Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 10, S. 645-649
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Die englische Bourgeoisie

Der Artikel, den Marx anscheinend am 31. März 1854 nach New-York schickte, hat wesentliche Änderungen durch die Redaktion der "New-York Daily Times" erfahren. Der erste Teil des Artikels ist offensichtlich entstellt und enthält Thesen, die der Auffassung von Marx widersprechen. Dazu gehört insbesondere die Behauptung, es sei notwendig, die Politik der Bourgeoisie nicht vom Klassenstandpunkt, sondern von einem umfassenden humanitären Standpunkt aus zu betrachten. Andererseits enthält der Artikel unzweifelhaft Gedanken und Formulierungen, die von Marx stammen. So vor allem die Charakterisierung der englischen realistischen Schriftsteller und der Abschnitt über den Prestoner Streik von 1853-1854, den Marx in mehreren Artikeln erwähnt.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4145 vom 1 .August 1854, Leitartikel]

<645> Angesichts der wachsenden Macht des Bourgeoiselements in England vermutet man natürlich, daß sich dessen alte Stellung zur Aristokratie entsprechend den veränderten Verhältnissen allmählich modifiziert und die herkömmlichen Beziehungen zwischen den beiden Klassen praktisch hinderlich zu werden beginnen. Im Laufe der letzten fünf Jahre haben einige bemerkenswerte Ereignisse stattgefunden, die mit dieser Annahme übereinstimmen. Vor ungefähr fünf Jahren wurde der reiche Bankier Jones Loyd zum Peer erhoben mit dem Titel Lord Overstone; er hatte einen Teil seines enormen Vermögens zum Ankauf einer größeren Besitzung in der Grafschaft Northampton verwendet, und die Aristokratie beschloß getreu ihrer alten Politik, ihn in ihre Reihen aufzunehmen, nicht weil er Millionär, sondern weil er "Herr über ausgedehnte Ländereien" war. Nun, welche Bedingungen stellte sie Jones Loyd? Er solle sämtliche Beziehungen zum Bankgeschäft und zum Handel aufgeben. Und Jones Loyd unterwarf sich dieser Bedingung. Es ist daher offensichtlich, daß die Aristokratie in keiner Weise von ihrer traditionellen Auffassung hinsichtlich der erforderlichen Voraussetzungen für eine Peerswürde abgewichen ist. Wird indessen jedes Mitglied der haute bourgeoisie <Großbourgeoisie> ebenso nachgiebig sein wie Jones Loyd? Wahrscheinlich nicht. Ja, wir kennen sogar ein dokumentarisch nachgewiesenes Beispiel von einer hohen Persönlichkeit, wo zu Lebzeiten eine Peerswürde abgelehnt und den Söhnen verboten wurde, sie nach des Vaters Tod anzunehmen. Wir meinen den denkwürdigen Fall des Sir Robert Peel. Als Sohn und Enkel eines Lancashirer Spinnereibesitzers und Fabrikanten strebte er in seinen letzten Lebensjahren danach, die große Bourgeoisie zu führen, und obwohl die Peerswürde für ihn lange Zeit hindurch greifbar war, zog er es vor, das erste <646> Mitglied des Unterhauses von England zu bleiben, und scheute davor zurück, sich aus der Sphäre der öffentlichen Tätigkeit ins Oberhaus zurückzuziehen. Wir haben das eindringliche Zeugnis seines Lebens, wonach das Anziehungszentrum der politischen Macht inmitten der Bourgeoisie ruht. Und wenn man jene Klausel in seinem Testament, durch die er seinen Kindern für alle Zeiten die Annahme der Peerswürde für seine öffentlichen Verdienste verbot, im Lichte der Ereignisse von 1848 deutet - der Öffentlichkeit noch in frischer Erinnerung -, welch ein revolutionäres Beispiel und Präzedenzfall! So übte er noch im Sterben schreckliche Rache am Geburtsadel für die vielen Kränkungen, die man seinem empfindlichen Gemüt seit den Tagen, da er als Knabe zum ersten Male nach Harrow kam, wegen seiner plebejischen Herkunft zufügte. Lord John Russell folgte dem Beispiel Sir Robert Peels. Die Peerswürde lag lange Zeit hindurch im Bereich seiner Macht, aber obwohl er Sohn und Bruder eines Herzogs von Bedford war, lehnte auch er es ab, sich zurückzuziehen. Gerade erst kürzlich muß wohl seine Entschlossenheit auf eine harte Probe gestellt worden sein. Das Amt des Präsidenten des Geheimen Rates wird fast immer mit einem Peer besetzt. Als er bei dem kürzlichen Ministerwechsel jenes Amt annahm, glaubte man allgemein, er würde in den Peersstand erhoben. Mitnichten! Er zog es vor, ein Mitglied des Unterhauses zu bleiben, seinen Sitz aufzugeben, sich an die Wähler der City von London zu wenden und durch Akklamation wiedergewählt zu werden. Ebenso sah Sir William Molesworth in dem Gerücht, nach dem er beinahe ins Oberhaus befördert worden wäre, eine Verunglimpfung seiner politischen Persönlichkeit und sorgte für die Verbreitung eines entschiedenen Dementis, daß er jemals die Absicht gehabt habe, eine Peerswürde auzunehmen.

