Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 60-65
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Lord Palmerston


I

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 79 vom 16. Februar 1855]

<60> London, 12. Februar. Lord Palmerston ist unstreitig das interessanteste Phänomen des offiziellen England. Obgleich ein Greis und seit 1807 fast ohne Unterbrechung auf der öffentlichen Bühne, hat er verstanden, eine Neuigkeit zu bleiben und alle die Hoffnungen wachzuhalten, die sich an vielversprechende und ungeprüfte Jugend zu haften pflegen. Mit einem Fuße im Grabe, soll er seine wahre Karriere noch nicht begonnen haben. Wenn er morgen stirbt, wird ganz England überrascht werden mit der Nachricht, daß er während eines halben Jahrhunderts Minister war. Kein universeller Staatsmann, ist er sicher ein universeller Schauspieler - gleich erfolgreich im heroischen wie im komischen, im pathetischen wie im familiären Stil, in der Tragödie wie in der Farce, obgleich letztere seiner Natur mehr zusagen mag. Er ist kein Redner erster Klasse, aber er ist ein vollendeter Mann der Debatte. Mit wundervollem Gedächtnis, großer Erfahrung, vollkommenem Takt, nie versagender Geistesgegenwart, vornehmer Geschmeidigkeit und der allergenauesten Kenntnis parlamentarischer Schliche, Intrigen, Parteien und Persönlichkeiten, behandelt er schwierige Fälle mit gefälliger Geläufigkeit, sich anschmiegend an die Vorurteile seines jedesmaligen Publikums, geschützt vor jeder Überraschung durch seine Nonchalance, gegen jedes Selbstbekenntnis durch seine selbstische Gewandtheit, gegen leidenschaftliches Überströmen durch tiefe Frivolität und aristokratische Indifferenz. Ein glücklicher Witzling, schmeichelt er sich bei aller Welt ein. Da er nie sein kaltes Blut verliert, imponiert er leidenschaftlichen Gegnern. Wenn allgemeiner Standpunkte ermangelnd, ist er stets bereit, ein Netz eleganter Allgemeinheiten zu spinnen. Wenn unfähig, einen Gegenstand zu bemeistern, weiß er mit ihm zu spielen. Wenn zurückbebend vor dem Kampfe mit einem gewaltigen Feinde, weiß er einen schwachen zu improvisieren.

<61> Ausländischem Einfluß in der Tat nachgebend, bekämpft er ihn mit dem Worte. Da er von Canning - der indes auf seinem Sterbebett vor ihm warnte - die Mission Englands, konstitutionelle Propaganda auf dem Kontinente zu machen, als Erbe übernahm, fehlte ihm natürlich nie das Thema, den Nationalvorurteilen zu schmeicheln und gleichzeitig den eifersüchtigen Verdacht fremder Mächte wachzuhalten. In dieser bequemen Weise zur bète noire <(wörtlich: schwarzes Tier; hier:) Abscheu, Schreckgespenst> der kontinentalen Höfe geworden, konnte er nicht verfehlen, daheim als "wahrhaft englischer Minister" zu figurieren. Obgleich ursprünglich Tory, hat er es erreicht, alle "shams" <"Schwindeleien"> und Widersprüche, die das Wesen des Whiggismus bilden, in die Leitung der auswärtigen Politik einzuführen. Er versteht es, demokratische Phraseologie mit oligarchischen Ansichten zu versöhnen; die Frieden predigende Bourgeoisie mit der hochfahrenden Sprache von Englands aristokratischer Vergangenheit zu decken; als Angreifer zu erscheinen, wo er einverstanden, und als Verteidiger, wo er verrät; einen scheinbaren Feind zu schonen und einen angeblichen Verbündeten zu erbittern; im entscheidenden Moment des Zwistes sich auf der Seite des Stärkeren gegen den Schwachen zu befinden und tapfere Worte zu machen im Akt des Davonlaufens.

