Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 563-568
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Die Schlacht bei Inkerman

Geschrieben am 27. November 1854.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4261 vom 14. Dezember 1854, Leitartikel]

<563> Diese blutige Schlacht fand am 5. November statt, aber die Berichte der alliierten Befehlshaber und der Korrespondenten der führenden Zeitschriften erreichten London nicht vor dem 23. Die zwei kürzlich eingetroffenen Dampfer brachten sehr kurze Berichte über den Kampf zu uns herüber, die aber nicht genügend Details enthielten, um uns ein ausreichendes Urteil über den Charakter des Kampfes zu ermöglichen. Durch die Post der "Pacific" können wir jedoch heute vollständige Berichte über die gesamte Schlacht bringen, einschließlich der Depeschen von Raglan, Canrobert und Menschikow sowie der ausgezeichneten und geistreichen Briefe der Sonderkorrespondenten der "London Times" und des "Morning Herald", beide Zeitungen werden von an Ort und Stelle befindlichen, äußerst befähigten Journalisten informiert. An Hand dieser und anderer Dokumente setzen wir die Analyse des Schlachtverlaufs fort, damit sich unsere Leser eine unvoreingenommene und vernünftige Meinung darüber bilden können.

Wie die Preußen bei Jena waren die britischen Truppen in Richtung Inkerman auf einem Höhenzug aufgestellt, der von vorn nur durch wenige Defileen zugänglich war. Wie die Preußen hatten die Briten es vollständig versäumt, eine Erhebung auf ihrem äußersten linken Flügel zu besetzen, auf die Menschikow, wie Napoleon bei Jena, einen Teil seiner Armee warf - und sich dort vor Tagesanbruch an der Flanke des Feindes festsetzte. Die Russen wollten offensichtlich diesen Umstand ausnutzen, um die Masse ihrer Truppen auf die Flanke der Briten zu richten, sich auf den so gesicherten Höhen zu entfalten und die britischen Divisionen, wenn sie während des verhängnisvollen, aber unvermeidlichen Manövers des Frontwechsels nacheinander aufrückten, zu zerschlagen oder "sie aufzurollen", wie es in der Fachsprache heißt. <564> Diesem Manöver verdankte Napoleon seinen glänzenden Erfolg über eine Armee , die, obwohl schwerfällig, langsam und schlecht geführt, zu jener Zeit doch beste der alten kontinentalen Armeen war. Seine schnellen Bewegungen, von Truppen ausgeführt, die mit der durch den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, durch die französischen Revolutionskriege und durch Napoleon selbst eingeführten neuen Art der Kriegführung vertraut waren, begünstigten diesen kühnen Schlag. Hier bei Inkerman versuchte Menschikow dieselbe Überrumpelung mit langsamen und schwerfälligen Truppen gegenüber den agilen und schnellen Truppen der Briten und Franzosen; das Resultat war demgemäß dem von Jena entgegengesetzt.

Die von den Briten bei der Besetzung ihrer Stellungen gezeigte Nachlässigkeit ist für ihren Befehlshaber äußerst schmachvoll. Weder für die unterlassene Besetzung des Hügels auf der Südseite der Tschornaja gibt es eine Entschuldigung noch für die nicht vorhandenen Feldwerke in dieser wichtigen Stellung, zu deren Erstürmung, wie er wohl wußte, viele Tausend Russen konzentriert wurden. Wie schon erwähnt, nutzten die Russen dieses Versäumnis sofort aus; sie besetzten den Hügel am nördlichen Ende der Bergkette und zwangen die britische Stellung mit schwerer Feldartillerie nieder. Die britischen Zeitungen melden, daß die Russen 24- und 32pfünder eingesetzt hatten, doch das beweist nur ihre völlige Unkenntnis in Artilleriefragen. Der Transport ihrer eigenen Artillerie von Balaklawa nach den Verschanzungen hätte ihnen zeigen müssen, daß 24- und 32pfünder nicht ins Feld mitgeführt werden können, viel weniger noch bei einem plötzlichen nächtlichen Überfall. Tatsache ist, daß die angeblichen 24- und 32pfünder Haubitzen waren, die zwar ein ähnliches Kaliber haben, doch in Wirklichkeit leichte Feldgeschütze sind, nicht schwerer als die britischen Feldhaubitzen. Die Haubitze, die ein Hohlgeschoß mit kleiner Ladung feuert und hauptsächlich durch Elevation ihre Reichweite erlangt, kann mit größerer Bohrung hergestellt werden als die Kanone für Vollgeschosse. Die 24pfündige Haubitze entspricht an Gewicht und Wirkung der 6pfündigen Kanone, und die sogenannte 32pfündige (ungefähr 6 Zoll) Haubitze den 12pfündern; diese Haubitzen werden in der russischen Armee den Batterien dieses Kalibers beigegeben. Das zeigt, wie sich Unwissenheit und nationale Eitelkeit vereinen, um Helden zu machen und den Waffenruhm einer Nation zu erhöhen.

