Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 317-322
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Der Krieg an der Donau

Geschrieben am 6. Juli 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4139 vom 25. Juli 1854, Leitartikel]

<317> Vor etwa achtzig Jahren, als die siegreichen Armeen Katharinas II. eine Provinz nach der andern von der Türkei losrissen, die dann in das umgewandelt wurden, was heute Südrußland genannt wird, findet sich in einem der Ausbrüche von lyrischem Enthusiasmus, in denen der Dichter Dershawin den Ruhm, wenn nicht gar die Tugenden dieser Kaiserin und die gottgewollte Größe ihres Reiches zu preisen pflegte, ein denkwürdiger Vers, der auch heute noch die trotzige Kühnheit und das Selbstbewußtsein der zaristischen Politik zusammenfaßt:

Und wozu brauchst du, o Rußland, irgendeinen Bundesgenossen?
Geh vorwärts, und die ganze Welt ist dein!

Das würde sogar heute noch zutreffen, wenn Rußland nur vorwärts könnte; dieser Bewegung ist aber ein ziemlich starker Riegel vorgeschoben. Daher ist es wenigstens zur Zeit gezwungen, die Besitzergreifung der ganzen Welt noch etwas aufzuschieben. Was aber seinen Stolz besonders verletzt, ist, daß es auf seinem Rückzug nicht nur kein Unterpfand der Weltherrschaft mit sich nehmen kann, sondern sogar die Schlüssel der einfachen Festung Silistria an der Donau zurücklassen muß, die zu besitzen es geschworen hatte. Und was noch schmerzlicher ist, es läßt auch die Überreste von etwa 50.000 seiner Brüder zurück, die allein in diesem Feldzug durch Krankheit oder im Kampf umgekommen sind.

Zweifellos ist die Belagerung Silistrias in militärischer Hinsicht das bedeutendste Ereignis seit Beginn des Krieges. Da die Einnahme dieser Festung gescheitert ist, wird der Feldzug zu einem Fehlschlag für die Russen, und zu dem jetzt vor sich gehenden Rückzug hinter den Sereth gesellen sich Schimpf <318> und Ungnade des Zaren. Die früheren Stadien der Belagerung haben wir unsern Lesern schon genau und, wie wir hoffen, verständlich auseinandergesetzt; nachdem jetzt endlich mit der "Pacific" die offiziellen russischen Berichte eingetroffen sind, können wir die ganze Angelegenheit bis zu ihrem Abschluß verfolgen, ohne einer der beiden Parteien unrecht zu tun. Außer den russischen Berichten, die das, was sie wiedergeben, klar, deutlich und nüchtern bringen, aber eine Menge Unterlassungen aufweisen, steht uns noch der Bericht des Leutnants Nasmyth (von der bengalischen Artillerie) an die "London Times" zur Verfügung. Es ist dies ein vollständiges Tagebuch der Belagerung mit interessanten Einzelheiten, aber etwas nachlässig abgefaßt, und manchmal mit ungenauen Daten. Unsere früher geäußertes, Ansichten und Schlüsse über die Belagerung werden, das dürfen wir ruhig behaupten, durch diese späteren und ausführlicheren Berichte vollauf bestätigt, bis auf die Einzelheit, daß die Türken die Verteidigung des Forts Arab-Tabia nicht aufgeben mußten, wie wir im Verlauf der Belagerung annahmen. Auch sind die Russen bei ihren Operationen wahrscheinlich noch unbesonnener verfahren, als wir voraussetzten. Zuerst griffen sie die Festung förmlich von der Ostseite in den Niederungen der Donau an und hofften, die detachierten Forts insgesamt umgehen und sofort in den Hauptwall der Festung eine Bresche schlagen zu können. Dieser Versuch hatte sicherlich keinen andren Vorzug als den der Originalität. Er bietet vielleicht das erste Beispiel dafür, daß man Schanzen und Approchen zur Belagerung einer Festung in einem Gelände aufwirft, das von Höhen, die vom Feind befestigt waren, nicht nur flankiert, sondern unmittelbar im Rücken beherrscht wurde. Dann aber wurde ein zweiter, nicht förmlicher Angriff auf eben diese Höhen unternommen, und zwar so geschickt, daß nach vierzehn Tagen fruchtloser Sturmversuche und Rekognoszierungen, bei denen Tausende von Russen getötet oder kampfunfähig wurden, auch gegen die Höhen eine förmliche Belagerung eingeleitet werden mußte. Soviel über die Geschicklichkeit der Russen. Und nun wollen wir zu den Einzelheiten während der Belagerung übergehen.