Von der einen Seite angeklagt, sich im Solde Rußlands zu befinden, ist er auf der andern des Karbonarismus verdächtig. Wenn er sich 1848 im Parlament zu verteidigen [hatte] gegen eine Motion auf Anklagezustand wegen geheimen Einverständnisses mit Rußland, hatte er 1850 die Selbstgenugtuung, von einer Verschwörung fremder Gesandtschaften verfolgt zu werden, die im Hause der Lords erfolgreich war, aber am Hause der Gemeinen scheiterte. Wenn er fremde Völker verriet, so geschah es stets mit großer Höflichkeit. Wenn die Unterdrücker stets seines aktiven Beistandes sicher waren, fehlte den Unterdrückten nie das Schaugepränge seiner edelmütigen Rhetorik. Polen, Italiener, Ungarn etc. fanden ihn immer am Ruder, wenn sie unterlagen, aber ihre Besieger verdächtigten ihn stets der Verschwörung mit den Opfern, die er ihnen zu machen erlaubt hatte. Bisher, in allen Fällen, war es eine wahrscheinliche Chance des Erfolges, ihn zum Gegner, und eine sichere Chance des Ruins, ihn zum Freunde zu haben. Aber wenn die Kunst seiner Diplomatie nicht in den wirklichen Resultaten seiner auswärtigen Unterhandlungen erscheint, glänzt sie desto heller in der Art, wie er das englische Volk vermochte [dahinzubringen], Phrasen für Tatsachen, Phantasien für Realitäten und hochklingende Vorwände für schäbige Motive in Kauf zu nehmen.

<62> Henry John Temple, Vicomte Palmerston, wurde 1807 bei Bildung der Administration des Herzogs von Portland zum Junior Lord der Admiralität ernannt. 1809 ward er Secretary at War <Staatssekretär für das Kriegswesen> und behauptete sich auf diesem Posten bis Mai 1828 in den Ministerien von Perceval, Liverpool, Canning, Goderich und Wellington. Jedenfalls ist es sonderbar, den Don Quijote "freier Institutionen", den Pindar der "Herrlichkeiten des konstitutionellen Systems" als eminentes und permanentes Mitglied der Tory-Verwaltung zu finden, die die Korngesetze promulgierte, fremde Söldner auf dem englischen Boden stationierte, dem Volke, nach einem Ausdrucke des Lord Sidmouth, von Zeit zu Zeit "zur Ader ließ", die Presse knebelte, die Meetings unterdrückte, die Masse der Nation entwaffnete, regelmäßige Gerichte zugleich mit der individuellen Freiheit suspendierte, mit einem Worte, den Belagerungszustand über Großbritannien und Irland verhing! 1829 ging Palmerston zu den Whigs über, die ihn November 1830 zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten ernannten. Mit Ausnahme der Unterbrechungen von November 1834 bis April 1835 und von 1841 bis 1846, wo sich die Tories am Ruder befanden, hat er ausschließlich die auswärtige Politik Englands geleitet von der Revolution von 1830 bis zum Staatsstreich von 1851. Ein Überblick über seine Leistungen während dieser Periode in einem andern Briefe.

II

["Neue Oder-Zeitung" Nr. 83 vom 19. Februar 1855]

London, 14. Februar. "Punch" pflegte in den letzten Wochen Lord Palmerston als den Clown des Puppenspiels zu maskieren. Dieser Clown ist bekanntlich Störenfried von Profession, Liebhaber von geräuschvollen Prügeleien, Ausbrüter schädlicher Mißverständnisse, Virtuose des Krakeels, heimisch nur in der allgemeinen Verwirrung, die er anrichtet, worin er Weib, Kind und zuletzt auch die Polizei zum Fenster hinauswirft, um am Schlusse, nach vielem Lärmen um nichts, sich selbst aus der Schlinge zu ziehen, mehr oder minder unversehrt und mit neckischer Schadenfreude über den Verlauf des Skandals. Und so erscheint Lord Palmerston allerdings - von einem pittoresken Gesichtspunkt - als ein rastloser und unermüdlicher Geist, der Schwierigkeiten, Verwickelungen, Wirren aufsucht, als das naturgemäße <63> Material seiner Tätigkeit, und daher Konflikte schafft, wo er sie nicht fertig vorfindet. Kein englischer Minister des Auswärtigen zeigte sich je so rührig in jedem Winkel der Erde - Blockaden der Schelde, des Tagus, des Douro, Blockaden von Mexiko und Buenos Aires, Neapel-Expeditionen, Pacifico-Expeditionen, Expeditionen in den Persischen Meerbusen, Kriege in Spanien um die "Freiheit" und in China, um das Opium einzuführen, nordamerikanische Grenzstreitigkeiten, Afghanistan-Feldzüge, Saint-Jean-d'Acre-Bombardement, westafrikanische Schiffsdurchsuchungsrechts-Krakeele, Unfriede selbst im "Pazifik", und alles das begleitet und ergänzt von einer Unzahl drohender Noten, Aktenstößen von Protokollen und diplomatischen Protesten. All dieser Lärm scheint sich im Durchschnitt aufzulösen in heftige parlamentarische Debatten, die dem edlen Lord ebensoviel ephemere Triumphe sichern. Er scheint auswärtige Konflikte zu behandeln wie ein Artist, der sie zu einem gewissen Punkte treibt, aber sich zurückzieht, sobald sie zu ernsthaft zu werden drohen und ihm die dramatische Aufregung verschafft haben, deren er bedarf. Die Weltgeschichte selbst erscheint so als ein Zeitvertreib, ausdrücklich erfunden zur privaten Selbstgenüge des edlen Vicomte Palmerston von Palmerston. Dies ist der erste Eindruck, den die bunte Diplomatie Palmerstons auf den Unbefangenen hervorbringt. Bei näherer Prüfung zeigt sich jedoch, daß sonderbarerweise ein Land stets bei seinen diplomatischen Kreuz- und Querzügen gewann, und zwar nicht England, sondern Rußland. [Joseph] Hume, ein Freund Palmerstons, erklärte ihm 1841:

