Seitenzahlen verweisen auf: Karl Marx - Friedrich Engels - Werke, Band 11, S. 169-172
Dietz Verlag, Berlin/DDR 1961

Friedrich Engels

Der Verlauf des Krieges

Geschrieben um den 30. März 1855.
Aus dem Englischen.


["New-York Daily Tribune" Nr. 4366 vom 17. April 1855, Leitartikel]

<169> Während die Diplomaten in Wien zusammengekommen sind, um über das Schicksal Sewastopols zu verhandeln, und die Alliierten unter den bestmöglichen Bedingungen versuchen, Frieden zu schließen, gehen die Russen auf der Krim überall wieder zur Offensive über, wobei sie sich die Fehler ihrer Gegner sowie ihre eigene zentrale Position im Lande zunutze machen. Wenn man sich der Prahlereien erinnert, mit denen die Alliierten ihre Invasion begonnen haben, so erscheint die Lage der Dinge recht merkwürdig und wirkt wie eine ungeheure Satire auf menschlichen Dünkel und Torheit. Aber trotz dieser seiner komischen Seite ist das Drama im Grunde zutiefst tragisch; wir laden deshalb unsere Leser wiederum ein zu einer ernsthaften Betrachtung der Tatsachen, wie sie sich aus unseren letzten Nachrichten ergeben, die wir Sonntag morgen mit der "America" erhalten haben.

Zu Eupatoria sitzt Omer Pascha nun faktisch fest auf der Landseite. Ihre Überlegenheit an Kavallerie erlaubt den Russen, ihre Piketts und Vedetten nahe an die Stadt zu legen, die Umgegend mit Patrouillen zu durchstreifen, die die Zufuhren abschneiden und im Fall eines ernstlichen Ausfalls auf ihre Infanterie zurückfallen. So, wie wir vermuteten <Siehe vorl. Band, S. 121-123>, tun sie alles, eine überlegene türkische Streitkraft mit vielleicht nicht mehr als einem Viertel oder einem Drittel ihrer Anzahl in Schach zu halten. Omer Pascha harrt auf die Ankunft von Kavallerieverstärkungen und war in der Zwischenzeit im französisch-englischen Lager, seine Alliierten zu unterrichten, daß er für den Augenblick nichts tun könne und daß eine Verstärkung von einigen 10.000 französischen Soldaten sehr wünschenswert sei. Zweifelsohne, aber nicht minder wünschenswert für Canrobert selbst, der bereits entdeckt haben muß, daß er zur selben Zeit zuviel und auch zuwenig Truppen zur Verfügung hat - zuviel für die bloße Fortführung der Belagerung als solche und für die Ver- <170> teidigung der Tschornaja; aber nicht genug, um von der Tschornaja hervorzubrechen, die Russen ins Innere zu treiben und das Nordfort einzuschließen. Die Detachierung von 10.000 Mann nach Eupatoria würde die Türken nicht befähigen, mit Erfolg ins Feld zu rücken; zumal ihre Abwesenheit die französische Armee gerade dann schwächen würde, wenn sie zusammen mit den im Frühjahr eintreffenden Verstärkungen ins Feld rücken sollte.

Mit der Belagerung sieht es zur Zeit recht trostlos aus. Die Nachtattacke der Zuaven am 24. Februar war in ihren Resultaten sogar noch verheerender, als wir vor einer Woche berichteten. <Siehe vorl. Band, S. 152/153> Aus Canroberts eigener Depesche geht hervor, daß er selbst nicht verstand, was er vorhatte, als er diese Attacke befahl. Er sagt:

"Da der Zweck der Attacke nun erreicht war, zogen sich unsere Truppen zurück, weil niemand daran denken konnte, daß wir uns an einem Punkt festsetzen könnten, der so vollständig unter feindlichem Feuer lag."

