Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 593-596
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Die Presse und das Militärsystem


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 9 vom 6. Januar 1855]

<593> London, 3. Januar.

"Der Kaiser von Rußland", berichtet ein Korrespondent der "Times" aus dem Lager vor Sewastopol, "soll sich erboten haben, alles, was von unserer Armee bis Anfang Mai noch am Leben sein wird, auf einem einzigen Kriegsschiff nach England zurückzuspedieren."

Folgt dann eine graphische Beschreibung der Sterblichkeit, Not, Unordnung, Auflösung, die im englischen Lager herrschen. Dieser Zustand liefert heute das beinahe ausschließliche Thema für die Leitartikel der Londoner Tagespresse.

"Die britische Armee", sagt die "Times", "ist gar keine Armee im militärischen Sinne des Wortes. Sie ist eine Masse von tapferen Leuten, nicht mehr als eine bloße Masse und eher weniger, insofern sie von solchen kommandiert wird, die sie nicht kommandieren sollten, und so ihrer naturwüchsigen Brauchbarkeit beraubt ist ... Das Kommando der britischen Armee vor Sewastopol ist rein nominell, und noch schlimmer - ausgezeichnete Offiziere versichern, daß die Armee ebensogut durch ihre Unteroffiziere kommandiert werden könne als durch die Leute, die sie zu kommandieren vorschützen. Wir fühlen, daß es ein peinlicher Akt ist, brave und loyale Männer, überhäuft mit Jahren und Ehren, über Bord zu werfen."

Indes à la guerre comme à la guerre <Krieg ist Krieg>.

"Wenn jemals ein Ministerium den Weg offen hatte, solch eine Gewaltmaßregel zu ergreifen, so ist es das gegenwärtige."

Warum?

<594> "Weil es sich so hartnäckig sträubte, den Krieg zu erklären." Darum "hat die Regierung das Spiel in ihrer eigenen Hand und ist durch keine Rücksicht auf Personen gebunden."

Gut gebrüllt, Löwe! Weil das jetzige Ministerium den Krieg gegen Rußland wider seinen Willen führt, darum können die Fehler der Kriegsführung nicht ihm selbst, sondern nur dem kommandierenden General zugeschrieben werden, und das Publikum muß begreifen, daß nicht das Ministerium dem Lord Raglan, sondern daß Lord Raglan dem Ministerium im Wege steht.

Während so die "Times" den Lord Raglan angreift, um das Ministerium zu decken, greift der "Morning Chronicle", das Peelitenorgan, die "Times" an, angeblich um den Lord Raglan zu verteidigen, in der Tat aber, um dankbar das Zugeständnis der "Times" von der Sündlosigkeit des Ministeriums zu akzeptieren, auszubeuten und zugleich eine Diversion durch das Scheingefecht zwischen zwei ministeriellen Organen zu bewerkstelligen.

"Die Niedergeschlagenheit", sagt der biedre "Chronicle", "welche sich der öffentlichen Meinung in den letzten Tagen bemächtigt hat, muß, wir bedauern es zu schreiben, ausschließlich dem Einfluß der 'Times' zugeschrieben werden. Ereignisse sind verdüstert, Unglücksfälle übertrieben, der wohlverdiente Ruf unserer Generale ist gebrandmarkt, und des Briten sprüchwörtliche Großmut gegen den Abwesenden außer acht gesetzt worden, und dies alles nur zu dem Zwecke, Sensation, Effekt zu machen! Besonders auf das Haupt des Feldmarschalls Raglan ist indes der Haß und das Gift dieser Angriffe aufgehäuft worden ... Das Elend, worin sich die Armee in der Krim seit Anfang Dezember befindet, obgleich die letzten Berichte wieder tröstlicher lauten, muß hauptsächlich dem schrecklichen Sturm vom 14. November zugeschrieben werden."

Und das Ministerium ist so großmütig, den Lord Raglan nicht für den Sturm vom 14. November verantwortlich zu machen. Bleibt also nichts übrig als die Effekthascherei der "Times".

Wir kommen nun zu dem Teil der Londoner Presse, der gewisse Sonderinteressen innerhalb des Ministeriums vertritt - zur "Daily News", die seit einiger Zeit das geheime, und zur "Morning Post", die seit Jahren das offizielle Organ Palmerstons ist.