"Wenn der Kaiser von Rußland einen eigenen Agenten im britischen Kabinett besäße, könnte der sein Interesse nicht besser vertreten als der edle Lord es tue."

1837 apostrophierte Lord Dudley Stuart, einer der größten Bewunderer Lord Palmerstons, ihn in folgenden Worten:

"Für wieviel Zeit noch der edle Lord vorhabe, Rußland zu erlauben, Großbritannien zu insultieren und den britischen Handel zu gefährden? Der edle Lord degradiere England in den Augen der Welt, indem er ihm die Rolle eines Renommisten zuteile, hochfahrend und tyrannisch gegen den Schwachen, demütig und verworfen gegen den Starken."

Es kann wenigstens nicht geleugnet werden, daß alle Rußland günstigen Verträge, vom Vertrage zu Adrianopel bis zum Vertrage von Balta-Liman und dem dänischen Sukzessionsvertrage unter den Auspizien Palmerstons abgeschlossen wurden. Der Vertrag von Adrianopel fand Palmerston allerdings nicht im Ministerium, sondern in der Opposition, aber einmal wurde der Vertrag erst von ihm, und zwar auf einem Schleichwege, anerkannt, <64> andrerseits leitete er damals die Whig-Opposition, griff Aberdeen wegen seiner österreichisch-türkischen Tendenz an und erklärte Rußland für den Verfechter der Zivilisation. (Siehe z.B. die Sitzungen des Hauses der Gemeinen vom 1. Juni 1829, 11. Juni 1829, 16. Februar 1830 etc.) Sir Robert Peel erklärte ihm bei dieser Gelegenheit im Hause der Gemeinen: "Er wisse nicht, wen Palmerston eigentlich repräsentiere." Im November 1830 übernahm Palmerston das auswärtige Ministerium. Er wies nicht nur das französische Anerbieten zur gemeinsamen Intervention für Polen zurück wegen der "freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Kabinett von St. James und dem Kabinett von St. Petersburg", sondern verbot Schweden zu waffnen, und drohte Persien, das bereits eine Armee an die russische Grenze gesandt, mit Krieg, wenn es sie nicht zurückziehe. Er bestreitet selbst einen Teil der russischen Kriegskosten, indem er ohne parlamentarische Vollmacht fortfährt, Zins und Kapital auf das sog. russisch-holländische Anlehen auszuzahlen, nachdem die belgische Revolution die Stipulationen wegen dieses Anlehens annulliert hatte. 1832 erlaubt er, daß die Hypothek, welche die Nationalversammlung von Griechenland den englischen Kontrahenten der griechisch-englischen Anleihe von 1824 auf die Nationaldomänen garantiert hatte, repudiiert und als Sicherheit auf ein neues Anlehen übertragen wird, das unter russischen Auspizien abgeschlossen. Seine Depeschen an Herrn Dawkins, den englischen Residenten in Griechenland, lauten stets: "Sie haben im Einverständnis mit den russischen Agenten zu handeln." Am 8. Juli 1833 erpreßt Rußland von der Pforte den Vertrag von Hunkiar-Iskelessi, der europäischen Kriegsschiffen die Dardanellen verschließt und Rußland (siehe den zweiten Artikel des Vertrags) eine achtjährige Diktatur in der Türkei sichert. Der Sultan war zu dem Vertrage gezwungen, weil eine russische Flotte im Bosporus und eine russische Armee vor den Toren von Konstantinopel - angeblich zum Schutze gegen Ibrahim Pascha. Palmerston hatte die dringende Aufforderung der Türkei, für sie zu intervenieren, wiederholt