Soweit verlief alles zugunsten der Russen. Ihre Feldherrnkunst hatte sich der Lord Raglans weit überlegen gezeigt. Ihr Plan war ausgezeichnet und auf dem besten Wege, in die Tat umgesetzt zu werden. Ein Pivot war gesichert <565> und die feindliche Flanke umgangen worden. Eine gewaltige Überzahl war bereit, die lange und schwache Linie der Briten am schwächsten Punkt anzugreifen, und schien den endgültigen Erfolg zu garantieren. Doch die Russen kannten die Soldaten, gegen die sie zu kämpfen hatten, noch nicht völlig. Die Briten wechselten, obwohl sie überrascht waren, kaltblütig ihre Front vom Osten zum Norden und begegneten den angreifenden Kolonnen mit einem tödlichen Feuer. Und nun begann ein Kampf, wie ihn Europa seit dem Tage von Albuera nicht erlebt hatte, als die standhaften und tapferen britischen Truppen bei Albuera mit dem Blut von drei Viertel ihres Bestandes eine Schlacht gewinnen mußten, welche durch die anmaßende Dummheit ihres Befehlshabers schon verloren war. Es ist eine Tatsache, daß es bei Inkerman mehr ausgesprochene Bajonettkämpfe gab als während des gesamten spanischen Krieges, wo die beiden tapfersten Armeen ihrer Zeit sechs Jahre lang gegeneinander kämpften. Von halb sieben bis halb zehn Uhr widerstanden ungefähr 8.000 Briten dem Ansturm einer russischen Armee, die, nach den Angaben der Russen selbst, mindestens 30.000 Mann in den Kampf führte. Die Festigkeit, mit der die Briten immer wieder die oft mit frischen Truppen unternommenen russischen Angriffe zurückschlugen, ist über jedes Lob erhaben, und es ist zweifelhaft, ob irgendwelche anderen Truppen in Europa, es sei denn die besten Bataillone der Armee Radetzkys, das gleiche getan haben könnten. Man muß zugeben, daß diese Tapferkeit durch den Charakter der britischen Stellung unterstützt wurde. Die gegen Osten gerichtete Front lag auf schroffen und deshalb unbesteigbaren Höhen. Die von den Russen besetzte nördliche Bergkuppe war von diesen Höhen außerdem durch einige Bergschluchten getrennt, die zahlreiche Defileen bildeten, die zu der englischen Stellung hinführten. Jede Angriffskolonne der Russen war deshalb dem vernichtenden Feuer der britischen Artillerie ausgesetzt und mußte in geschlossener Ordnung auf den Kamm der Höhen vorrücken, bevor sie sich entfalten konnte. Geschwächt durch das Feuer der Artillerie und, als sie sich weiter genähert hatten, durch das Gewehrfeuer, erreichten die russischen Kolonnen den Kamm, und bevor sie sich zur Linie entfalten konnten, wurden sie durch einen Feuerhagel und einen Bajonettangriff wieder hinuntergeworfen. In diesem Kampf stellte es sich heraus, daß die Minié-Kugel bei geringer Entfernung der gewöhnlichen Gewehrkugel gewaltig überlegen ist, deren Durchschlagskraft kaum ausreicht, einen Mann zu töten, während eine Minié-Kugel oft vier oder fünf Tote hinterließ und auf die tiefen russischen Kolonnen eine durchschlagende Wirkung hatte.

