Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 69-72
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Karl Marx

Das Parlament


["Neue Oder-Zeitung" Nr. 88 vom 22. Februar 1855]

<69> London, 17. Februar. Das Parlament eröffnete gestern wieder seine Sitzungen. Das Haus der Gemeinen war offenbar verstimmt. Es schien von der Überzeugung gequält, daß die Transaktionen der letzten 3 Wochen seine Autorität völlig gebrochen. Da saß wieder das alte Ministerium, neupoliert. Zwei alte Lords, die sich nicht vertragen konnten, waren daraus verschwunden, aber ein dritter alter Lord, der das Mißtrauensvotum mit beiden geteilt, war keine Staffel herunter-, sondern nur die höchste Staffel hinaufgefallen. Lord Palmerston wurde mit feierlichem Stillschweigen empfangen. Keine "cheers" <"Beifall">, kein Enthusiasmus. Seine Rede wurde ausnahmsweise mit sichtbarer Gleichgültigkeit und mit mißlaunigem Skeptizismus aufgenommen. Ausnahmsweise auch ließ ihn sein Gedächtnis im Stiche, und wühlte er zögernd unter seinen vor ihm liegenden Noten, bis Sir Charles Wood ihm zuflüsternd den verlorenen Faden wieder darreichte. Sein Auditorium schien ungläubig, daß die Veränderung der Firma das alte Haus vor dem Bankerutt retten werde. Seine ganze Erscheinung rief das Urteil des Kardinals Alberoni über Wilhelm von Oranien ins Gedächtnis:

"Dieser Mann war stark, solange er die Waage hielt. Er ist schwach, seitdem er sich selbst in eine der Schalen geworfen hat."

Die wichtigste Tatsache war jedoch unzweifelhaft die Erscheinung einer neuen Koalition gegenüber der erneuten alten - die Koalition der Tories unter Disraeli mit dem prononciertesten Teil der Radikalen, den Layard, Duncombe, Horsman usw. Gerade unter den letzten, den Mayfair-Radikalen, zählte Palmerston bisher seine lautesten Anhänger. Getäuschte Hoffnung <70> des Layard, einen subalternen Posten im Kriegsministerium zu erhalten - munkelt ein ministerielles Blatt. Werft ihm einen Posten hin! - zischelt ein anderes.

Lord Palmerston begann die Ankündigung seines neuen Ministeriums mit einer kurzen Geschichte der Ministerkrisis. Dann pries er sein eigenes Fabrikat. Das Ministerium, das er gebildet,

"besitze hinreichendes administratives Geschick, hinreichenden politischen Scharfsinn, hinreichend liberale Prinzipien, hinreichenden Patriotismus und Entschluß, seine Pflicht zu tun".

Lord Clarendon, Lord Panmure, Herr Gladstone, Sir James Graham - jeder erhielt sein Kompliment. Vorzüglich wie das Ministerium sei, werde es indes von einer großen Schwierigkeit angestarrt. Da sei Herr Roebuck und bestehe darauf, nächsten Donnerstag sein Untersuchungskomitee ernannt zu haben. Wozu bedürfe das Haus eines Komitees? Er erinnere sie an eine Anekdote aus der Epoche Richards II. zur Zeit der Empörung Wat Tylers. Der junge Monarch sei einer Truppe von Rebellen begegnet, deren Häuptling soeben unter ihren Augen gefallen. Kühn auf sie losgehend, habe er ausgerufen: "Ihr habt euren Führer verloren; ich, Freunde, will euer Führer sein." "So sage ich" (der junge (!) Diktator Palmerston), "wenn ihr, das Haus der Gemeinen, dies Komitee nun drangeben wollt, so wird die Regierung selbst ein Komitee sein."

Diese wenig ehrerbietige Vergleichung des Hauses mit einem Klub von "Rebellen" und die ungenierte Forderung, das Kabinett zum Richter über sich selbst zu bestallen, wurde mit ironischer Lache aufgenommen. Was wollt ihr denn, rief Palmerston, seine Stimme erhebend und seinen Kopf in die bekannte irisch kecke Position werfend. Was bezweckt ein Untersuchungskomitee? Administrative Verbesserungen? Ganz wohl! Hört, was wir alles zu verbessern beschließen. Ihr hattet vorher zwei Kriegsminister, den Secretary at War und den Minister für den Krieg. Ihr sollt künftighin nur einen haben, den letzteren. In dem Ordonnanzdepartement wird der militärische Oberbefehl an den Oberkommandanten (die Horse Guards) übertragen, die Zivilverwaltung an den Kriegsminister. Das Transportbüro wird ausgedehnt werden. Bisher, nach dem Akt von 1847, war der Termin für den Dienst 10 Jahre. Man wird jetzt freistellen, für jede beliebige Jahreszahl von 1-10 sich anwerben zu lassen. Man wird weder unter 24, noch über 32 Jahre werben. Nun zum Kriegsschauplatz! Hier wählt Palmerston, um Einheit, Energie und Ordnung in die Kriegführung und Verwaltung zu bringen, das sonderbare Mittel, hinter jeden Posten einen Kontrolleur mit unbestimmter Macht- <71> vollkommenheit zu stellen. Lord Raglan bleibt Oberkommandant, aber General Simpson wird Chef des Generalstabes, und Raglan "wird es für seine Pflicht halten, seine Ratschläge auszuführen". Sir John Burgoyne wird zurückberufen, und Sir Harry Jones wird Generalkommissär des Kommissariats mit unbestimmter diktatorischer Gewalt. Zugleich aber wird eine Zivilperson, Sir John MacNeill (Verfasser des berühmten Pamphlets: "Fortschritte Rußlands im Osten") nach der Krim beordert, um Untersuchungen über die Unterschleife, Unfähigkeit, Pflichtverletzung des Kommissariats anzustellen. Neue Spitalvorrichtungen in Smyrna, Skutari; Reform des ärztlichen Departements in der Krim und zu Hause, alle 10 Tage zwischen der Krim und England laufende Transportschiffe für Kranke und Verwundete. Zugleich aber wird der Kriegsminister von dem Gesundheitsminister 3 Zivilpersonen borgen und nach der Krim schicken, um dort die nötigen sanitären Vorrichtungen zur Verhütung der Pest bei eintretendem Frühlingswetter zu treffen und Untersuchungen über Personal und Führung des Medizinaldepartements zu veranstalten. Man sieht, für Kompetenzkonflikte ist gesorgt. Um Lord Raglan für sein jetzt mit "konstitutionellen Institutionen umgebenes Oberkommando" zu entschädigen, erhält er Vollmacht, in Konstantinopel über ein Korps von 300 türkischen Gassenkehrern und Totengräbern zu unterhandeln, die die tote Armee, verfaulten Pferde und übrigen Unrat beim Beginn des Tauwetters ins Meer zu liefern haben. Ein eigener Landtransport wird auf dem Kriegstheater errichtet werden. Während so auf der einen Seite der Krieg, wird durch Lord John Russell in Wien der Frieden vorbereitet werden, wenn tunlich.