abgeschlagen und sie so zur Annahme der russischen Hilfe gezwungen. (Nach seinen eignen Erklärungen im Hause der Gemeinen am 11. Juli, 24. August etc. 1833 und 17. März 1834.) Als Lord Palmerston in das auswärtige Ministerium eintrat, fand er den englischen Einfluß durchaus überwiegend in Persien. Die englischen Agenten erhalten von ihm die stehende Ordre: "sie hätten für alle Fälle im Einverständnis mit dem russischen Gesandten zu handeln." Rußland setzt mit seiner Unterstützung einen russischen Prätendenten auf den persischen Thron. Lord Palmerston erlaubt die russisch-persische Expedition gegen Herat. Erst nachdem sie gescheitert, verordnet er eine anglo-indische Expedition in den Persischen Meer- <65> busen, ein Scheinmanöver, das den russischen Einfluß in Persien verstärkte. 1836, unter dem edlen Lord, werden Rußlands Usurpationen an den Donaumündungen, seine Quarantänen, seine Mautverfügungen usw. zum erstenmal von England anerkannt. In demselben Jahre benutzt er die Konfiskation eines englischen Handelsschiffes, des "Vixen" - und der "Vixen" war auf Antrieb der englischen Regierung expediert - in der zirkassischen Bucht von Sudschuk Kale durch ein russisches Kriegsschiff, um die russischen Ansprüche auf die zirkassische Küste offiziell anzuerkennen. Es stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, daß er schon seit 6 Jahren die russischen Ansprüche auf den Kaukasus im geheimen anerkannt hatte. Bei dieser Gelegenheit entschlüpfte der edle Vicomte dem Tadelsvotum des Hauses der Gemeinen durch eine Majorität von nur 16 Stimmen. Einer seiner heftigsten Ankläger war damals Sir Stratford Canning, jetzt Lord Redcliffe und englischer Gesandter zu Konstantinopel. 1836 schließt einer der englischen Agenten <Urquhart> zu Konstantinopel einen für England vorteilhaften Handelstraktat mit der Türkei. Palmerston schiebt die Ratifikation auf und schiebt 1838 einen neuen Vertrag unter, so nützlich für Rußland und so schädlich für England, daß eine Anzahl englischer Kaufleute in der Levante sich entschließen, künftig unter dem Schutze russischer Firmen zu handeln. Der Tod Königs Wilhelm IV. gab Anlaß zu dem berüchtigten Portfolio-Skandal. Zur Zeit der Warschauer Revolution war mit dem Palaste des Großfürsten Konstantin eine Sammlung geheimer Korrespondenzen, Depeschen usw. der russischen Diplomaten und Minister in die Hände der Polen gefallen. Graf Zamoyski, Neffe des Prinzen Czartoryski, brachte sie nach England. Hier wurden sie auf Befehl des Königs unter der Redaktion Urquharts und der Oberaufsicht Palmerstons im "Portfolio" veröffentlicht. Kaum war der König tot, so verleugnete Palmerston seine Verbindung mit dem "Portfolio", weigerte sich, die Kosten dem Drucker zu zahlen usw. Urquhart ließ seine Korrespondenz mit Backhouse, Palmerstons Unterstaatssekretär, drucken. Die "Times" (vom 26. Januar 1839) bemerkt darüber:

"Es ist nicht an uns, zu verstehn, was Lord Palmerston fühlt, aber wir sind sicher, daß kein Zweifel möglich über das, was jede andere Person vom Range eines Gentleman und in der Position eines Ministers nach der Veröffentlichung jener Korrespondenz fühlen würde."