Aber was für ein Zweck war denn erreicht? Was war da zu tun, wenn die Stellung nicht gehalten werden konnte? Absolut nichts. Die Zerstörung der Redoute war nicht vollendet und konnte unter dem feindlichen Feuer auch nicht vollendet worden sein, selbst wenn die Zuaven, wie der erste Bericht vorgab, für kurze Zeit das Werk gänzlich genommen hatten. Aber das war nie der Fall; der russische Bericht stellt das ganz entschieden in Abrede, und Canrobert besteht auch auf nichts dergleichen. Aber was bezweckte dann diese Attacke? Einfach folgendes: Da Canrobert sah, daß sich die Russen in einer Position etablierten, die die Belagerer in eine sehr schwierige und zugleich erniedrigende Lege brachte, schickte er ohne Überlegung, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, den möglichen Ausgang der Affäre zu prüfen, seine Truppen zum Angriff vor. Das war eine völlig sinnlose Metzelei, die ein Schandfleck auf Canroberts militärischer Reputation bleiben wird. Wenn sich überhaupt eine Entschuldigung finden läßt, so liegt sie nur in der Annahme, daß die französischen Truppen den Sturm nicht mehr erwarten konnten und der General ihnen deshalb einen leichten Vorgeschmack eines solchen Sturms geben wollte Aber diese Entschuldigung diskreditiert Canrobert ebenso wie der Angriff selbst.

Bei der Affäre am Malachow bewiesen die Russen ihre Superiorität zu Lande unmittelbar vor ihren Defensivwerken. Das auf dem Hügelkamm gelegene und von den Zuaven vergeblich angegriffene Werk wird von ihnen nach dem Regiment, das es verteidigt, die Selenginsk-Redoute genannt. Sie machten sich sofort daran, ihren Vorteil auszubauen und die so gewonnene <171> Siegesgewißheit zu nutzen. Selenginsk wurde erweitert und verstärkt, Kanonen wurden hinaufgebracht, obwohl sie durch schwerstes Feuer der Belagerer hindurch mußten, und Konterapprochen wurden von dort aus angelegt, wahrscheinlich, um vor der Redoute ein oder zwei kleinere Werke zu errichten. Ebenso ist auf einem anderen Platze, in der Front der Kornilow-Bastion, eine Reihe von neuen Redouten aufgeworfen worden, 300 Yards weiter als die alten russischen Befestigungswerke. Auf Grund früherer britischer Berichte scheint eine solche Maßnahme recht erstaunlich, denn es war uns immer gesagt worden, die Alliierten hätten ihre eigenen Laufgräben in einer geringeren Entfernung von den russischen Linien aufgeworfen. Aber wie wir vor ungefähr einem Monat aus bester kriegswissenschaftlicher Quelle feststellen konnten, waren die französischen Linien noch einige 400 Yards von den russischen Vorwerken entfernt und die britischen sogar doppelt so weit. Jetzt endlich, im Brief vom 16. März, gesteht der "Times"-Korrespondent, daß selbst an letzteren Daten die britischen Trancheen noch 600 bis 800 Yards entfernt waren, und daß in der Tat die Batterien, die im Begriff stehen, auf den Feind zu spielen, dieselben sind, die ihr Feuer am vergangenen 17. Oktober eröffneten! Das also ist der große Fortschritt in der Belagerung - das das Voranstoßen der Laufgräben, das zwei Dritteilen der britischen Armee das Leben gekostet hat!

Unter diesen Umständen war Platz genug vorhanden in dem Zwischenraum zwischen den beiden Batterielinien zur Errichtung der neuen russischen Werke; aber dennoch bleibt es ein Unternehmen sondergleichen, das kühnste und geschickteste, das je eine belagerte Garnison unternommen hat. Es läuft auf nichts anderes hinaus als auf das Eröffnen einer neuen Parallele gegen die Alliierten auf einer Distanz von 300 - 400 Yards von ihren Werken; auf eine Konterapproche auf der größten Stufenleiter gegen die Belagerer, die dadurch mit einemmal in die Defensive geworfen werden, während die erste wesentliche Bedingung einer Belagerung die ist, daß die Belagerer die Belagerten in die Defensive werfen. So hat sich das Blatt völlig gewendet, und die Russen sind stark im Aufstieg.

