Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 150-154
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Eine Schlacht bei Sewastopol

Geschrieben um den 23. März 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4358 vom 7. April 1855]

<150> Unsere Zeitung bringt heute morgen die offiziellen französischen, englischen und russischen Berichte über eine Schlacht zwischen den Gegnern vor Sewastopol. Dieses ziemlich wichtige Ereignis macht unsererseits in Ergänzung zu den offiziellen Dokumenten einige Worte der Erklärung und des Kommentars notwendig.

Ungefähr vor einem Monat waren wir auf Grund der im allgemeinen erfolgreichen Ausfälle der Russen zu der Schlußfolgerung gekommen, daß die Laufgräben bis zu einem Punkt vorgeschoben worden waren, wo die Kräfte des Belagerten sich denen des Belagerers die Waage halten <Siehe vorl. Band, S. 53/54>; mit anderen Worten, die Laufgräben waren einander so nahe, daß es den Russen durch einen Ausfall möglich wurde, in jeden Teil der Laufgräben Kräfte zu bringen, die denjenigen die die Alliierten in der ersten oder den ersten beiden Stunden herbeischaffen können, zumindest gleich sind. Da ein oder zwei Stunden vollständig ausreichen, um das Erdwerk zu zerstören und die Kanonen einer Batterie zu vernageln, war die natürliche Folge, daß die Alliierten ihre Approchen nicht über diesen Punkt hinaus vortreiben konnten. Seit dieser Zeit war die Belagerung zu einem Stillstand gekommen, bis die Ankunft von drei französischen Brigaden (eine von der 8. und zwei von der 9. Division) es ihnen erlaubte, einen Teil der englischen Infanterie abzulösen und die Wachen der Trancheen zu verstärken. Gleichzeitig gab die Ankunft der Generale Niel und Jones von den Geniekorps den Belagerungsoperationen neue Lebhaftigkeit, und sie machten die Fehler wieder gut, die hauptsächlich der Eigensinn des französischen Generals Bizot und die numerische Schwäche <151> der britischen Infanterie veranlaßt hatten. Neue Approchen wurden jetzt aufgeworfen, besonders auf der englischen Seite, wo eine Parallele eröffnet ward, ungefähr 300 Yards von den russischen Werken auf dem Hügel von Malachow. Einige von den neuerrichteten Batterien gingen so weit vor nach der Seite von Inkerman, daß sie einem Teil der russischen Batterien in den Rücken gekommen wären oder sie enfiliert hätten, sobald ihr Feuer eröffnet werden konnte. Gegen diese neuen Linien haben die Russen gerade einen Vorstoß unternommen, der mit ungewöhnlicher Geschicklichkeit und Kühnheit ausgeführt wurde.

