Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 542-546
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Die Belagerung Sewastopols

Geschrieben am 30. Oktober 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4236 vom 15. November 1854, Leitartikel]

<542> Die größte Leistung der Alliierten auf der Krim war neben der Schlacht an der Alma Lord Raglans berühmter Flankenmarsch von der Alma nach Balaklawa, durch den er das augenscheinliche Ziel des Feldzugs, die Einnahme und Besetzung Sewastopols, in einen coup de main <Handstreich> gegen einen Teil - und noch dazu den schwächeren Teil - der Befestigungen verwandelte; die Zerstörung der russischen Flotte, Werften und Arsenale ist natürlich mit einbegriffen, erfordert jedoch den Abzug der alliierten Truppen, sobald dieses Ziel erreicht sein wird. Daß dies der Fall sein muß, ging aus dieser ganzen Bewegung klar hervor. Es war ein Aufgeben des Gedankens, die nördliche Front der Festung anzugreifen, die die beherrschende Front ist und wo allein ein Angriff wirklich entscheidend sein könnte; somit gestand man offen ein, daß die Expedition unfähig war, das auszuführen, was sie in ihrem Programm niedergelegt hatte - die vollständige Einnahme und Besetzung Sewastopols. Dennoch ist, wie gesagt, gerade dieser Marsch als ein besonders genialer Streich der Feldherrnkunst spaltenlang mit hochtrabenden Phrasen und rhetorischem Kauderwelsch verherrlicht worden, und sogar die großen Londoner Zeitungen mit ihren Korrespondenten am Ort entdeckten die Wahrheit erst einen Monat später, nachdem ihnen die Regierung wahrscheinlich eine Andeutung darüber gemacht hatte. So gehen der "London Times" erst am 28. Oktober die Augen über den wahren Sachverhalt auf, und sie deutet schüchtern an, daß bisher nur die kleinere Aufgabe des Feldzugs gelöst sei und daß die Forts auf der Nordseite der Bucht, wenn sie sich nicht freiwillig ergeben, kaum genommen werden können. Aber die "Times" <543> hofft, sie werden sich anständig benehmen und sich ergeben, denn alle abhängigen Fortifikationen müßten nachgeben, wenn erst einmal der Hauptteil der Festung genommen sei. In Wahrheit aber ist es nicht das Nordfort, das von der Stadt Sewastopol, sondern die Stadt Sewastopol, die vom Nordfort abhängt, und wir fürchten, daß die Argumente dieses Blattes kaum ausreichen werden, eine so starke Festung zu erobern.

Allerdings ist seit dem bewußten "glorreichen Marsch" von den Alliierten nichts geleistet worden, dessen man sich irgendwie rühmen könnte, und man kann es daher unseren transatlantischen Freunden nicht verübeln, wenn sie solch Aufhebens davon machen. Der bisherige Fortgang der Belagerung selbst gehört zu den Dingen, von denen sie mit Recht glauben, daß es um so besser sei, je weniger man davon redet. Da wir aber zu nichts anderem als zu unparteilicher Beurteilung der Vorgänge verpflichtet sind, werden wir nicht so zartfühlend sein. In diesem überhaupt sehr merkwürdigen Krieg ist die Belagerung wahrhaftig eine der merkwürdigsten Angelegenheiten. Das Charakteristische für den Krieg scheint der Glaube zu sein, Feldbefestigungen seien uneinnehmbar. Bei Oltenitza wendete man erst einige Stunden die überlebte Methode einer Kanonade an, und dann wurden die Werke gestürmt, aber erfolglos. Bei Kalafat wagten die Russen nicht einmal einen Angriff. Bei Silistria hielt ein einfaches Erdwerk den Hauptstoß der Schlacht aus und widerstand dem wütenden Ansturm des Feindes auch noch, als es schon fast dem Erdboden gleich war. Und jetzt wird in Sewastopol eine einfache Linie von Feldbefestigungen mit stärkeren Breschbatterien und viel schwereren Geschützen beehrt, als sie je gegen die regelmäßigste Festung ins Feld geführt wurden. Diese Belagerung ist ein deutlicher Beweis dafür, daß in demselben Maße, wie sich während der langen Friedensperiode das Kriegsmaterial durch den industriellen Fortschritt verbessert hat, die Kriegskunst heruntergekommen ist. Hätte ein Napoleon die Batterien vor Sewastopol gesehen, die von acht- und zehnzölligen Geschützen starrten, so hätte er unwiderstehlich einen Lachanfall bekommen. Aber das ist bei weitem noch nicht alles.