Am 1. Juni setzte ein neuer Train Belagerungsartillerie vom linken Donauufer über, und die Russen stellten sie als Batterie gegen Arab-Tabia auf. Die Türken gruben Schächte und trieben Minen unter die Kontereskarpe und das Glacis dieses Forts. Am 2. Juni wurde Mussa Pascha, der Kommandant von Silistria, durch eine Granate getötet. Gegen Abend brachten die Russen unter einer der Bastionen von Arab-Tabia eine Mine zur Explosion. Da sie um diese Zeit die Krone des Glacis noch nicht erreicht haben konnten, war die Mine sicher nicht sehr genau gelegt. Die Entfernungen wie auch die Linie <319> des kürzesten Widerstandes müssen falsch berechnet gewesen sein, und so geschah es, daß die Mine, statt die türkischen Verteidigungswerke zu beschädigen, nach rückwärts explodierte und die russischen Gräben mit einem Hagel von Steinen und Erde überschüttete. Hier aber standen die Sturmkolonnen zum Angriff bereit, und man kann sich die Wirkung dieses Steinhagels auf sie leicht vorstellen. Inwieweit es übrigens den Russen gelang, die Festung wirksam einzuschließen, geht aus der Tatsache hervor, daß sich an diesem Tage 5.000 türkische Irreguläre aus Rasgrad, westlich von Silistria. in die belagerte Stadt durchschlugen.

Vom 4. bis 8. Juni wurde die Arbeit an den Laufgräben gegen Arab-Tabia fortgesetzt. Die Russen erreichten das Glacis und trieben mutig eine Sappe bis zu seiner Krone vor, wobei sie jedoch von dem Feuer ihrer Artillerie nur sehr schwach unterstützt wurden. Sie begannen eine Mine unterhalb des Grabens zu legen und stießen damit bis unter die Eskarpe der Bastion vor. Zur gleichen Zeit veranstaltete Marschall Paskewitsch am 9. Juni wieder eine seiner unbegreiflichen bewaffneten Schaustellungen durch eine großartige gewaltsame Rekognoszierung der Festung mit 31 Bataillonen, 40 Eskadronen und 144 Feldgeschützen. Was er durch diese Schaustellung zu gewinnen hoffte, läßt sich nicht sagen. Es sieht so aus als wäre sie nur in der Hoffnung unternommen, daß sich irgendeine Gelegenheit bieten werde, ernsthaft vorzugehen, oder um wenigstens beim Feind doch den Eindruck der Unwiderstehlichkeit zu erwecken. Auf die Türken hatte sie jedoch keine derartige Wirkung. Sie schickten im Gegenteil 4.000 Mann Kavallerie vor, die nach dem russischen Bulletin schrecklich geschlagen wurden. Nasmyth hingegen versichert, daß sie 60 russische Pferde bei dem Handgemenge erbeuteten. Und anstatt etwas zu seinem eigenen Vorteil zu rekognoszieren, wurde Paskewitsch selbst, dem Bericht zufolge, durch eine türkische Kanonenkugel rekognosziert, die ihn hors de combat <kampfunfähig> machte, so daß er nach Jassy gebracht werden mußte.

Am 10. Juni erreichte die Belagerung ihren Höhepunkt. Die große Mine, die letzte Hoffnung Schilders, war zur Explosion gebracht worden. Sie schlug auch tatsächlich eine sturmreife Bresche in die Frontbastion von Arab-Tabia. Die russischen Kolonnen rückten zum Sturm vor; wie sie sich jedoch hätten denken können, hatten die Türken längst kurz hinter dem Hauptwall eine coupure oder zweite Brustwehr mit einem Graben errichtet, und als die Russen herangekommen waren, fanden sie sich aufgehalten und einem mörderischen Feuer ausgesetzt. Ist aber eine Sturmkolonne erst einmal zum Stehen gebracht <320> worden, so ist sie auch schon geschlagen, denn der Gegner, gedeckt durch die Brustwehr und unterstützt durch Artillerie, feuert aus einer Entfernung, wo jeder Schuß trifft, und zwingt die Kolonne, sich in wenigen Minuten zurückzuziehen. Die Russen mußten deshalb so schnell wie möglich den Rückzug durch die Bresche antreten; dabei wurden sie noch bis zu den russischen Laufgräben von den Türken verfolgt, die einen Teil der Belagerungswerke zerstörten. Dieser Angriff war das letzte ernsthafte Unternehmen der Russen gegen Silistria. Wenn die Belagerung zum Schein und der Form nach fortgesetzt wurde, bis die Order kam, sie aufzuheben, so geschah dies nur, um das Ansehen zu wahren. Am 12. Juni war von der Einschließung so wenig geblieben, daß europäische Offiziere von Schumla aus ohne Schwierigkeit in die Festung gelangen konnten.

