Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 66-68
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Herberts Wiederwahl -
Die ersten Schritte des neuen Ministeriums -
Nachrichten aus Ostindien


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 85 vom 20. Februar 1855]

<66> London, 16. Februar. Die Farce der Wiederwahl des Herrn Sidney Herbert als Parlamentsmitglied für die südliche Abteilung von Wiltshire ging gestern in der Stadthalle von Salisbury vor sich. Wilts ist selbst unter den englischen Grafschaften berüchtigt durch eine Konzentration des Grundbesitzes, die seine gesamte Bodenfläche in das Eigentum von weniger als ein Dutzend Familien verwandelt hat. Mit Ausnahme einiger nordschottischer Distrikte ist die Erde nirgends so gründlich von Einwohnern "gesäubert" und das System der modernen Landwirtschaft so konsequent durchgeführt. Brechen nicht zufällig Familienfehden unter seinen wenigen Besitzern aus, so kennt Wilts keine Wahlkämpfe.

Kein Gegenkandidat war wider Sidney Herbert aufgestellt. Der Hochsheriff, der bei der Wahl präsidierte, erklärte ihn daher, gleich nach dem Beginn der Sitzung, für in aller Formen Rechtens wiedererwählt. Sidney Herbert erhob sich dann und richtete einige ganz abgedroschene Gemeinplätze an seine Pächter und Vasallen. Indes hatte sich nach und nach in der Stadthalle ein nicht wahlberechtigtes städtisches Publikum versammelt, das von der englischen Konstitution mit dem Privilegium, die Kandidaten auf den Hustings zu langweilen, abgespeist wird. Kaum saß Sidney Herbert nieder, als ein Kreuzfeuer von Interpellationen sein geweihtes Haupt umschwirrte. "Wie steht's mit den grünen Kaffeebohnen, die man unseren Soldaten aufgetischt hat?", "Wo ist unsere Armee?", "Was sagte die 'Times' gestern von Ihnen?", "Warum schonten Sie Odessa?", "Besitzt Ihr Onkel, der russische Prinz Woronzow, Paläste zu Odessa?" usw. Es wurde natürlich nicht die geringste Notiz auf diese unparlamentarischen Fragesteller genommen. Sidney Herbert faßte vielmehr den ersten Augenblick des nachlassenden Lärms ab, um ein Dankvotum für den Sheriff zu beantragen, der so "unparteiisch" die <67> "Verhandlungen" geleitet habe. Dies wurde angenommen unter dem Beifallsklatschen des parlamentarischen und dem Zischen und Grunzen des unparlamentarischen Publikums. Dann folgte eine zweite Salve von Stoßfragen: "Wer hungerte unsere Soldaten aus? Laßt ihn selbst in den Krieg ziehn! etc.". Resultat dasselbe wie das erstemal. Der Sheriff erklärte dann das Stück, das wenig mehr als eine halbe Stunde gewährt hatte, für ausgespielt, und der Vorhang fiel.

Die ersten Schritte des erneuten Ministeriums werden keineswegs beifällig aufgenommen. Da Lord Panmure, der neue Kriegsminister, ein Invalide ist, fällt die Hauptlast seiner Verwaltung auf den Unterstaatssekretär des Krieges. Die Ernennung Frederick Peels, des jüngern Sohnes des verstorbnen Peel, zu diesem wichtigen Posten erregt um so größeren Anstoß, als Frederick Peel eine notorische Mittelmäßigkeit ist. Trotz seiner Jugend ist er das leibhafte Bild der Routine. Andere Leute werden zu Bürokraten gemacht. Er ist als Bürokrat auf die Welt gekommen. Frederick Peel verdankt seinen Posten dem Einfluß der Peeliten. Es war daher nötig, in die andre Seite der Waagschale einen Whig zu werfen. Sir Francis Baring ist daher zum Kanzler des Herzogtums Lancaster ernannt. Er war der Schatzkanzler der Whig-Administration des Lord Melbourne und führte damals den wohlverdienten Beinamen: "Herr Defizit". Die neueren Armee-Ernennungen bleiben alle dem System der Gerontokratie treu. So ist der mehr als 80jährige Lord Seaton zumbergeneral in Irland bestellt. Lord Rokeby, alt, gichtbrüchig, taub, ist als Kommandant der Gardebrigade nach der Krim entsandt. Das Kommando der zweiten Division daselbst - früher unter Sir de Lacy Evans - ist dem General Simpson zugefallen, der kein Simson ist, sondern vielmehr als überjähriger Lieutnant-Gouverneur von Portsmouth sich auf dem passenden Ruheposten befand. General Somerset, 1811 schon Brigadier, ist als kommandierender General nach Ostindien verschifft. Endlich Admiral Boxer, dieser alte "Anarch", wie ihn die "Times" nennt, der zu Konstantinopel den ganzen Transportdienst usw. in die äußerste Unordnung brachte, ist nun nach Balaklawa beordert, um den dortigen Hafen "in Ordnung" zu bringen.

"Wir fürchten", sagt die "Times", "wir müssen anderswohin schauen für ministerielle Energie. Es wäre umsonst, gegen solche grausame und leichtfertige Vergeudung der besten Hilfsquellen der Nation an die zu appellieren, die solche Dinge ins Werk setzen. Wären sie nicht betört durch den langen Besitz der Gewalt, die stets von einem Teil ihrer eigenen Klasse auf den andern überging, sie würden sich mindestens gehütet haben, gerade diesen Augenblick zur Schaustellung solcher mutwilligen und kurzsichtigen Selbstsucht zu erwählen. Der Instinkt der Selbsterhaltung würde sie eines Bessern belehren, aber wir fragen das Volk von England feierlich, ob es erlauben will, <68> daß seine Landsleute so auf dem Altar grausamer Apathie oder hilfsloser Unfähigkeit geopfert werden." Die "Times" droht: "Es ist nicht die Regierung, selbst nicht das Haus der Gemeinen, es ist die britische Konstitution, die vor Gericht steht."

Die neuesten Nachrichten aus Ostindien sind wichtig, weil sie den Stand des Geschäfts zu Kalkutta und Bombay als trostlos darstellen. In den Manufakturdistrikten schreitet die Krise langsam aber sicher voran. Die Besitzer von Feinspinnereien in Manchester haben in einem vorgestern gehaltenen Meeting beschlossen, vom 26. Februar an ihre Fabriken nur 4 Tage in der Woche arbeiten zu lassen und in der Zwischenzeit die Fabrikanten in der Umgegend zu ähnlichem Schritte aufzufordern. In den Fabriken zu Blackburn, Preston und Bolton ist den Arbeitern bereits angezeigt, daß künftig nur "kurze Zeit" gearbeitet wird. Die Bankerutte werden um so zahlreicher und größer sein, als in dem letzten Jahre viele Fabrikanten, um die Märkte zu forcieren, das Exportgeschäft mit Übergehung der Kommissionshäuser selbst in die Hand genommen. Der "Manchester Guardian" vom letzten Mittwoch gesteht, daß Überproduktion vorhanden sei, nicht nur in Fabrikaten, sondern auch in Fabriken.