Soviel zur Peerswürde; es hat jedoch den Anschein, als sei die Ritterwürde, da sie keine politische Macht verleiht, verschleudert worden, um die Parvenüs der Bourgeoisie zu befriedigen. Nur so können wir die Erhebung des Obergärtners des Herzogs von Devonshire, Sir Joseph Paxtons, und eines Lieferanten, Sir John Fox', zu jenem Rang erklären. Wird das aber dem Selbstgefühl der Bourgeoisie in allen Fällen genügen? Offenbar nicht; denn der Ingenieur Stephenson lehnte die Bettelwürde verächtlich ab, und ganz unlängst folgte seinem Beispiel der Eisenbahnunternehmer Dargan, der sich zweifelsohne mit der Annahme der Würde in eine falsche Position zu bringen glaubte. Vergeblich wirbt Ihre Majestät um ihn, besucht ihn auf seinem ansehnlichen Herrensitz, eine Ehre, die man früher nur der höchsten Aristokratie zu erweisen geruhte; doch der spröde Bürger schreckt vor der ausgestreckten Hand Ihrer Königlichen Hoheit zurück, während Königin Victoria, indem sie den Arm des widerstrebenden Bürgers ergreift, dem Bedürfnis des Feudalismus Ausdruck gibt, heutzutage von den Industrieführern der Epoche gestützt zu werden.

Während so die Bourgeoisie der Aristokratie allmählich Macht entwindet, ergibt sich natürlich die Frage, wie wohl die Bourgeoisie ihren neuerwor- <647> benen Einfluß nutzen wird? Diese Sache darf man nicht von einem Klassengesichtspunkt, sondern nur von einem umfassenden humanitären Standpunkt aus betrachten; und die alles überschattende Frage ist die: welche Auswirkungen mag wohl diese Wandlung auf das Geschick und die soziale Lage der arbeitenden Millionenmassen Englands haben?

Einige Politiker der sogenannten liberalen Schule schwätzen viel von der "Union der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse", aber der Gedanke ist ein absurdes Hirngespinst. Eine breite Kluft trennt den Unternehmer vom Arbeiter - den Herrn vom Diener. Was das Dienstpersonal anbelangt, so sprechen die letzten kritischen Worte Talfourds für sich:

"Wie schmerzlich ist der Gedanke", sagt er, "daß um uns herum Männer und Frauen aufwachsen, unserem Komfort und unseren Bedürfnissen dienend, ständige Insassen unserer Behausungen, mit deren Neigungen und Charakter wir ebensowenig vertraut sind, als wären sie Bewohner einer anderen Sphäre."

Damit keine Unklarheit über die betreffenden Bewohner der "beiden Sphären" entstehen mag, zwingen die Damen der Bourgeoisie ihre Dienerinnen - wobei sie ihre eigene verhältnismäßig frische Emanzipation von der Leibeigenschaft vergessen -, als Zeichen der unteren Sphäre "Hauben" zu tragen, und nur selten gestatten sie ihren Dienstmädchen, sich nett zu kleiden, aus Furcht, daß nicht die Kennzeichen von Grund und Boden, sondern des Geldes verschwinden könnten.