Die russischen Linien, wie jede Karte zeigt, erstrecken sich in einem halbrunden Bogen um die Stadt, von dem oberen Ende der Quarantäne-Bucht bis zum inneren Kriegshafen und von hier bis zur Spitze der Kilen-buchta. Diese letztere ist eine kleine Bucht, die durch die Ausläufer einer tiefen Schlucht gebildet wird, einer Schlucht, die sich von der Großen Bucht oder Sewastopoler Bucht bis hinauf zu dem Plateau hinzieht, wo die Alliierten ihr Lager haben. Auf der westlichen Seite dieser Schlucht erstreckt sich eine Reihe von Höhen hin, die die russischen Linien bilden; die beträchtlichste dieser Höhen ist der Hügel von Malachow, der durch seine beherrschende Position den Schlüssel des ganzen russischen rechten Flügels bildet. Auf der Ostseite der Schlucht und der Kilen-buchta befindet sich eine andere Anhöhe, die, völlig unter dem Feuer der russischen Batterien und ihrer Kriegsschiffe, solange außer dem Bereich der Alliierten blieb, als sie nicht völlig die Verbindung zwischen Sewastopol und Inkerman abschneiden konnte - eine Verbindung, die ihrerseits geschützt war durch das Feuer der Forts und Batterien der Nordseite des Hafens. Seitdem aber die Alliierten im Osten und Südosten von Malachow Positionen für Batterien gefunden hatten, die die russischen Linien im Rücken und auf der Flanke bedrohten, erhielt jener neutrale Hügel Wichtigkeit. Die Russen sandten daher in der Nacht vom 21. Februar eine Partie Arbeiter dorthin, um eine Redoute darauf zu errichten <die Redoute Selenginsk>, die von ihren Ingenieuren im voraus geplant war. Am Morgen sahen die Alliierten den langen Graben und den Beginn der Brustwehr dahinter. Sie scheinen völlig außerstande gewesen zu sein, deren Bedeutung zu verstehen; sie begnügten sich deshalb damit, sich nicht darum zu kümmern. Den nächstfolgenden Morgen jedoch war die Redoute, wenigstens in ihren Umrissen, beinahe fertig, obgleich es sich zeigte, daß das Profil, d.h. die Tiefe des Grabens und die Stärke der Brustwehr, noch immer sehr unvollkommen war. Jetzt entdeckten die Alliierten, daß dieses Werk bewunderungswürdig <152> lag, um ihre eigenen enfilierenden Batterien zu enfilieren, so gut wie nutzlos zu machen. Die Ingenieure erklärten, daß dieses Werk um jeden Preis genommen werden müsse. Canrobert organisierte daher unter dem größten Geheimnis eine Sturmkolonne, bestehend aus ungefähr 1.000 Zuaven und 3.000 Seetruppen. Da die Befehle erst zu einer späten Stunde gegeben werden konnten und unerwartet waren, verging einige Zeit, bis die Truppen auf dem Rendezvousplatz versammelt waren, und es war 2 Uhr morgens (24. [Februar]) geworden, bevor sie zum Sturm aufbrechen konnten, die Zuaven an der Spitze. Ein kurzer Marsch brachte sie bis auf 20 Yards an den Graben heran. Wie gewöhnlich bei Angriffen, war kein Schuß abzufeuern; die Soldaten hatten die Perkussionshütchen von ihren Gewehren zu nehmen, um nutzloses und zeittötendes Feuern zu verhindern. Plötzlich erschollen einige russische Kommandorufe; ein starkes Korps Russen im Innern der Redoute erhob sich vom Grunde, legte seine Büchsen an auf der Spitze der Brustwehr und warf eine Salve in die Angriffskolonne. Durch die Dunkelheit und durch die wohlbekannte eingefleischte Gewohnheit der Soldaten, in Verschanzungen immer direkt über die Brustwehr zu schießen, konnte diese Salve nur sehr geringe Wirkung auf die enge Spitze der Kolonne gehabt haben. Die Zuaven, kaum aufgehalten durch die abschüssigen Seiten des unvollendeten Grabens und Walls, waren in einem Augenblick in der Redoute und stürzten mit dem Bajonett auf ihre Gegner los. Ein fürchterliches Handgemenge fand statt. Nach einiger Zeit bemächtigten sich die Zuaven der Hälfte der Redoute, und später überließen die Russen sie ihnen gänzlich. Unterdes hatten die Seesoldaten, die den Zuaven in kurzer Entfernung folgten, entweder ihren Weg verloren oder machten aus einem anderen Grunde halt auf dem Rande des Hügels. Hier wurden sie auf jeder Flanke von einer russischen Kolonne angegriffen, die sie nach verzweifeltem Widerstand den Hügel hinuntertrieb. Während oder kurz nach dem Kampf muß der Tag angebrochen sein; die Russen zogen sich eilig vom Hügel zurück und ließen die Redoute in der Hand der Zuaven, auf die nun die ganze russische Artillerie, die auf diesen Punkt gerichtet werden konnte, ihr Feuer eröffnete. Die Zuaven warfen sich einen Augenblick nieder, während einige Büchsenschützen, die sie begleitet hatten, an den Malachow-Werken heraufkrochen und versuchten, auf die russischen Kanoniere durch die Schießscharten zu feuern. Aber das Feuer war zu stark, und bald hatten sich die Zuaven zurückzuziehen auf der Seite nach Inkerman zu, wo sie gegen die Batterien meistens gedeckt waren. Sie behaupten, alle ihre Verwundeten mitgenommen zu haben.

Dieses kleine Gefecht war von den Zuaven und einem General Monet mit großer Tapferkeit und von den Russen mit großer Meisterschaft, verbunden <153> mit ihrer üblichen Zähigkeit, ausgeführt worden. Sie setzten sich aus den beiden Regimentern von Selenginsk und Wolhynien zusammen, deren Stärke nach mehreren Kampagnen nicht mehr als 500 Mann pro Bataillon oder insgesamt 4.000 Mann betragen haben kann. General Chruschtschow kommandierte sie.

Ihre Veranstaltungen waren so trefflich, daß die Franzosen erklären, der ganze Angriffsplan habe ihnen bekannt sein müssen. Die Attacke auf die Seesoldaten war ganz und fast augenblicklich erfolgreich, während ihr Rückzug aus der unvollendeten Redoute zur Wirkung hatte, daß die unglücklichen und nicht unterstützten Zuaven einem überwältigenden Feuer ausgesetzt waren, das schweigen mußte, solange der Kampf innerhalb der Redoute währte.

