Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 597-601
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx/Friedrich Engels

Zum englischen Militärwesen


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 11 vom 8. Januar 1855]

<597> London, 5. Januar. Wer ist verantwortlich für den Zustand der englischen Armee in der Krim? Ein Blick auf die merkwürdige Maschinerie der Kriegsadministration wird zeigen, daß die Verantwortlichkeit so geschickt unter die verschiedenen Behörden verteilt ist, daß sie jede streift, aber an keiner haftet. Die gesamte britische Armee hat an ihrer Spitze einen "Commander in Chief", einen Oberkommandanten, eine Art von Connetable, eine Person, die fast in allen übrigen zivilisierten Armeen beseitigt worden ist. Von den Horse Guards - so heißt das Büro dieses Oberkommandanten, weil es sich in der Kaserne der Horse Guards befindet - gehn fast alle militärischen Ernennungen aus. Es wäre indes ein Mißgriff, vorauszusetzen, daß dieser Hauptkommandant in der Tat irgend etwas zu kommandieren hat. Wenn er einige Kontrolle über die Infanterie und Kavallerie besitzt, so liegen dagegen Artillerie, Geniewesen, Sappeurs und Minierers ganz außerhalb der Sphäre seines Einflusses. Wenn er einige Oberherrlichkeit über Hosen, Röcke und Halsbinden ausübt, bricht sein Einfluß dagegen an allen Überröcken. Er mag bestimmen, wieviel Patronen jeder Infanterist bei sich zu führen hat, aber er kann ihn nicht mit einer einzigen Muskete versehen. Er mag alle seine Leute vor ein Kriegsgericht stellen und weidlich auspeitschen lassen, aber er kann sie nicht in Bewegung setzen, auch nicht für einen Zoll weit. Marschieren liegt außerhalb seiner Kompetenz, und was den Unterhalt seiner Truppen angeht, so ist das ein Ding, das ihn absolut nicht angeht. Dann kommt der "Master General of the Ordnance", der Generalfeldzeugmeister. Diese Person ist eine traurige Reliquie von Zeiten, wo die Wissenschaft als unwürdig des Soldaten erschien und alle wissenschaftlichen Korps wie Artillerie und Genie nicht aus Soldaten bestanden, sondern eine Art unbeschreibbaren Körpers bildeten, halb Gelehrte, halb Handwerker, vereinigt in eine besondre Gilde oder Korporation <598> unter dem Kommando des Master General. Dieser Generalfeldzeugmeister hat außer der Artillerie und dem Geniewesen alle Überröcke und kleinen Waffen der gesamten Armee unter sich. Ohne ihn kann daher keine militärische Operation irgendeiner Art stattfinden. Seine Beteiligung ist unerläßlich. Der nächste in der Reihe ist der "Secretary at War", der Kriegsminister, aber doch wieder nicht der eigentliche Kriegsminister, sondern vielmehr der Repräsentant des Kriegsministeriums im Hause der Gemeinen, jedoch eine durchaus selbständige Behörde. Dieser Kriegsminister kann keinem Teile der Armee einen Befehl geben, aber er kann jeden Teil der Armee verhindern, irgend etwas zu tun. Da er der Chef der militärischen Finanzen ist und da jeder militärische Akt Geld kostet, so wäre seine Weigerung, Kapital vorzustrecken, gleichbedeutend mit einem absoluten Veto gegen alle Operationen. Aber so willig er sein mag, seine Kasse zu öffnen, bleibt er unfähig, die Armee in Bewegung zu setzen, weil er sie nicht nähren kann. Das geht über seine Sphäre hinaus. Die Behörde, welche die Armee ernährt und im Falle des Marsches die Transportmittel für sie zu liefern hat, das Kommissariat, steht unter der Kontrolle der Schatzkammer. So hat der Premierminister - der Erste Lord der Schatzkammer - seine Hand direkt in jeder militärischen Operation und kann sie nach seinem Gutdünken beschleunigen, verzögern, stillstehen machen. Jeder weiß, daß das Kommissariat bei einer Armee ebenso wichtig ist wie die Soldaten selbst, und gerade deshalb hat die kollektive Weisheit von Alt-England es für passend gehalten, das Kommissariat ganz unabhängig von der Armee zu machen und es unter die Kontrolle eines wesentlich antikriegerischen Departements zu stellen. Aber wer setzt die Armee endlich in Bewegung? Früher der Kolonialminister, jetzt der Minister für den Krieg, der nominelle Chef des Kriegsministeriums. Er beordert die Truppen von England nach China und von Indien nach Kanada. Aber für sich genommen ist seine Autorität ebenso machtlos wie die der vier vorhergehenden Militärbehörden, indem die Zusammenwirkung aller fünf erheischt ist, um auch nur die allerunbedeutendste Bewegung hervorzubringen. Jede dieser fünf Gewalten hat ihre eigene Bürokratie mit ihrer eigenen Routine, und jede derselben handelt auf ihre eigene Verantwortlichkeit.