Und was den Gesellen aller Gattungen anbelangt - in welcher Beziehung steht er zu seinem Dienstherrn? Alle wissen, welchen Widerstand die Unternehmer der "Zehnstunden"-Bill entgegensetzten. Aus Groll über den kürzlichen Verlust der Korngesetze halfen die Tories der Arbeiterklasse, sie zu erringen; als sie jedoch in Kraft trat, zeigen die Berichte der Bezirksinspektoren, mit welch schamloser List und kleinlicher, heimtückischer Niedertracht sie umgangen wurde. Jeden späteren Versuch im Parlament, menschlichere Verhältnisse für die Arbeiterschaft herbeizuführen, beantworteten die Vertreter der Bourgeoisie mit dem Schlagwort vom Kommunismus! Herr Cobden hat das sehr oft getan. Seit Jahren beabsichtigten die Unternehmer, die Arbeitszeit in den Werkstätten über das Maß des menschlich Erträglichen hinaus zu verlängern und durch skrupelloses Anwenden des Kontraktsystems, durch das Ausspielen eines Arbeiters gegen den anderen, den Verdienst des gelernten auf den des ungelernten Arbeiters herabzudrücken. Dieses System trieb schließlich die Amalgamated Engineers <Vereinigte Metallarbeiter>, dagegen zu revoltieren, und die brutalen Äußerungen, die damals unter den Herren gang und gäbe waren, zeigten, wie wenig vornehmes oder menschliches Gefühl von ihnen zu erwarten war. Ihre grobe Unwissenheit stellten sie obendrein noch zur Schau durch die Anstellung eines drittrangigen "Literaten", <648> eines gewissen Sidney Smith, durch die Unternehmer-Assoziation, der sie in der Presse verteidigen und den Wortkrieg gegen ihre empörten Arbeiter führen sollte. Der Stil des gemieteten Schreiberlings paßte gut zu der gestellten Aufgabe, und als der Kampf vorüber war und die Herren weder der Literatur noch der Presse mehr bedurften, gaben sie ihrem Mietling den Laufpaß. Wenn auch die Bourgeoisie nicht nach der Gelehrsamkeit der alten Schule strebt, pflegt sie deshalb nun nicht etwa die moderne Wissenschaft und Literatur. Das Hauptbuch, das Schreibpult, das Geschäft - das ist Bildung genug. Soweit deren Töchter eine kostspielige Erziehung genießen, werden sie oberflächlich mit einigen "Fertigkeiten" ausgestattet; jedoch von einer wirklichen Bildung des Geistes und seiner Ausrüstung mit einem Wissensschatz - davon träumt man nicht einmal.

Die derzeitige glänzende Bruderschaft der Romanschriftsteller Englands - deren anschauliche und beredte Seiten der Welt mehr politische und soziale Wahrheiten vermitteln, als alle Berufspolitiker, Publizisten und Moralisten zusammengenommen von sich gegeben haben - hat jede Schicht der Bourgeoisie beschrieben, vom "allervornehmsten" Rentier und Inhaber von Staatspapieren, der alle Arten des Geschäfts als gewöhnlich betrachtet, bis zum kleinen Ladenbesitzer und Advokatengehilfen. Und wie haben Dickens und Thackeray, Fräulein Brontë und Frau Gaskell sie gezeichnet? Voller Anmaßung, Heuchelei, kleinlicher Tyrannei und Ignoranz: und ihr Urteil wurde von der zivilisierten Welt mit dem verdammenden Epigramm bekräftigt, das sie dieser Klasse anheftete: "unterwürfig nach oben und tyrannisch nach unten".

