdrückung und Unduldsamkeit, von den Griechisch-Orthodoxen beschimpft, von den Katholiken verfolgt und nur von den spärlichen Almosen lebend, die ihnen von ihren europäischen Brüdern zufließen. Die Juden sind jedoch keine Ureinwohner, sondern kommen aus verschiedenen entfernten Ländern und werden nach Jerusalem nur durch den Wunsch gezogen, das Tal Josaphat zu bewohnen und an denselben Stellen zu sterben, wo der Erlöser erscheinen soll.

"In Erwartung des Todes", sagt ein französischer Schriftsteller <Famin>, "leiden sie und beten. Ihre Blicke auf den Berg Moria gerichtet, wo sich einst der Tempel Salomos erhob und dem sie sich nicht nähern dürfen, vergießen sie Tränen über das Unglück Zions und ihre Zerstreuung in der ganzen Welt."

Um das Maß der Leiden dieser Juden voll zu machen, ernannten England und Preußen 1840 einen anglikanischen Bischof in Jerusalem, dessen offen zugegebene Aufgabe ihre Bekehrung ist. 1845 wurde er fürchterlich durchgeprügelt und von Juden, Christen und Türken gleicherweise verhöhnt. Von ihm kann man tatsächlich sagen, er habe den ersten und einzigen Anlaß zu einer Einigung zwischen sämtlichen Religionen in Jerusalem gegeben.

Man wird nun begreifen, weshalb der gemeinsame Gottesdienst der Christen an den Heiligen Stätten sich auflöst in eine Folge wüster Prügeleien zwischen den verschiedenen Sekten der Gläubigen; daß sich andrerseits hinter diesen religiösen Prügeleien nur ein weltlicher Kampf nicht nur von Nationen, sondern von Völkerschaften verbirgt, und daß das Protektorat über die Heiligen Stätten, das dem Westeuropäer so lächerlich, dem Orientalen aber so überaus wichtig erscheint, nur eine der Phasen der orientalischen Frage ist, die sich unaufhörlich erneuert, die stets vertuscht, aber nie gelöst wird.

Karl Marx