Am 1. Oktober etwa hatten die Alliierten ihre Stellungen bezogen, am 8. oder 9. jedoch wurde erst mit den Belagerungsarbeiten begonnen, und vor dem 17. fiel kein Schuß. Der Grund für diese Verzögerung war, daß die Geschütze nicht früher herangeführt werden konnten. Ein Gelände von nur vier bis fünf Meilen war zu überwinden, der Boden war recht günstig und hart, mit geringen wellenförmigen Erhebungen, und teilweise mit einer leidlich guten Straße. Man hatte aber keine Zugtiere. Keine Zugtiere in der Krim, dem viehreichsten Lande der Welt! Im Baidartal, in Sichtweite von den <544> Höhen der Tschornaia, gab es mehr Ochsen, als nötig gewesen wären, um die gesamte alliierte Flotte über die Berge zu schleppen. Aber das Baidartal war für die Kosaken zugängig, und die alliierte Kavallerie hätte sich bei der Deckung eines Raubzuges diesen furchtbaren Gegnern aussetzen können. Außerdem müssen die Alliierten mit der Bevölkerung auf gutem Fuße bleiben und dürfen sich nicht an deren Eigentum vergreifen. Mit solchen Ausflüchten versuchen unsere englischen Blätter die Wahrheit zu verschweigen, daß Raglan und Canrobert, während sie Sewastopol im Süden einschließen, durch die Vorposten Menschikows an der Tschornaja selbst eingeschlossen sind. Daß dem so ist, geht aus der einfachen Tatsache hervor, daß die alliierten Truppen noch bis zur Zeit des letzten Berichts von Pökelfleisch leben mußten, da kein frisches zur Hand war.

Am 3. Oktober gingen fünf russische Bataillone bei Inkerman über die Tschornaja, und man erlaubte ihnen, vom Süden aus in die Festung zu gelangen, "da dies für die Alliierten nur günstig sein könne". Eine originelle Kriegführung! Der Feind, der als geschlagen, demoralisiert, vernichtet geschildert wird, schickt 3.000 Mann nach Sewastopol, unmittelbar vor der Nase der Alliierten. Er muß einen Grund dafür gehabt haben. Aber hat er seine Gründe, die Truppen zu schicken, so hat Raglan seine Gründe, sie hineinzukomplimentieren. Er nimmt an, der Platz sei überfüllt; womit er das allerdings begründet, ist nicht klar. Auf jeden Fall ist außer den vier Quadratmeilen innerhalb der russischen Linien noch das ganze Nordufer und das gesamte dahinterliegende Land vorhanden, wohin man jeden Truppenüberschuß binnen zehn Minuten schicken kann. Einen Platz als überfüllt zu bezeichnen, der nur von einer Seite eingeschlossen ist, das ist gewiß der Gipfel der Albernheit.

Als wir erstmals von der Landung hörten, erklärten wir, daß Krankheit der gefährlichste Feind der Alliierten sein würde, wenn sich der Feldzug in die Länge zöge. Nun wüten dort Krankheiten in den allerschlimmsten Formen, und Hand in Hand mit ihnen geht die allerschlechteste Versorgung, zumindest bei den Briten. Die Kranken sind aus diesem Anlaß wirklich in solchem Maße vernachlässigt worden, daß sich Lord Raglan gezwungen sah, dem Sanitätsstab eine sehr energische Rüge zu erteilen. Damit aber nicht genug. Die Ärzte sind in Konstantinopel, die Arzneivorräte in Varna und die Kranken in Balaklawa. Ist das nicht eine großartige Illustration des neuen militärischen Lehrsatzes, den Louis Bonaparte kürzlich in Boulogne entwickelte, dem zufolge jede Armee in einem Dreieck aufgestellt sein muß, um eine gute Position zu haben? Die Krankheiten nehmen mit der rauhen Jahreszeit zu, die Regimenter schwinden dahin - ein britisches Regiment, das <545> 1.000 Mann stark ausgesandt wurde, kann jetzt nicht mehr als 600 Dienstfähige auf die Beine bringen -, die Operationen aber gehen in ihrem langsamen Tempo weiter. Der Schlendrian des Oberkommandos, die Frucht einer vierzigjährigen friedlichen Schulung, läßt sich durch derartige Kleinigkeiten nicht aus dem Konzept bringen. Mag die Armee zugrunde gehen, wenn nur Sewastopol nach dem Reglement Ihrer Majestät genommen wird!