General Canrobert fand, daß diese Niederlage auf seine Truppen eine sehr große Wirkung hatte. Ihre Ungeduld, die sich bei verschiedenen Gelegenheiten bemerkbar gemacht hatte, brach jetzt mit voller Gewalt hervor. Die Soldaten forderten die Erstürmung der Stadt. Das Wort Verrat, die ewige Entschuldigung für eine von den Franzosen erlittene Niederlage, wurde laut ausgesprochen, und ohne sichtlichen Grund wurde General Forey sogar namentlich als derjenige bezeichnet, der dem Feind die geheimen Beschlüsse des französischen Kriegsrates verraten habe. Canrobert war so verwirrt, daß er in einem Zuge einen Tagesbefehl schrieb, in dem er die ganze Affäre als einen glänzenden, wenn auch relativen Erfolg hinstellte, und eine Note an Lord Raglan, in der er einen sofortigen Sturm vorschlug, den Lord Raglan natürlich ablehnte.

Die Russen haben ihrerseits ihre neue Redoute behauptet und waren seitdem mit ihrer Vollendung beschäftigt. Diese Position ist von großer Wichtigkeit. Sie sichert die Kommunikation mit Inkerman und die Ankunft von Zufuhren von dieser Seite. Sie bedroht die ganze Rechte der Belagerungswerke der Alliierten, indem sie sie in die Flanke nimmt und neue Approchen erforderlich macht, um sie zu paralysieren. Doch vor allem zeigt sie die Fähigkeit der Russen, nicht nur ihren Grund und Boden zu behaupten, sondern sogar darüber hinaus vorzustoßen. In der zweiten Hälfte des Februar schoben sie aus ihrer neuen Redoute Laufgräben von Konterapprochen gegen die alliierten Werke vor. Die Berichte geben jedoch nicht die genaue Richtung dieser Werke an. Auf jeden Fall beweist die Anwesenheit der beiden Linienregimenter in Sewastopol, daß die Garnison, die bisher nur aus Seesoldaten und Matrosen bestanden hat, bedeutend verstärkt worden und für jede Eventualität stark genug ist.

Es wird jetzt berichtet, daß um den 10. oder 11 März die Alliierten in der Lage sein würden, das Feuer ihrer Batterien gegen die russischen Verteidi- <154> gungsstellungen eröffnen zu können. Doch wie kann man erwarten, daß bei den Hilfsquellen der Russen und den Schwierigkeiten der Alliierten die erste Bedingung erfüllt wird, nämlich zu erreichen, daß das Feuer der Belagerer dem der Belagerten überlegen sein wird, und so überlegen, daß sie die russischen Batterien zum Schweigen bringen, bevor die Engländer und Franzosen ihren Munitionsvorrat erschöpft haben? Aber wir wollen sogar annehmen, daß dieses Resultat erzielt wird. Nehmen wir sogar an, daß die Russen in diesem entscheidenden Moment versäumen würden, die Positionen von Inkerman und Balaklawa zu attackieren. Nehmen wir an, daß die erste russische Linie gestürmt und sogar erobert wird. Was dann? Vor den stürmenden Kolonnen werden sich neue Verteidigungsstellungen, neue Batterien, starke, in kleine Zitadellen verwandelte Gebäude erheben, zu deren Vernichtung neue Batterien erforderlich sind. Ein Hagel von Traubenladungen und Gewehrfeuer wird sie zurücktreiben, und alles, was sie tun können, ist, die erste russische Linie zu halten.

Dann folgt die Belagerung der zweiten und dann der dritten Linie - wobei die zahlreichen kleineren Hindernisse nicht erwähnt sind, welche die russischen Pioniere, wie wir sie jetzt kennengelernt haben, nicht verfehlt haben werden, im Innern des ihnen anvertrauten Raumes zu errichten. Und während dieser Zeit werden Nässe und Hitze und Hitze und Nässe, die einander abwechseln, auf einem Boden, der mit den animalischen Verwesungsstoffen von Tausenden von Menschen und Pferden durchtränkt ist, unbekannte und unerhörte Krankheiten hervorrufen. Gewiß wird die Seuche ebenso innerhalb wie außerhalb der Stadt herrschen, aber wer weiß, welche Partei als erste vor ihr kapitulieren wird?

Der Frühling wird schreckliche Dinge für diese kleine Halbinsel von fünf zu zehn Meilen mit sich bringen, wo drei der größten Nationen Europas einen zähen Kampf ausfechten; und Louis Bonaparte wird reichlichen Grund haben, sich zu gratulieren, wenn seine große Expedition beginnt, reiche Früchte zu bringen.