"Unsre administrativen Systeme", sagt die "Daily News", "sind fast so unveränderlich, als ob sie Medern und Persern angehörten. Irgendeine unvorhergesehene Krise, und sie brechen zusammen. Aber im Angesicht der schrecklichsten Opfer an Leben und Eigentum werden sie selten so umgeformt, um ähnlichen Katastrophen in der Zukunft trotzen zu können ... So aus dem Kriegsdepartement. Welche Erwartungen, als ein oberster Kriegsminister vor kurzem ernannt wurde! Und nicht ein Jota von Verbesserung ist dadurch bewirkt worden. Sollen wir den Herzog von Newcastle tadeln, <595> oder sollen wir nicht vielmehr die Art der Reform an das paralysierende System selbst anlegen, welches die Staatsfunktionen einkerkert in den kalten Schatten der Aristokratie? - Welches immer die Verdienste des Herzogs von Newcastle sein mögen, er ist nicht der offizielle Herkules, der fähig wäre, das System auszurotten. Aber das englische Volk wird darauf bestehen, daß getan wird, was er zu tun unfähig ist."

Die "Daily News" ist noch neu in ihrer ministeriellen Rolle. Sie muß außerdem mit ihrem bürgerlichen Publikum Rechnung halten.

Dennoch erkennt man auf den ersten Blick, daß die Pointe des Artikels der "offizielle Herkules" ist, der not tut. Und wer ist dieser offizielle Herkules? Und wie ist ihm beizukommen? Die "Morning Post" antwortet darauf, sie sagt:

"Mit Angriffen auf Lord Raglan beginnen, ist sicher am unrechten Ende anfangen. Lord Raglan steht über den Angriffen der 'Times' ... Jedoch die Mängel der Regierung zu Hause können nicht bezweifelt werden ... Nehmt z.B. das Kriegsdepartement. Soll es fortgeführt werden in dem Geiste und nach dem Muster der letzten neun Monate? ... Bedenkt, daß die Armee im Ausland ganz und gar abhängt von der Administration zu Hause ... Von welcher furchtbaren Wichtigkeit ist es dann, daß das Haupt dieses Departements den Geist eines Meisters besitze und gleich einem Meister wirke... Das alte System, sagt man, steht in dem Wege. Aber ein Meistergeist würde seit langem, auf eigene Verantwortlichkeit, das System zerschlagen haben ... Das wirkliche Geheimnis ist, daß der Kopf dieser Regierung wie ein Bleigewicht auf jeder Anstrengung der einzelnen Departemente lastet. Die träge Bewegung des Aberdeenschen Pulses teilt sich jedem Glied der Administration mit und gibt dem ganzen System seinen Ton ... Gießt das Ganze um und setzt einen realen und kräftigen Kopf auf seine Schultern."

Mit anderen Worten: macht Palmerston zum Premierminister. Er ist der offizielle Herkules, von dem die "Daily News" geträumt hat - derselbe Palmerston, den Lord Melbourne 1830 auf Vorschlag der russischen Prinzessin Lieven zum auswärtigen Minister ernannte; der eine britische Armee im Afghanenkriege 1851 in so rätselhafter Weise opferte, daß ihm Sir Robert Peel in öffentlicher Parlamentssitzung mit "Enthüllungen" drohte, wenn er ihn durch seine Renommistereien zu reizen fortfahre; derselbe Palmerston, der die 1839 von Frankreich vorgeschlagene und schon scheinbar ins Werk gesetzte Offensivallianz gegen Rußland so geschickt zu lenken verstand, daß sie an einem schönen Morgen des Jahres 1840 sich in eine englisch-russische Allianz gegen Frankreich verwandelt hatte. Obgleich Palmerston das einflußreichste Mitglied der gegenwärtigen Administration ist und in allen parlamentarischen Kreisen als deren Vorkämpfer auftritt und auftreten muß, bietet er fortwährend alle diplomatischen Künste in der Presse auf, <596> um in gespanntem Gegensatz zu Aberdeen zu erscheinen und so seine Popularität aus dem etwaigen Schiffbruch der Koalition zu retten. Gleichzeitig wird die Opposition so von entscheidenden Schritten abge- und in einer leeren Spannung über die inneren Zerwürfnisse des Ministeriums erhalten. So geht z.B. der toryistische "Morning Herald" heute zum hundertsten Male in die Falle, erklärt den Aufbruch der Koalition für definitiv und weiß viel zu erzählen von der patriotischen Entrüstung der Palmerston und Russell gegen die Aberdeen, Newcastle und Gladstone. Ad vocem <Bei dem Wort> Gladstone sei noch bemerkt, daß aus einem Leitartikel des heutigen "Chronicle" über die französische Anleihe folgt, wie Gladstone nicht gesonnen ist, zu Anleihen seine Zuflucht zu nehmen, sondern entschlossen ist, den Krieg durch direkte Besteuerung, also in der unpopulärsten, drückendsten und unökonomischsten Form zu führen.