Der Ursprung dieses Systems beruht offenbar auf konstitutionellen Vorsichtsmaßregeln gegen das stehende Heer. Statt einer Teilung der Arbeit, die der Armee die größte Schnellkraft gäbe, eine Teilung der Gewalten, die ihre Bewegungsfähigkeit auf ein Minimum reduziert. Festgehalten aber wurde das System keineswegs aus parlamentarischen oder konstitutionellen Bedenken, sondern weil der oligarchische Einfluß gleichzeitig mit einer zeitgemäßen Reform der Militärverwaltung in diesem Felde wenigstens gebro- <599> chen würde. In der vorigen Parlamentssitzung verweigerten die Minister, irgendeine Neuerung zuzulassen, außer der Trennung des Kriegs- vom Kolonialministerium. Hartnäckig hielt Wellington das System aufrecht, von 1815 bis an seinen Tod, obgleich er sehr wohl wußte, daß er mit dem Systeme den pyrenaischen Krieg nie zu einem erfolgreichen Schluß gebracht haben würde, hätte nicht zufällig sein Bruder, der Marquis von Wellesley, im Ministerium gesessen. 1832 und 1836, vor den Komitees, die das Parlament zur Reform des alten Systems niedergesetzt, verteidigte Wellington das Alte in seinem ganzen Umfange. Fürchtete er, seinen Nachfolgern den Ruhm zu erleichtern?<1>

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 13 vom 9. Januar 1855]

London, 6. Januar. Wir haben das System der englischen Kriegsadministration kennengelernt, unter dessen Auspizien der gegenwärtige Krieg ausbrach. Kaum waren die Truppen bei ihrer ersten Station, bei Gallipoli, gelandet, als eine Vergleichung mit der französischen Armee sofort den untergeordneten Charakter der englischen Veranstaltungen und die Hilfslosigkeit der englischen Offiziere und Offizianten verriet. Und hier war die Aufgabe verhältnismäßig leicht. Die Ankunft der Truppen war lange vorher angezeigt, und die Zahl der Ausgeschifften war gering. Dennoch ging alles schief. Schiffsladungen verrotteten auf dem Strand, wo sie zuerst gelandet; Mangel an Raum zwang, Truppen nach Skutari zu schicken etc. etc. Das Chaos kündigte sich an in unverkennbaren Zeichen, aber da es der Beginn des Krieges war, hoffte man Besserung von wachsender Erfahrung. Die Truppen kamen nun <600> nach Varna. Ihre Entfernung von Hause nahm zu, ihre Zahl nahm zu, die Unordnung in der Administration nahm zu. Das unabhängige Wirken der 5 Departements, die die Administration bilden - jedes verantwortlich einem anderen Ministerium daheim -, brachte die unvermeidlichen Kollisionen hervor. Mangel herrschte im Lager, während die Garnison zu Varna alle Komforts genoß. Das Kommissariat trieb saumseligst einige Transportmittel von der Umgegend zusammen; aber da der Obergeneral diese Wagen mit keiner Eskorte versah, verschwanden die bulgarischen Fuhrleute rascher, als sie zusammengebracht worden waren. Ein Zentraldepot wurde nun zu Konstantinopel gebildet, eine Art von erster Operationsbasis. Es half nur dazu, ein neues Zentrum zu schaffen für Schwierigkeiten, Aufschub, Kompetenzfragen, Krakeel zwischen der Armee, der Ordnance, den Zahlmeistern, dem Kommissariat und dem Kriegsministerium. Indes zu Gallipoli, Skutari und Varna befand sich die Armee mehr oder minder noch im Friedenszustand. In der Krim erst erhielt die britische Administration volle Gelegenheit, ihr Desorganisationstalent in seiner ganzen Größe zu entwickeln. In der Tat! Von mehr als 60.000 Mann, die seit letztem Februar nach dem Osten gesandt worden, sind nicht mehr als 17.000 noch dienstfähig. Von diesen sterben 60 oder 80 täglich und werden ungefähr 200 bis 250 jeden Tag außer Dienst gesetzt, durch Krankheit, während nur selten einer aus dem Spital zurückkehrt. Und von den 43.000 Toten oder Verwundeten haben die Russen noch nicht 7.000 auf dem Gewissen!