Bei gewöhnlichen Belagerungen versuchen die Belagerer, ihre ersten Batterien den feindlichen Werken so nahe wie möglich aufzustellen, und sechshundert bis siebenhundert Yards gelten schon als eine große Entfernung. Bei einer großen Belagerung wie dieser jedoch, besonders wenn sie sich gegen einfache Feldwerke richtet, sollte nach Raglans Ansicht gerade das Gegenteil geschehen. Der Feind gestattet uns, auf siebenhundert Yards heranzukommen; aber wir dürfen nie tun, was der Feind von uns wünscht. So meint Raglan und stellt seine Batterien in 2.500 und 3.000 Yards Entfernung auf - eine Tatsache, die wir nicht für möglich gehalten hätten, wenn die Berichte darüber auch nur den geringsten Zweifel zuließen. Danach geht er auf 1.500 bis 1.200 Yards heran und erklärt dann als Grund, warum er das Feuer nicht eröffnet, Breschbetterien müßten, wenn sie wirksam sein sollen, dreihundert oder vierhundert Yards von den zu stürmenden Werken entfernt sein! Die entfernten Batterien müssen Lancaster-Geschütze und weittragende zehnzöllige Geschütze haben, denn wie es scheint, sind die britischen Artilleristen der Meinung, diese Geschütze seien wie Teleskope nur aus großer Entfernung brauchbar. Tatsächlich hat diese Frage der großen Reichweite, die bei Schiffsgeschützen vollkommen am Platze ist, bei der Landartillerie mehr Verwirrung und Unfug als wirklich Gutes gestiftet; ein Beispiel dafür sind diese lächerlichen Batterien.

Die landeinwärts gerichteten Befestigungen Sewastopols, die diese Ausbrüche an Genialität und Scharfsinn hervorgerufen haben, bestehen aus folgenden Anlagen: Auf der Westseite (die von den Franzosen angegriffen wird) sind eine oder zwei Seiten des Quarantäneforts exponiert. Dahinter liegt eine mit Schießscharten versehene Mauer, die sich bis an die Spitze der Quarantänebucht erstreckt und auf einem Hügel in einem runden Turm endet, der eine réduit für ein Erdwerk bildet, das rings um ihn errichtet ist. Von da verläuft eine Mauer von durchschnittlich drei Fuß Dicke bis zum oberen Ende des Hafens und schließt so Sewastopol nach dem Südwesten ab. Diese Mauer soll sich zu keinerlei Verteidigung eignen, obgleich man sie leicht hätte dazu herrichten können, sie wird daher durch kleine vorgelagerte Erdwerke gedeckt. Vom Ende des Hafens ostwärts bis zur Kielbucht (die britische Angriffsfront) gibt es überhaupt keine reguläre Verteidigung, ab- <546> gesehen von zwei Türmen, die, ähnlich wie der oben beschriebene, von Lünetten umgeben und geschützt sind. Außerdem gibt es noch einige flüchtig aufgeworfene Erdwerke, und das Ganze bildet ein verschanztes Lager, das keinen großen Ansprüchen genügt, wenn man den von Kapitän Biddulph veröffentlichten, an Ort und Stelle aufgenommenen Skizzen glauben darf. Auf alle Fälle zeigen diese nur eine Verteidigungslinie, die aus nach hinten offenen Werken besteht; wir sehen keine geschlossenen Redouten, die die Russen sonst im allgemeinen so sehr lieben. Wir können aber nicht glauben, daß dem so ist. Wäre wirklich nur diese einzige Linie zu nehmen, so müßten die Briten sie längst mit dem Bajonett erobert haben. Es muß noch eine zweite Linie von Redouten dahinterliegen.

Sämtliche russischen Werke sind mit den schweren Schiffsgeschützen bestückt worden - besser hätten die Russen die Geschütze gar nicht verwenden können. Allerdings schießen sie damit unter aller Kritik. Tag und Nacht bombardieren sie den Feind, und höchstens ein Schuß von hundert trifft. Vielleicht veranlaßte dieses schlechte Schießen Lord Raglan dazu, seine Laufgräben aus der sicheren Entfernung von 3.000 Yards zu eröffnen. Nach einem dreitägigen Bombardement durch die alliierten Flotten und Armeen, heißt es, hätten die Briten auf ihrer Seite eine Bresche gelegt, während die Franzosen die ihrige noch nicht vollendet hätten. Sobald auch dies getan wäre, sollte der Sturm beginnen. Daß 200 Geschütze von so riesigem Kaliber drei oder vier Tage brauchen sollten, um in solche Verteidigungswerke eine Bresche zu legen, wäre unglaublich, wüßten wir nicht aus verbürgter Quelle, in welch respektvoller Distanz die Batterien der Alliierten aufgestellt worden waren. Soviel über die bisher erzielten Resultate; welches Ereignis aber auch die Operationen krönen wird, eines ist gewiß, die Belagerung Sewastopols wird in der Kriegsgeschichte nicht ihresgleichen haben.