Disraeli: Wenn man des edlen Lords Rühmen von dem "administrativen Geschicke und dem politischen Scharfsinn" seiner Kollegen gehört, sollte man [kaum] glauben, daß er von denselben "Schnitzermachern ohne Parallele" spreche, die das Haus vor 19 Tagen verurteilt habe! Gesetzt, die versprochenen Verbesserungen würden ins Werk gesetzt und seien das, wofür man sie ausgebe, bildeten sie nicht die stärkste Satire auf das Ministerium, das sich ihnen allein widersetzt, das eine Untersuchung der Gemeinen über die bisherige Mißverwaltung für ein Mißtrauensvotum gegen sich selbst erklärt habe? Sogar Lord John Russell habe erklärt, ihm sei das mysteriöse Verschwinden der Armee unerklärlich, und eine Untersuchung ihrer geheimen Ursachen sei unumgänglich. Solle das Haus sich selbst betören und den Beschluß, den es vor 10 Tagen erst gefaßt, wieder zurücknehmen? Es werde dadurch seinen öffentlichen Einfluß unwiederbringlich für Jahre einbüßen. Welches sei das Argument des edlen Lords und seiner neuangestrichenen Kollegen, das Haus der Gemeinen zur Selbstverdummung zu verleiten? <72> Versprechen, die ohne die Drohung eines Untersuchungskomitees nie gemacht worden wären. Er bestehe auf parlamentarischer Untersuchung. Palmerston trete seine neue Würde an mit Drohung gegen die selbständige Bewegung des Parlaments. Nie hätte ein Ministerium solche Unterstützung und Bereitwilligkeit auf seiten der Opposition gefunden wie das des Lords Aberdeen, das "letzte" Ministerium, doch wie solle er sagen! Die zwei Dromios verwirrten ihn ganz; er wolle daher sagen "das letzte Ministerium und ihre gegenwärtigen Treuen - ihre identischen Repräsentanten auf der Ministerbank".

Roebuck erklärte, er werde nächsten Donnerstag die Namen für das bereits vom Haus votierte Komitee vorschlagen. Die Administration sei die alte, die Karten seien nur gemischt worden, aber wieder in die alten Hände geraten. Nur die direkte Intervention des Hauses der Gemeinen könne die Fesseln der Routine brechen und die Hindernisse beseitigen, die der Regierung nicht erlaubten, selbst wenn sie wolle, die nötigen Reformen durchzuführen.

T[homas] Duncombe: Der edle Lord habe ihnen erzählt, er und die Regierung wollten ihr Komitee bilden! Sie dankten schönstens! Das Haus verlange eben, die Führung des edlen Lords und seiner Kollegen zu untersuchen! Er habe Reformen versprochen, aber wer solle sie ausführen! Dieselben Männer, deren Administration zu Reformen gezwungen. Nichts sei in der Verwaltung geändert. Es sei der Status quo ante <Zustand wie vor [der Motion des]> Roebuck. Lord John Russell sei feig von seinem Posten ausgerissen. Lord Palmerston selbst sei die "welke Blume" von 13 zu den Vätern versammelten Kabinetten, von dem Lord Liverpools bis zum gegenwärtigen. Er müsse daher unstreitig "große Erfahrung und hohes administratives Talent" besitzen. Sein Lord Panmure wiege nicht einmal den Herzog von Newcastle auf. Die Ernennung des Komitees sei keine Zensur. Es handle sich um Untersuchung. Zensur werde ihr wahrscheinlich auf dem Fuße folgen. Was die Verhandlungen in Wien angehe, so befinde sich auch hier die Regierung im Gegensatze zum Volke. Das Volk verlange Revision der Wiener Verträge von 1815 im Interesse der Polen, Ungarn und Italiener. Unter Krieg gegen Rußland aber verstehe es wörtliche Vernichtung der russischen Präponderanz.

Man sieht, das Ministerium Palmerston beginnt, womit das Ministerium Aberdeen geendet - mit dem Kampf gegen Roebucks Motion. Bis zum nächsten Donnerstag wird alles aufgeboten werden, um eine ministerielle Majorität gegen das Untersuchungskomitee zu erschleichen.