Als zuerst nach England berichtet wurde, daß die Armee in der Krim der Nahrung, der Kleidung, des Obdachs entbehrte, daß weder medizinischer noch wundärztlicher Proviant vorhanden sei, daß die Kranken und Verwundeten entweder auf der kalten nassen Erde liegen müßten, dem Unwetter ausgesetzt oder zusammengedrängt auf Schiffsverdecken, ohne Wartung oder die ersten Erheischnisse für Heilung; wenn berichtet ward, daß Hunderte aus Mangel an den ersten Notwendigkeiten stürben, glaubte jedermann, die Regierung habe versäumt, die nötigen Zuführen nach dem Kriegsschauplatze zu schicken. Es bestätigte sich allerdings, daß dieser Verdacht für die erste Zeit nicht unbegründet gewesen war. Später jedoch, stellte sich heraus, war alles mögliche versandt worden, zum Teil weit über den Bedarf, aber unglücklicherweise traf alles immer an dem unrechten Ort und zur unrechten Zeit ein. Der medizinische Proviant lagerte zu Varna und ließ die Verwundeten in der Krim oder zu Skutari. Kleider und Mundvorräte langten unter den Augen der Krim an, aber niemand war da, um sie zu landen. Was zufällig gelandet wurde, konnte ruhig am Strande verrotten. Die notwendige Mitwirkung der Marine brachte ein neues Element des Zwiespalts hervor, <601> eine neue Verantwortlichkeit, die auch im Lager des Agramante Gehör verlangte. Unfähigkeit, gedeckt durch die Regeln der Friedensroutine, herrschte absolut. In einem der reichsten Landstriche Europas, auf einem Gestade, unter dessen Schutz Hunderte von Transportschiffen, bedeckt mit Vorräten, vor Anker lagen, lebte die britische Armee von halben Rationen. Umgeben von zahllosen Viehherden, litt sie am Skorbut, weil auf gesalzenes Fleisch beschränkt. Mit Massen von Holz und Kohlen auf den Schiffen, hatten sie so wenig davon auf dem Trocknen, daß sie das Fleisch roh essen mußten und niemals die Kleider trocknen konnten, die der Regen durchtränkt hatte. Wenn Kaffee ankam, war er nicht nur ungemahlen, sondern auch ungebrannt. Da waren Massen von Mundvorrat, von Getränken, von Kleidungsstücken, von Zelten, verpackt in den Schiffen, deren Menge beinahe die Spitzen der Klippen berührten, auf denen das Lager aufgeschlagen ist; und dennoch, Tantalus gleich, konnten die britischen Truppen sie nicht fassen. Alle Welt fühlte das Übel, alle Welt rannte fluchend umher und denunzierte alle Welt wegen Pflichtverletzung. Aber alle Welt hatte auch ihren eigenen Pack von Regulationen, sorgfältig aufgesetzt, sanktioniert von der kompetenten Behörde und klärlich zeigend, daß das, was geschehen mußte, kein Teil ihres Behufs sei und daß sie für ihren Teil keine Vollmacht habe, die Dinge in Ordnung zu bringen. Man füge nun diesem Stand der Dinge die wachsende Rauheit der Witterung hinzu; die Regenströme, deren Jahreszeit eigentlich erst beginnt, um den ganzen Herakletischen Chersonesus in einen ununterbrochenen Schmutzpfuhl zu verwandeln, in einen mehr als kniehohen Schlammhaufen; die Soldaten wenigstens zwei von vier Nächten in den Schanzen, während sie die andern zwei schlafen, durchnäßt und besudelt, auf dem Morast, ohne Bretter unter sich, kaum mit Zelten über sich; das beständige Alarmblasen; Krämpfe, Diarrhöe etc., von der Nässe, Kalte etc. hervorgerufen; die Zerstreuung des von vornherein zu schwachen ärztlichen Stabes über das Heerlager, die Spitalzelte mit 3.000 Kranken, die beinahe unter freiem Himmel und auf dem nassen Boden liegen; die Krankenschiffe und die Spitäler zu Skutari und Konstantinopel - und man wird leicht begreifen, daß die britische Armee in der Krim sich in voller Auflösung befindet und daß die Soldaten die russische Kugel bewillkommnen, die sie von all diesen Miseren befreit.


Textvarianten

<1> In der "New-York Daily Tribune" Nr. 4293 vom 22. Januar 1855 lautet der letzte Absatz: "Schließlich müssen wir untersuchen, wer der Begründer und Bewahrer dieses vortrefflichen Administrationssystems ist. Niemand anders als der Herzog von Wellington. Er hielt sich an jede seiner Einzelheiten, als ob er persönlich daran interessiert gewesen wäre, es seinen Nachfolgern, die mit ihm an Kriegsruhm wetteifern, so schwer wie möglich zu machen. Wellington, ein Mann von außerordentlich gesundem Menschenverstand, doch ganz und gar kein Genie, war sich seiner eigenen Unzulänglichkeit in dieser Hinsicht um so mehr bewußt, als er der Zeitgenosse und Gegner des gewaltigen Genies Napoleon war. Wellington war deshalb voller Neid auf die Erfolge anderer. Seine Niederträchtigkeit, die Verdienste seiner Helfer und Verbündeten herabzusetzen, ist gut bekannt. Er vergab es Blücher nie, daß dieser ihn bei Waterloo gerettet hat. Wellington wußte sehr gut, daß er den spanischen Krieg niemals zu einem erfolgreichen Ende gebracht hätte, wäre sein Bruder während dieser Zeit nicht Minister gewesen. Fürchtete Wellington, daß ihn zukünftige Heldentaten in den Schatten stellen würden, und hat er deshalb diese Maschinerie in vollem Umfang beibehalten, weil sie so gut geeignet ist, Generale zu fesseln und Armeen zu ruinieren?" <=