Die Russen hatten am 19. Mai in der Niederung ihre Laufgräben eröffnet. Am 22. eröffneten ihre Batterien, sieben an der Zahl, das Feuer auf Arab-Tabia. Weitere fünfzehn Geschütze wurden am folgenden Tag gegen dieses Fort eingesetzt. Dennoch fand nach dem russischen Bericht der förmliche Angriff gegen Arab-Tabia erst am 31. Mai statt. Dies scheint darauf hinzudeuten, daß die am 21. und 22. errichteten Batterien nur die Aufgabe einer ersten Parallele hatten und nur aus schweren Feldgeschützen bestanden, die das Fort enfilieren sollten. Vom 31. Mai bis 10. Juni näherten sich die russischen Batterien dem Fort bis auf hundert Yards, das heißt von der ersten bis zur dritten Parallele am Fuße des Glacis. Aber weder wurde das Glacis gekrönt, noch wurden Trancheenbatterien errichtet, sondern es wurde, wie schon erwähnt, eine Sappe die Böschung des Glacis hinaufgetrieben, um dort den Minenschacht zu graben. Da aus allen Berichten hervorgeht, daß Arab-Tabia kaum mehr als eine Feldbefestigung war, zwar groß im Umfang, aber von geringer Stärke, so verdient das Verhalten seiner Verteidiger, die nur aus 4 Bataillonen und 500 Irregulären unter Hussein Pascha bestanden, sicherlich das höchste Lob. Eine neuntägige Kanonade, elf Tage lang offene Verschanzungen, zwei Minen und vier oder fünf Angriffe, und dies alles mit der Niederlage des Feindes endend - wahrlich, wir erinnern uns keines zweiten Beispiels aus der Kriegsgeschichte, wo ein einfaches Außenwerk von der Art Arab-Tabias so gut standgehalten hätte. Am ehesten kann man damit die Verteidigung von Kolberg durch die Preußen 1807 und die von Danzig durch die Franzosen 1813 vergleichen.

Man ist wahrscheinlich sehr erstaunt gewesen, daß Omer Pascha während der ganzen Belagerung nichts getan hat, um eine so wichtige Festung zu unterstützen oder zu entsetzen. Aus seinem an Sami Pascha, den Gouverneur von Widdin, gerichteten Brief geht jedoch hervor, daß er tatsächlich bereits <321> Vorbereitungen traf, Silistria zu Hilfe zu kommen, als sich die Russen auf das linke Donanufer zurückzogen.

"Sie wissen", heißt es in diesem Brief, "daß ich alle unsere Truppen vor Schumla gesammelt hatte und daß ich den Marsch zum Entsatz der Festung vorbereitete. Sechs Kavallerieregimenter und drei Batterien hatten Schumla bereits mit diesem Ziel verlassen. Da die Russen von dieser Bewegung Kenntnis erhalten hatten, haben sie sich mit ihrer gesamten Artillerie in großer Eile auf das linke Ufer zurückgezogen. Während der vierzigtägigen Belagerung der Festung hatten sie einen Verlust von 25.000 Toten."

Was die Russen jetzt tun werden, ist unmöglich zu entscheiden. Einige Wiener Blätter melden, sie wollten hinter dem Buseo Stellung beziehen, doch dieselben Blätter behaupten, es sei angeblich die Furcht vor Österreich, die sie zurücktriebe, und der Buseo sei schon von den Österreichern überflügelt. Versuchten die Russen die Moldau zu halten, so würden sie von den Österreichern von Galizien und der Bukowina aus überflügelt. Aber eine rechtzeitige Vereinigung der russischen Truppen in Polen mit der ehemaligen Donauarmee in Podolien und Wolhynien würde wiederum die Österreicher überflügeln und den nordöstlichen Teil Galiziens bis zum San und Dnestr gefährden.

Wenn wir einen Augenblick von politischen Erwägungen absehen und annehmen, Österreich sei bereit, sich mit den alliierten Streitkräften zum Angriff gegen Rußland zu vereinigen, dann würden die Dinge so stehen: Österreich könnte 200.000 bis 250.000 Mann ins Feld schicken, um sich mit den Alliierten zu vereinigen, die ihrerseits über etwa 160.000 Mann verfügen - 100.000 bis 120.000 Türken und etwa 60.000 englisch-französische Truppen. Diesen Kräften könnte Rußland die vier Korps der Donauarmee mit ihren Reserven entgegenstellen, die sich, wenn man eine angemessene Zahl für Verluste abrechnet, auf etwa 200.000 Mann belaufen. Das zweite Korps, das von Panjutin befehligt wird, und die drei Reservekorps der Kavallerie mit einigen weiteren Infanteriereserven und Verstärkungen durch frische Aushebungen dürften insgesamt etwa 180.000 Mann ausmachen, so daß die gesamte Militärmacht Rußlands 350.000 Mann betrüge, von denen die Besatzungen zum Schutz der Krim und eines Teiles von Südrußland abzuziehen wären. Darüber hinaus blieben noch die Gardetruppen, die Grenadiere und das erste Armeekorps zur Verteidigung Polens und der baltischen Provinzen disponibel - nicht gerechnet das Finnländische Korps mit etwa 15.000 Mann. Wenn man alles in Betracht zieht, dann wäre der Unterschied zwischen den beiden kriegführenden Mächten nicht so groß, daß Rußland nicht mit einem <322> mäßigen Erfolg rechnen könnte, wenn es sich auf eine geschickte Verteidigung beschränkte.

Wenn Österreich, wie die jüngsten diplomatischen Nachrichten und seine völlige Untätigkeit an der Grenze der Moldau andeuten, keine andere Absicht hat, als zwischen den kriegführenden Mächten zu vermitteln, so können wir mit Sicherheit annehmen, daß im Laufe dieses Jahres weder in der Moldau noch in Bessarabien irgend etwas passieren wird.