Als die britischen Divisionen aufrückten, wurde der Kampf ein allgemeiner, und die Front dehnte sich weiter aus. Die Russen, außerstande, <566> große Fortschritte zu machen, griffen die ursprüngliche Front der britischen Stellung mit ihrem linken Flügel an, während der rechte nach Sewastopol durchzubrechen versuchte. Sie konnten sich teilweise auf den von den Briten gehaltenen Höhen festsetzen, ohne jedoch in der Lage zu sein, eine reguläre Schlachtlinie zu bilden. Sie versuchten, die einzelnen kleinen Korps der britischen Truppen zu umzingeln und eines nach dem anderen abzuschneiden. Obwohl der Kampf hart war und die Briten prächtig kämpften, wären sie in diesem ungleichen Ringen doch geschlagen worden, wenn nicht die französische Division Bosquets eingegriffen hätte. Die Zuaven und die Fremdenlegion griffen die linke russische Flanke an und rollten sie vollständig auf, wobei die Chasseurs d'Afrique die Gelegenheit zum Angriff fanden, und die russische Infanterie mußte sich zurückziehen. So schlugen 14.000 Alliierte mit einem Verlust von einem Drittel ihres Bestandes 30.000 Russen; trotzdem muß zugegeben werden, daß jeder einzelne Russe sehr tapfer kämpfte, und wie wir gesehen haben, war ihre Feldherrnkunst, soweit sie den Angriffsplan betraf, den Alliierten weit überlegen.

Weshalb wurden sie dann aber geschlagen? Es muß gesagt werden, daß die meisten der eingesetzten Truppen die geschlagenen und entmutigten Reste der Belagerer Silistrias waren, und sicher ist das Korps Dannenbergs neben dem ehemaligen Korps Osten-Sackens zur Zeit das schlechteste in der russischen Armee. Aber das war nicht der entscheidende Grund. Die Schlacht wurde verloren, abgesehen von der Tapferkeit der Engländer, durch die typisch russische Art, in der sie geführt wurde. Es ist die russische Kriegführung, die der europäischen Kriegführung unterlag. Das ist das charakteristische Merkmal dieser Schlacht.