Was für Fehler und phantastische Experimente die russischen Ingenieure unter Schilder bei Silistria auch immer gemacht haben mögen, hier bei Sewastopol haben die Alliierten es augenscheinlich mit einem ganz anderen Menschenschlag zu tun. Die genaue und rasche Orientierung, die unverzügliche, kühne und fehlerfreie Ausführung, die die russischen Ingenieure beim Aufwerfen ihrer Linien um Sewastopol an den Tag gelegt haben, die unermüdliche Aufmerksamkeit, mit der jeder schwache Punkt geschützt wurde, sobald der Feind ihn entdeckt hatte, die ausgezeichnete Anordnung der Feuer- <172> linie, die es möglich macht, auf jeden gegebenen Punkt des Frontgeländes ein dem Belagerer überlegeneres Feuer zu konzentrieren - die Vorbereitung einer zweiten, dritten und vierten Fortifikationslinie hinter der ersten -, mit einem Wort, die ganze Führung dieser Verteidigung war klassisch. Das letzte offensive Vorrücken am Malachow-Hügel und vor der Kornilow-Bastion findet in der Geschickte der Belagerungen nicht ihresgleichen und stempelt ihre Urheber zu erstklassigen Größen auf ihrem Gebiet. Es ist nur recht und billig, hinzuzufügen, daß Oberst Todtleben, Chef des Ingenieurwesens in Sewastopol, eine verhältnismäßig unbekannte Gestalt im russischen Kriegsdienst ist. Aber wir dürfen die Verteidigung Sewastopols nicht für ein typisches Beispiel der russischen Ingenieurkunst halten. Der Durchschnitt von Silistria und Sewastopol kommt den wahren Verhältnissen näher.

Sowohl auf der Krim als auch in England und Frankreich beginnt man nun - wenn auch nur allmählich - zu entdecken, daß keine Chance vorhanden ist, Sewastopol im Sturm zu nehmen. In dieser peinlichen Verlegenheit hat sich die Londoner "Times" an eine "hohe kriegswissenschaftliche Autorität! gewandt und erfahren, daß das einzig Vernünftige sei, die Offensive zu ergreifen entweder durch Überschreiten der Tschornaja und Bewirken einer Vereinigung mit den Türken unter Omer Pascha, sei es vor oder nach einer Schlacht gegen die russische Observationsarmee, oder durch eine Diversion nach Kaffa, die die Russen zwingen würde, sich zu zersplittern. Da die alliierte Armee nun 110.000-120.000 Mann zählt, so müssen solche Bewegungen in ihrer Gewalt sein. Nun weiß niemand besser als Canrobert und Raglan, daß ein Überschreiten der Tschornaja und eine Vereinigung mit Omer Paschas Armee sehr wünschenswert wäre; aber wie wir schon immer wieder bewiesen haben <Siehe vorl. Band, S. 76/77>, gibt es unglücklicherweise auf den Höhen vor Sewastopol die 110.000 bis 120.000 Mann der Alliierten gar nicht und hat es auch nie gegeben. Am 1. März ging ihre Zahl nickt über 90.000 dienstfähige Mann hinaus. Was aber eine Expedition nach Kaffa betrifft, so könnten die Russen nichts Besseres wünschen als die alliierten Truppen nach drei verschiedenen Punkten 60-150 Meilen von dem Zentralpunkt entfernt zerstreut zu sehen, während sie an keinem der zwei Punkte, die sie nun innehaben, hinreichend stark sind, um die Aufgabe vor ihnen zu lösen! Offensichtlich hat die "hohe kriegswissenschaftliche Autorität" der "Times" einen Bären aufgebunden, wenn sie ihr ernstlich den Rat gibt, sich für eine Neuauflage der Eupatoria-Expedition einzusetzen!