Die beschränkte und enge Sphäre, in der sich die Bourgeoisie bewegt, ist bis zu einem bestimmten Grad auf das Gesellschaftssystem zurückzuführen, von dem sie einen Teil bildet. Wie der russische Adel unruhig zwischen dem Druck des Zaren über ihm und der Furcht vor den versklavten Massen unter ihm lebt, so steht die englische Bourgeoisie zwischen der Aristokratie auf der einen und der Arbeiterklasse auf der anderen Seite. So oft die Bourgeoisie seit dem Frieden von 1815 gegen die Aristokratie vorgehen wollte, hat sie der Arbeiterklasse erzählt, daß an deren Not irgendein aristokratisches Privileg und Monopol die Schuld trüge. Auf diese Weise konnte die Bourgeoisie die Arbeiterklasse bewegen, ihr 1832 beizustehen, als sie die Reformbill wollte. Nachdem sie eine Reformbill für sich erhalten hatte, verweigerte sie jedoch der Arbeiterklasse eine solche Bill - ja, im Jahre 1848 trat sie ihr sogar mit Spezialkonstablerknüppeln entgegen. Als nächstes sollte die Aufhebung der Korngesetze das Allheilmittel für die Arbeiterklasse sein. Nun gut, dieses wurde der Aristokratie abgerungen, aber die "gute Zeit" war noch immer nicht gekommen; und vergangenes Jahr, als ob damit die letzte Möglichkeit für eine ähnliche Politik in Zukunft beseitigt werden sollte, wurde die Aristokratie gezwungen, einer Erbschaftssteuer auf den Grundbesitz zuzustimmen - eine Steuer, von der sich die gleiche Aristokratie 1793 egoistisch befreit hatte, <649> während sie die Erbschaft von beweglichem Besitztum mit Steuern belegte. Mit diesem Fetzen einer Beschwerde schwand die letzte Möglichkeit, die Arbeiterklasse zu dem Glauben zu verleiten, ihre schwere Lage hätte sie einzig und allein der aristokratischen Gesetzgebung zu verdanken. Nun sind der Arbeiterklasse vollends die Augen geöffnet, und sie beginnt zu rufen:

"Unser St. Petersburg ist in Preston!" Und in der Tat, während der vergangenen acht Monate sah diese Stadt ein seltsames Schauspiel - von den Gewerkschaften und den Werkstätten in allen Teilen des Vereinigten Königreiches finanziell unterstützt, war ein stehendes Heer von 14.000 Männern und Frauen angetreten, um mit den Kapitalisten einen gewaltigen sozialen Kampf um die Macht auszutragen, während die Kapitalisten von Preston ihrerseits Beistand von den Kapitalisten Lancashires erhielten.

Welche Formen immer dieser soziale Kampf in Zukunft annehmen mag, wir haben erst seinen Anfang gesehen. Er scheint dazu bestimmt, die ganze Nation zu erfassen und Phasen zu durchlaufen, die die Geschichte bisher nicht kannte; denn man muß sich vor Augen halten, daß, obwohl die Arbeiterklasse noch mit zeitweiligen Niederlagen rechnen muß, große gesellschaftliche und ökonomische Gesetze wirksam sind, die deren Triumph schließlich verbürgen müssen. Die gleiche industrielle Welle, die die Bourgeoisie veranlaßt hat, sich gegen die Aristokratie zu erheben, zwingt nun die Arbeiterklasse - jetzt und künftig unterstützt durch die Emigration -, sich gegen die Bourgeoisie zu erheben. Genauso wie die Bourgeoisie der Aristokratie Schläge versetzt, wird sie solche von der Arbeiterklasse empfangen. Schon das instinktive Erkennen dieser Tatsache legt der Aktion jener Klasse gegen die Aristokratie Fesseln an. Das politische Auftreten der Arbeiterklasse in der letzten Zeit hat die Bourgeoisie gelehrt, offene politische Bewegungen zu hassen und zu fürchten. Ihre stehende Redensart lautet: "Ehrenwerte Leute schließen sich denen nicht an, mein Herr." Die Großbourgeoisie äfft die Lebensweise der Aristokratie nach und ist bestrebt, sich mit ihr zu verbinden. Infolgedessen wird der Feudalismus in England nicht zugrunde gehen an den kaum wahrnehmbaren Auflösungsprozessen von seiten der Bourgeoisie; die Ehre eines solchen Sieges ist der Arbeiterklasse vorbehalten. Wenn die Zeit dafür reif sein wird und die Arbeiterklasse anerkanntermaßen die Arena der politischen Aktion betritt, werden sich drei mächtige Klassen gegenüberstehen - die erste vertritt den Grundbesitz, die zweite das Geld, die dritte die Arbeit. Und wie die zweite über die erste triumphiert, so muß sie, wenn sie an der Reihe ist, ihrem Nachfolger auf dem Felde der politischen und sozialen Auseinandersetzung weichen.