Der russische Befehlshaber beginnt damit, einen sehr guten Angriffsplan zu entwerfen, den er sich aus einer der berühmtesten Schlachten Napoleons lieh (denn kein russischer General hatte jemals einen originellen Gedanken, nicht einmal Suworow, dessen einzige Originalität das direkte Vorrücken war). Er verfolgt diesen Plan, indem er ihn auf die bestmögliche Weise zu verwirklichen beginnt. Er setzt sich an der feindlichen Flanke fest. Die strategische Bewegung ist vollendet; das taktische Vorgehen beginnt. Und hier wird plötzlich die wissenschaftliche und gelehrte Art der Kriegführung, das Werk westlicher Zivilisation, beiseite geworfen, und der reine Barbarismus bricht hervor. Diese glänzende Armee mit ihren altgedienten Truppen, von denen viele seit fünfundzwanzig Jahren Soldaten sind, dieses Vorbild des Paradedrills ist so schwerfällig, zum Scharmützeln und für den Kampf in kleinen Gruppen so wenig geeignet, daß die Offiziere mit ihr nichts anderes anfangen können, als sie als Ganzes in einer kompakten Masse gegen den <567> Feind zu werfen. Jeder Gedanke an taktisches Manövrieren wird aufgegeben; Vorrücken, Vorrücken, Vorrücken ist das einzige, was getan werden kann. Diese dichte Masse lebendigen Fleisches war natürlich gerade wegen ihrer Kompaktheit das beste Ziel, das sich ein Artillerist wünschen konnte; und während die hinter dem Kamm der Hügel in Deckung gehenden dünnen Linien der Briten vor dem Feuer geschützt waren, pflügten sie die dichten Kolonnen mit Kanonenkugeln, töteten mit einer Salve dreißig bis vierzig Mann und ließen einen Hagel von Minié-Kugeln auf sie regnen, von denen kaum eine ihr so umfangreiches Ziel verfehlen konnte. Lediglich der brutale Druck, das Gewicht dieser Massen, sollte die alliierten Linien brechen. Doch hier fanden sie einen Gegner, der eine solche Kriegführung gewöhnt war. In ihren indischen Kriegen haben die Briten gelernt, dem Ansturm dichter Massen zu widerstehen, selbst wenn diese zahlenmäßig überlegen waren. Und wenn auch die Russen den Sikhs und Belutschen weit überlegen sind, so vermochten doch die Truppen, die gewohnt waren, eine ihnen sechs- oder achtfach überlegene Anzahl Sikhs oder Belutschen zu schlagen, durchaus dem Angriff einer ihnen dreifach überlegenen Anzahl Russen standzuhalten, sobald diese die Taktik der Sikhs anwandten. Als die russischen Kolonnen oben auf dem Hügel ankamen, war ihre Kraft bereits gebrochen und durch das Feuer in Unordnung geraten; eine weitere Salve aus fünfzig Yards Entfernung und ein Bajonettangriff genügten, um sie zu zerschlagen. Später, als die Russen zahlreicher heraufkamen, standen die Briten, wie seinerzeit Napoleons Karrees mitten unter den Mamelucken an den Pyramiden, mitten in der Masse der sie umgebenden Russen. Die Standhaftigkeit der Truppen, die jenes volle Vertrauen in sich selbst besitzen, das nur Menschen einer hochzivilisierten Nation haben können, und die Überlegenheit der Waffen und des Feuers der Briten taten das übrige. Die Russen sind die schlechtesten Schützen aller uns bekannten Truppen, und hier haben sie es bewiesen, sonst hätten sie jeden vorhandenen Engländer niederstrecken müssen.

Das war der Charakter und das ist das Bedeutsame der Schlacht bei Inkerman. Es zeigt sich, daß der Ruhm der russischen Infanterie dahinschwindet. Es zeigt sich, daß sich der Westen, wie groß auch der Fortschritt Rußlands sein mag, zweimal so schnell entwickelt und daß Rußland in einem Kampf mit gleich starken westlichen Truppen keinerlei Chancen haben kann, nicht einmal bei einer solchen Überlegenheit, wie Rußland sie bei Inkerman hatte. Hätten die alliierten Transportschiffe im Schwarzen Meer nicht so schreckliche Verluste erlitten, so könnten wir sagen, daß diese Schlacht ausreichen würde, den endgültigen englisch-französischen Erfolg auf der Krim außer Zweifel zu stellen, falls die englischen und französischen Generale <568> keine groben Schnitzer begehen. Wir haben bisher keine Einzelheiten über dieses schwere Unglück erhalten, außer einer telegraphischen Depesche aus London, die wir über unseren Agenten in Liverpool erhielten, kurz bevor die "Pacific" auslief; wir wissen nicht, ob die letzten Schiffe Truppen oder nur Lebensmittel und Munition an Bord hatten, aber aus dem Schweigen des Telegraphen entnehmen wir, daß sie keine Truppen befördert haben. Doch wenn die großen Korps, die für die Krim bestimmt waren, durch diesen Sturm verlorengegangen sind, dann haben die Alliierten von den Elementen wirklich einen härteren Schlag erlitten als von dem Feinde, und ihre Streitkräfte vor Sewastopol können durch Krankheiten und zermürbende Angriffe vernichtet sein, ehe man ihnen neue Verstärkung schicken kann. Eine andere und nicht weniger ernsthafte Gefahr droht ihnen in der Haltung der deutschen Mächte. Österreich scheint jetzt zum erstenmal wirklich geneigt zu sein, mit den Westmächten zu brechen und sich dem Zaren anzuschließen, und ganz Deutschland wird mit Österreich gehen. Auf jeden Fall kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der Augenblick jetzt gekommen ist, da der Krieg gigantischere und schrecklichere Formen annimmt und ganz Europa in seine Flammen hüllt.